Teatro La Fenice, 4. Januar 2018
Giuseppe Verdi, La Traviata
Orchester und Chor des Teatro la Venice , Venedig
Dirigent: Enrico Calesso
Regie: Robert Carsen
Bühne und Kostüme: Patrick Kinmonth
Chorleiter: Claudio Marino Moretti
Violetta Valéry: Mihaela Marcu
Alfredo Germont: Leonardo Cortellazzi
Giorgio Germont: Armando Gabba
Il barone Douphol: William Corrò
Flora Bervoix: Elisabetta Martorana
Gastone: Iorio Zennaro
Dottor Grenvil: Luciano Leoni
von Charles E. Ritterband
Die „Traviata“ und das Teatro La Fenice, das großartige Werk und das weltberühmte „goldene“ venezianische Opernhaus, sind gleichsam schicksalshaft ineinander verschlungen, sind doppelt miteinander verknüpft. Als die Oper am 6. März 1853 im Teatro La Fenice ihre Uraufführung erfuhr, war dies ein Fiasko – schwer zu fassen, zumal die „Traviata“ Verdis meistgespielte Oper weltweit und in vielen Ländern die meistgespielte Oper überhaupt ist.
Verdi war sich bewusst, dass er mit dem Stoff – eine an Tuberkulose sterbende Kurtisane inmitten einer Gesellschaft, die ihre Doppelmoral und Genusssucht hemmungslos zelebriert – einen Theaterskandal von unkontrollierbaren Dimensionen auslösen würde und verlegte die Handlung sicherheitshalber ins Frankreich Ludwigs XIV. Dennoch: die Aufführung fiel durch, sie wurde ein Desaster, für das auch die Sänger mitverantwortlich waren: Tenor und Bariton waren offenbar unzulänglich und Violetta sang zwar gut, wurde aber wegen ihres immensen Leibesumfangs als „Zervelatwurst“ zum Gespött der Kritiker. Obwohl Verdi, der die fantastische Musik zur „Traviata“ in unglaublichen 45 Tagen geschaffen hatte, nunmehr sein Werk für den zweiten Versuch (im ebenfalls in Venedig befindlichen Teatro San Benedetto) nur geringfügig umarbeitete, wurde die Oper zum großen Erfolg. Dieser hält bis heute ungemindert an.
Die „Traviata“ wurde Teil der letzten Phase in der Geschichte des La Fenice: Acht Jahre nach der Brandkatastrophe am 29. Januar 1996, jener unfassbaren Brandstiftung durch zwei Cousins, säumige Elektriker, wurde das großartige Haus völlig originalgetreu, aber mit modernster Bühnentechnik und umfassenden Brandschutz-Vorrichtungen wieder aufgebaut. Und zur Wiedereröffnung im November 2004 wurde wieder „La Traviata“ gespielt – mit Lorin Maazel am Pult und in einer Neuinszenierung des kanadischen Opernregisseurs Robert Carsen.
In den Genuss dieser hervorragenden, vom Paris des Louis Quatorze oder, wie in den meisten Traviata-Versionen, der Belle Epoque, in die Jetzt-Zeit katapultierten Inszenierung Carsens kamen wir auch jetzt – und waren hingerissen. Begeistert von der Intelligenz und Konsequenz des Regiekonzepts (einschließlich des erstklassigen Bühnenbilds und dem extravaganten Society-Chic der Kostüme von Patrick Kinmonth), welche der so häufig gespielten und bisweilen in die Banalität des Überdrusses abgleitende „Traviata“ eine ungeheure, neue Vitalität einflössen.
Die szenischen Leitmotive von Carsen und Kinmonth sind die grünen Dollarscheine, die wie ein Gewitterregen ständig auf die Bühne hinunterregnen, bündelweise von den Herren der Kurtisane Violetta dargeboten werden wie rituelle Opfergaben, aus Schubladen herausquellen, wie Herbstblätter im dichten Wald des zweiten Aktes von den Bäumen herabschweben – und im vierten Akt, der von tödlicher Krankheit und absoluter Armut geprägt ist, völlig und auffällig fehlen. Grün ist die dominierende Farbe – Grün symbolisiert die trügerische Hoffnung des Paares auf absolutes Glück und ewige Liebe, grün ist die vergebliche Hoffnung Violettas auf Gesundung und Überleben.
Deshalb zieht sich der Wald als Motiv durch alle vier Akte: Als teures Gobelin im exclusiven Boudoir der Violetta des ersten Aktes, wo sie ihre Liebhaber empfängt, ihre üppige Champagner-Party abhält und Alfredo die berühmte weiße Kamelie überreicht, die nach einem Tag verwelkt (wie ihr eigenes, junges Leben). Der zweite Akt spielt nicht (wie sonst) im Landhaus des Paares, sondern mitten im Wald – etwas absurd, wenn Alfredos Vater ausruft „quel lusso!“, aber weit und breit keine Behausung, geschweige denn Luxus zu sehen ist. Die Verwandlung von der Waldszene ins Cabaret, wo Violettas oberflächliche Society-Kumpanin Flora ihr großes Fest abhält, geschieht genial wie eine Filmüberblendung auf offener Bühne – und hier bildet der Wald die Kulisse des Podiums, auf dem der berühmte Spanische Tanz zur lasziv-suggestiven Porno-Tanzszene entartet, befrachtet mit sexuellen Symbolen und mehr als eindeutigen Anspielungen. Diese Szene im exclusiven Club ist phänomenal in ihrer Stimmigkeit – rauchgeschwängerte Atmosphäre, fette Geldsäcke, die sich die Tänzerinnen an den Tisch kommen lassen, grün (wieder grün!) leuchtende Serviertabletts, der Champagner fließt in Strömen und am Spieltisch herrscht explosive Hochspannung.
Und in der vierten Szene, im Krankenzimmer, das eine Baustelle ist, in der Malerarbeiten stattfinden, ist jener hoffnungsvolle, grün-üppige Wald nur noch eine zerstörte, heruntergerissene Tapete; am Schluss kommen die Maler, die ungerührt vom Sterben Violettas und der Selbstzerfleischung der Männer ihre Arbeit wieder aufnehmen.
Eine faszinierende Inszenierung des 63 Jahre alten Meisterregisseurs Carsen, der ebenso vital wirkt wie sein Werk. In einigem Gegensatz zu Regie und Ausstattung allerdings die musikalischen Leistungen: Das Orchester erlaubte sich schon in den allerersten Takten, die gleichsam aus dem Jenseits zu uns herüberzukommen schienen, einige Ungenauigkeiten, die sich später wiederholen sollten.
Für die Hauptfigur Violetta ist diese Oper ein musikalischer und schauspielerischer Marathon, der Höchstleistungen erfordert (denen unter anderem die legendäre Callas gewachsen war): Sie steht in vier Akten ununterbrochen auf der Bühne und hat dabei schwierigste Koloraturpartien zu leisten – sie soll ungehemmte Lebensfreude, ja Lebensgier verkörpern, sie soll in der Liebe ihres Lebens aufgehen, sie soll am Ende geradezu zur Heiligen werden, die verzeiht und der künftigen Gattin Alfredos „einen Gruß aus dem Jenseits“ sendet.
Die Rumänin Mihaela Marcu enttäuschte im ersten Akt gesanglich – sie forcierte ihre Stimme mit einer Lautstärke, als wolle sie ständig das Orchester übertönen, sodass der Klang teils gepresst wirkte und teils schrill wurde. Störend waren die Tremolos. Ganz anders das berührende Duett mit Alfredos Vater, Giorgio Germont, im zweiten Akt und besonders das Wiedersehen mit Alfredo selbst im vierten Akt. Hier, in den beiden Duetten mit Alfredo, vermochte die Sopranistin zu bewegender stimmlicher Subtilität zu gelangen. Darstellerisch überzeugte sie hingegen vollkommen: Selbstbewusst bis dominant im ersten Akt, lebenslustig, und manipulativ, menschlich und fern jeglicher Frivolität im zweiten Akt, verzweifelt im dritten und fast himmlisch entrückt im vierten Akt.
Der in Mantua geborene junge Tenor Leonardo Cortellazzi überzeugte und berührte als Alfredo Germont von der ersten Note an mit einer schönen, kontrollierten, nie forcierten Stimme und überzeugendem Auftreten als junger, verliebter und etwas naiver Mann aus reicher Familie. In dieser Inszenierung, trendig schwarz gekleidet, ist er Hobby-Fotograf – intelligent, zumal Violetta im letzten Akt das offenbar von Alfredo angefertigte große Schwarzweißfoto aus besseren Tagen umklammert hält, als wolle sie die Vergangenheit festhalten, und ihm schließlich das Versprechen abnimmt, dieses Foto seiner künftigen Frau als Violettas segensbringenden „Gruß aus dem Jenseits“ zu Füßen zu legen. Alfredos Wut im dritten Akt ist ebenso überzeugend wie seine kompromisslos, gesellschaftliche Schranken ignorierende Hingabe an diese Liebe.
Enttäuschend, wenngleich als Figur durchaus stimmig, Alfredos Vater Giorgio Germont: der aus Parma stammende Armando Gabba. Man hat schon bessere Baritone als Germont gehört – wesentlich bessere. Sein gesanglich wenig erbaulicher Auftritt als spießig-konservativ gekleideter Bürger, in krassem Kontrast zum modischen Sohn und zur schicken Jeunesse Dorée, in deren Kreis sich Alfredo bewegt, passt völlig zu seiner Rolle, in der er ja seinem Sohn und vor allem Violetta die letzten Wochen und Monate scheinbar ungetrübten Liebesglücks raubt – und damit wohl auch, wegen der durch ihn beförderten Hoffnungslosigkeit, ihren Tod beschleunigt. Ein Spießer durch und durch, der gesellschaftliches Prestige vor menschliche Werte stellt – eine im Gegensatz zu seinem Sohn durch und durch unsympathische Figur, und das soll schließlich auch so sein.
Der Journalist Dr. Charles E. Ritterband schreibt exklusiv für klassik-begeistert.at. Er war für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Korrespondent in Jerusalem, London, Washington D.C. und Buenos Aires. Der gebürtige Schweizer lebt seit 2001 in Wien und war dort 12 Jahre lang Korrespondent für Österreich und Ungarn. Ritterband geht mit seinem Pudel Nando für die TV-Sendung „Des Pudels Kern“ auf dem Kultursender ORF III den Wiener Eigenheiten auf den Grund.