Foto: Thomas Aurin (c)
Deutsche Oper Berlin, 5. Juli 2018
Gioacchino Rossini, Il viaggio a Reims
von Gabriel Pech
Kann man heutzutage noch eine Krönungsoper für einen französischen Monarchen des frühen 19. Jahrhunderts aufführen? Ist das noch relevant? Findet das Publikum einen Zugang dazu? Jan Bosses Inszenierung von Gioacchino Rossinis „Il viaggio a Reims“ (1825) zeigt: Auf jeden Fall und überhaupt gar nicht.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Eine illustre europäische Gesellschaft trifft sich in der Gaststätte „Zur Goldenen Lilie“. Es soll nur ein Zwischenstopp sein, bevor es weitergeht zur Krönung des neuen Königs. Die aristokratische Gesellschaft vertreibt sich die Stunden mit Flirts, Streitigkeiten und Versöhnungen. Dann der dramatische Höhepunkt: Man findet keine Pferde zur Weiterreise. Glück im Unglück: Die Nachricht trifft ein, dass es eine große Feier in Paris geben wird, zu der alle eingeladen sind. Man freut sich, und jeder darf eine Arie seines Landes vortragen. Am Schluss gibt es eine große Lobeshymne auf den König Karl X., der bei der Uraufführung natürlich anwesend war, weil seine eigenen Krönungsfeierlichkeiten begangen wurden.
Die Oper ist also einem bestimmten Zweck untergeordnet und macht daraus auch keinen Hehl. Rossini selbst hat dafür Sorge getragen, dass sie nach drei weiteren Vorstellungen abgesetzt wurde und hat große Teile daraus in seinen nachfolgenden Werken weiterverwendet. Wiederentdeckt wurde das Werk erst, als es 1984 unter Claudio Abbado nach so langer Zeit wieder aufgeführt und hochkarätig besetzt auf Schallplatte gepresst wurde.
Die Musik ist es wohl auch, die den Erfolg des Werkes ausmacht: Ein virtuoses Belcanto-Feuerwerk, in dem Rossinis Stil und Errungenschaften kulminieren. Allein zehn Hauptrollen sind zu besetzen, das Ensemble besteht insgesamt aus 18 Personen, dazu kommen noch zwei Solisten an Harfe und Querflöte. Das Charlottenburger Opernhaus stemmt diese Besetzung zu großen Teilen mit dem hauseigenen Ensemble, das eine gute Arbeit macht. Insgesamt ist der Ensembleklang aber leider auf Grund der großen, vibratoreichen Stimmen streckenweise sehr diffus. Gesanglich übertreffen die Frauen stimmlich ihre männlichen Gegenspieler.
Der Star des Abends ist Elena Tsallagova, die die Improvisationskünstlerin Corinna spielt. Mit sanfter Zärtlichkeit singt sie engelsgleich die einfühlsamen Arien, die an prominenten Stellen erklingen. Ihr Sopran schwebt federleicht dahin, und man wünscht sich, dass sie nicht aufhören würde zu singen.
Eine besondere Nennung verdient auch die Soloflöte, gespielt von Anna Garzuly-Wahlgren. Sie leistet für eine Instrumentalistin enorm viel, wenn sie gemeinsam mit den Figuren auf der Bühne an der Handlung teilnimmt. Diese Aktivität spiegelt sich auch in ihrem sehr lebhaften Flötenklang, der nun endgültig gleichberechtigt zum Gesang ist.
Im Duett mit ihr singt der Engländer Lord Sidney, verkörpert von Mikheil Kiria. Dieser lässt als Bassbariton keine Wünsche offen. Seine Stimme ist von kerniger Qualität, gleichzeitig gleitet er mühelos durch die schweren Koloraturen. Das Leid dieses Charakters ist im Publikum genau so fühlbar. Interessant ist der Wechsel in seiner Stimmfarbe, wenn er zum Ende hin die englische Nationalhymne zum Besten gibt. Der Patriotismus färbt seinen Klang merklich ein, und manchmal dröhnt es ein wenig, was wahrscheinlich aber beabsichtigt ist.
Ebenso kernig und charakterstark ist Hulkar Sabirova als Madame Cortese. Sie singt die erste Arie des Stücks und zieht das Publikum direkt in ihren Bann. Ihr Koloratursopran hat ein gutes Fundament, ihre Stimme trägt und ist stark im Ausdruck. Als Hausherrin dominiert sie mit einer natürlichen Autorität.
Die Französin Contessa di Folleville ist eher nicht nervenstark und erleidet einen Zusammenbruch, weil ihre Garderobe verschollen ist. Siobhan Stagg spielt sie mit einer herrlichen Überspitztheit und ist ganz dekadente Diva. Ihr leichter Sopran enthält dabei manchmal zu viel Vibrato, insgesamt überzeugt sie aber durch einen tragenden Klang.
Der deutsche Barone di Trombonok, solide gespielt von Philipp Jekal, sagt schließlich die Worte, die wohl den Anlass zur Inszenierung gegeben haben: „Man kann die Welt einen Käfig voller Narren nennen.“
Jan Bosse inszeniert die europäische Zusammenkunft im Irrenhaus. Die Figuren liegen in Krankenbetten und werden allabendlich geweckt, um sich wieder auf die „Reise nach Reims“ zu begeben – eine Reise, die nie zu ihrem Ziel kommt. Die Klischees, mit denen Rossini arbeitet, überspitzt Bosse bis zum Äußersten, das heißt Badehosen mit Länderflaggen. Dabei verwandelt er das Stück in eine absurde Komödie und spickt es mit viel szenischem Witz. Dieser kommt teilweise etwas platt daher, zündet aber dennoch zuverlässig beim Charlottenburger Publikum. Die Bühne ist von Stéphane Laimé mit riesigen Spiegelwänden eingerichtet worden, die für ein eindrucksvolles Bild sorgen und überraschend wandelbar sind. Jan Bosse setzt darin seine eigene Sicht der europäischen Verhältnisse auf den Stoff und zeigt eine Gesellschaft, die vor ihrem Abgrund steht. Wenn am Schluss die Hymne auf den französischen König ertönt, identifizieren wir uns mit dem Krankenpfleger, der währenddessen verzweifelt nach einem Ausweg aus diesem Irrenhaus sucht und sich schließlich die Ohren zuhält.
Kommentar aus dem Publikum: „Herrlich belanglos!“
Gabriel Pech, 7. Juli 2018, für
klassik-begeistert.de
Giacomo Sagripanti, Musikalische Leitung
Jan Bosse,Inszenierung
Stéphane Laimé,Bühne
Kathrin Plath, Kostüme
Kevin Sock, Licht
Meika Dresenkamp, Video
Claudia Gotta, Spielleitung
Lars Gebhardt, Dramaturgie
Elena Tsallagova, Corinna
Annika Schlicht, Marchesa melibea
Siobhan Stagg, Contessa di Folleville
Hulkar Sabirova, Madame Cortese
Gideon Poppe, Cavaliere Belfiore
David Portillo,Il Conte di Libenskof
Mikheil Kiria,Lord Sidney
Davide Luciano, Don Profondo
Philipp Jekal, Barone di Trombonok
Dong-Hwan Lee, Don Alvaro
Sam Roberts-Smith, Don Prudenzio
Juan de Dios Mateos, Zefirino
Alexandra Ionis, Maddalena
Meechot Marrero, Modestina
Davia Bouley, Delia
Byung Gil Kim, Antonio
Anna Garzuly-Wahlgren, Soloflöte
Virginie Gout-Zschäbitz, Harfe