Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
Komische Oper Berlin, 27. Januar 2019
Giacomo Puccini, La Bohème
von Friederike Walch
Es kracht, zwei junge Männer klettern unter der Bühne hervor. Mit dem lauten Schlag der Dachbodenluke auf die Bretter, die in den nächsten zwei Stunden Leben und Tod bedeuten, wird das Publikum in die Mansarde der jungen Bohémiens ins Paris des 19. Jahrhunderts katapultiert.
Die Neuinszenierung von Giacomo Puccinis „La Bohème“ durch Barrie Kosky treibt die Akteure auf der Bühne der Komischen Oper Berlin zu schauspielerischen Höchstleistungen an. Die vier Künstlerfreunde im ersten Bild sprühen nur so vor Lebendigkeit, Leichtsinn und schöpferischen Ambitionen. Trotz der Mittellosigkeit der Protagonisten nimmt Kosky deren artistisches Streben spürbar ernst. Der Maler Marcello, in dieser Inszenierung ein Pionier der Daguerreotypie – einem frühen Fotografie-Verfahren, das in den 1830er-Jahren entwickelt wurde – arrangiert hingebungsvoll seine Bilder. In authentischer Dramatik verkokelt Dichter Rodolfo sein neuestes Manuskript. Als kurz darauf der Musiker Schaunard mit Proviant eintrifft, paffen die Sänger die mitgebrachten Zigarren in den Publikumssaal, in dem es inzwischen riecht, als könnte die Wurst, die auf der Bühne verspeist wird, mit dem Dunst im Raum ein zweites Mal geräuchert werden.
Eine weitere Kostprobe brillanter Interpretationskunst geben Kosky und die Darsteller in der darauffolgenden Szene. Das Libretto sieht hier eigentlich vor, dass der Hausherr Benoit die jungen Künstler aufsucht, um die überfällige Miete einzutreiben. Die Inszenierung schafft es, die Rolle des Vermieters gänzlich zu streichen ohne jedoch nur einen einzigen Satz entfallen zu lassen. Dies wird realisiert, indem die vier Bohémiens auf der Bühne den Besuch Benoits karikiert nachspielen, abwechselnd den Text und die Rolle übernehmen und sich somit gemeinsam über den Hauseigentümer lustig machen.
Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus ist nicht das einer typischen Ausstattungsoper, die das Libretto von „La Bohème“ durchaus provoziert. Stattdessen wird auch hier das Konzept der Daguerreotypie aufgegriffen. Große Fotoplatten rahmen die Bühne ein, die blassen Bilder die bei dieser frühen Abbildungstechnik entstehen, scheinen wie eine Vorahnung auf das Ende der Oper. Die Lebendigkeit der Marktplatzszene des zweiten Bildes wird unter anderem mit Hilfe der offenen Drehbühne evoziert. Einen maßgeblichen Anteil trägt jedoch auch die eifrig engagierte Schar des Kinderchors der Komischen Oper Berlin. Als kleine schwarze Clowns verkleidet hüpft die ganze Truppe am Bühnenrand auf und ab, dass es die reinste Freude ist, ihnen dabei zuzusehen.
Auch der erste Auftritt von Musetta, gespielt von Vera-Lotte Böcker, könnte energetischer nicht sein. Mit herausragender Ausdruckskraft erschlägt sie ihren herrlich unbeholfen wirkenden Verehrer Alcindoro beinahe mit ihrem Absatzschuh. Allgemein ist zu bemerken, dass keine der Partien stimmlich erwähnenswert abfällt und alle Hauptcharaktere sowohl solistisch als auch gemeinsam brillieren. Dazu zählt auch die Tenorstimme von Jonathan Tetelman, der als Rodolfo in seiner Vorstellungsarie Che gelida manina das hohe C zwar etwas zu agitiert in den Publikumsraum brüllt, ansonsten jedoch mit bemerkenswert rundem und vollem Klang überzeugt.
Sehr einfühlsam wird das gesamte Ensemble vom Orchester der Komischen Oper unter der Leitung von Jordan de Souza getragen. Die Präsenz und der Farbenreichtum, den die Interpreten hierbei in Puccinis Musik legen, lässt nichts zu wünschen übrig.
Glanzpartie des Abends ist Mimì – nicht nur wegen der sängerischen und schauspielerischen Darbietung von Ensemblemitglied Nadja Mchantaf, sondern auch aufgrund der Interpretation der Rolle. Als junge Frau im 19. Jahrhundert den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen sowie unverheiratet und getrennt von den Eltern zu leben, galt als höchst unkonventionell. Barrie Kosky inszeniert Mimì als die unabhängige lebensdurstige Frau, die sie ist. Nicht als zartes kränkliches Mauerblümchen, sondern voller jugendlicher Energie stürzt sie sich in die neue Beziehung mit Rodolfo. Pure Ignoranz gegenüber den ersten Anzeichen der Krankheit statt mitleidsheischendem Dahinsiechen. Tatendrang statt andauernder Unpässlichkeit. Kräftiger pinkfarbener Blumenkranz statt biederem rosa Häubchen.
Nadja Mchantaf debütiert mit dieser Produktion als Mimì und es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass ihr die Rolle, in der Art wie sie von Kosky inszeniert wird, wie auf den Leib geschneidert ist. Sie meistert die Komplexität der Figur einer jungen Frau, die das Leben voll auskosten will und deren gesundheitlicher Zustand sich gleichzeitig sichtlich verschlechtert, in Perfektion. Dies wird besonders im dritten Bild deutlich. Die hochemotionalen Szenen zeigen eine Mimì, die ihr inzwischen doch sehr deutliches Schicksal nicht wahrhaben will und dagegen ankämpft. Statt einer Abschlussszene, in der sich das Liebespaar nach dem gemeinsamen Beschluss, noch bis zum Frühjahr zusammen zu bleiben, rührselig in den Armen liegt, reagiert Mimì hier rebellisch auf die Situation und zeigt offensichtliche Wut und Verzweiflung.
Gerade weil die Inszenierung einen Fokus auf Leichtigkeit und Leichtsinn der jungen Protagonisten – und eben auch der Mimì – legt, ist die Konfrontation mit dem Tod im letzten Bild besonders hart, besonders grausam, besonders unerbittlich. Immer wieder zieht sich Mimì von ihrem Totenbett auf die Beine, ein finales verzweifeltes Aufbäumen gegen das Schicksal. Eine letzte Fotografie portraitiert die Sterbende in sitzender Haltung mit starrem Blick, Rodolfos Hände auf ihren Schultern ruhend. Mimì stirbt als Kämpferin, Rodolfo realisiert ihren Tod erst nach allen anderen. Seine letzte Frage Quel guardarmi cosi?– Was schaut ihr mich so an?– richtet sich nicht mehr an seine Freunde, die die Szene bereits verlassen haben, sondern direkt an die Zuschauer. Vernehmbares Schniefen im Publikum. Dann tosender Applaus für alle Beteiligten.
Friederike Walch, 28. Januar 2019, für
klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung, Jordan de Souza
Inszenierung, Barrie Kosky
Bühnenbild, Rufus Didwiszus
Bühnenbildmitarbeit, Jan Freese
Kostüme, Victoria Behr
Dramaturgie, Simon Berger
Licht, Alessandro Carletti
Chöre, David Cavelius
Kinderchor, Dagmar Fiebach
Mimì, Nadja Mchantaf
Musetta, Vera-Lotte Böcker
Rodolfo, Jonathan Tetelman
Marcello, Günter Papendell
Schaunard, Dániel Foki
Colline, Philipp Meierhöfer
Alcindoro, Christoph Späth
Parpignol, Emil Ławecki
Ein Händler, Matthias Spenke
Sergeant der Zollwache, Jan-Frank Süße
Ein Zöllner, Tim Dietrich
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin
Komparserie der Komischen Oper Berlin
Kinderchor der Komischen Oper Berlin
Orchester der Komischen Oper Berlin