Foto: Michael Pöhn (c)
Wiener Staatsoper, 1. Juni 2018
Giuseppe Verdi, La traviata
von Charles E. Ritterband
Vor allem war es Placido Domingo – nun seit längerem im Bariton-Fach –, der am Freitag die mit Weltstars bekanntlich verwöhnten Wiener Opern-Aficionados die Abendkasse der Staatsoper belagern ließen. Wer das Glück hatte, noch ein Ticket zu erringen (oder den Vorausblick, sich rechtzeitig eines zu besorgen), kam in den Genuss einer außergewöhnlichen „Traviata“.
Über das etwas weit hergeholte Regie-Konzept von Jean-Francois Sivadier könnte man sich streiten – es sei denn, man konzediere, dass dieses auf einer nahezu leeren Bühne eigentlich gar nicht existierte. Wenn aber nun der verliebte Alfredo Germont von seiner „Kameliendame“ Violetta Valéry nicht, wie ja im Titel des Romans von Alexandre Dumas dem Jüngeren für alle Zeiten unzweideutig festgelegt, eine Kamelie überreicht erhält, bei deren Verwelken er die Angebetete wiedersehen darf (am nächsten Tag), sondern eine bereits ziemlich verwelkte Nelke, dann kann man eigentlich nur noch den Kopf schütteln – oder dem Regie-Assistenten eine bessere Blumenhandlung empfehlen.
Ich hatte Plätze mit schlechter Sicht, und das war besser so. Umso genauer und genussvoller hörte man hin. Ich saß in der Parterreloge Nr. 1, direkt über dem präzise und leidenschaftlich intonierenden Staatsopernorchester unter der hervorragenden Stabführung on Marco Armiliato. Der Genueser vermochte seine von meinem Platz aus mit großem Vergnügen zu beobachtende Begeisterung, seine Musikalität und seinen Humor voll und ganz auf das Orchester zu übertragen, das an diesem Abend außergewöhnliche Spielfreude an den Tag legte.
Der inzwischen 77 Jahre alte Placido Domingo verkörperte als Giorgio Germont den Vater Alfredos in seiner konventionellen Sittenstrenge, seiner Unnachgiebigkeit und der geheuchelten Empathie mit der kranken Violetta aufs glaubhafteste – und war stimmlich voll auf der Höhe, hie und da war gar ein fast zufälliger, angedeuteter Schluchzer in einer seiner Arien vernehmen, wie sie Domingo wohl in früheren Jahren als Tenor, als Alfredo, wirkungsvoll und berührend eingebaut hatte. Domingo ist nicht nur überaus erfolgreich und mit gewohnter Professionalität und Präzision ins Bariton-Fach hinübergeglitten, er ist gleichzeitig um eine Generation aufgerückt: Vom liebeskranken Sohn zum intransigenten, unsensiblen Vater.
Als Alfredo glänzte der junge slowakische Tenor Pavol Breslik mit einer melodiösen Stimme, mit Hingabe aber ohne Pathos. Er war der ideale Partner – in seiner Leidenschaft des Liebenden und in seiner Wut des scheinbar Hintergangenen – für die Violetta der Irina Lungu. Die bildschöne, vor 37 Jahren in der Republik Moldau geborene Sopronastin war für mich der eigentliche Star des Abends – trotz Domingo. Ihre Darstellung war berührend wie kaum eine Traviata, die ich je zuvor auf einer der großen Bühnen der Welt genießen durfte. Diese Rolle ist für sie nach eigener Aussage nach 150 Vorstellungen eine der wichtigsten, „eine Art Alter Ego“, wie sie es formuliert.
Man spürt sofort, dass sie Gelegenheit hatte, die Figur zu entwickeln und vertiefen. Ihre stimmliche Gestaltung ist wunderschön – von jugendlich-verliebter Begeisterung bis hin zu den tiefen Tönen der Verzweiflung dieser Todgeweihten, die das unglaubliche Opfer darbrachte, ihren Geliebten zu verlassen und noch dazu (scheinbar) als Verräterin dazustehen.
Charles E. Ritterband, 2. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de
klassik-begeistert.de-Autor Jürgen Pathy war auch in der Aufführung. Er schreibt: „Plácido Domingo hat mich bei ‚La Traviata’ am meisten beeindruckt, weil alleine seine Präsenz so viel Funkeln und Freude in die Augen des Wiener Publikums zauberte, wie ich es selten zuvor gesehen habe. Ein Publikum, welches seine ersten Töne mit spontanem Szenenapplaus honorierte, nach der Aufführung geduldig am Bühneneingang Autogramme und Erinnerungsfotos ergatterte und den mittlerweile 77-jährigen Weltstar wiederum mit lautem Beifall in dessen Privattaxi verabschiedete. Wien respektiert, liebt und verehrt diesen Mann. Wen juckt es da noch, ob die ins Baritonfach gewechselte lebende Legende einige Male auf der Bühne nach Luft rang – seine Stimmführung ist noch immer äußerst beachtlich und die Spitzentöne im Duett mit Violetta saßen perfekt.“
„Wir sind aus dem gleichen Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kurzes Leben ist eingebettet in einen langen Schlaf.“ Es sei denn … es handelt sich um Künstler. 77-jährig, nach Luft ringend … Diese – hervorragende – Beschreibung hat mich berührt.
Ich warte auf eine Sopranistin, die in Kontra-Alt wechselt, und so liebevoll beurteilt wird. Personelle Vorschläge?
Gruß aus Hamburg
Teresa Grocholska