Foto: (c) Marcus Lieberenz
Deutsche Oper Berlin, 20. März 2022 PREMIERE
Giuseppe Verdi
Les Vêpres Siciliennes
Oper in fünf Akten
Libretto von Eugène Scribe und Charles Duveyrier
Musikalische Leitung Enrique Mazzola
Inszenierung Olivier Py
Hélène Hulkar Sabirova
Henri Piero Pretti
Guy de Montfort Thomas Lehmann
Jean de Procida Roberto Tagliavini
Orchester, Chor und Opernballett der Deutschen Oper Berlin
von Sandra Grohmann
Die Deutsche Oper Berlin sammelt in der Pause und online für die Ukraine (https://deutscheoperberlin.de/de_DE/hilfe-fuer-die-ukraine), und die Deutsche Oper Berlin bringt Verdis Les vêpres siciliennes auf die Bühne – ein Stück über den Aufstand der Sizilianer gegen die französische Besatzung. Oder, wie in dieser Inszenierung, der Algerier gegen die Franzosen. Oder, auch eine Assoziation angesichts vieler blau-weiß-roter (wenn auch nicht blau-rot-weißer) Bühnenfahnen, der Ukrainer gegen die Russen. Dargeboten in der komplexesten aller Kunstformen und in nahezu durchgehend makellosem Gesang wirft das die Frage auf: Darf man das jetzt „spielen“? Darf man das anhören? Muss man vielleicht?
Ein Freund schickte mir jüngst einen Cartoon, der sinngemäß besagte: Es gibt kein moralisches Gebot, die Welt durch den Verzicht auf Freude noch schlechter zu machen. So gesehen, haben wir uns dem fehlenden moralischen Gebot gestellt und reichlich Freude geerntet: Nach einem dezent verschlafenen Orchestervorspiel – von der fetzigen Ouvertüre blieb kaum eine Ahnung übrig – entwickelte sich über die folgenden drei Stunden unter den sicht- wie hörbar fein gestaltenden Händen des Ersten Gastdirigenten Enrique Mazzola ein musikalisches Fest.Verdis Musik stellt vom ersten bis zum letzten Ton die Frage, warum wir dieses Stück eigentlich nicht häufiger in die Ohren bekommen. Allenfalls die Ouvertüre, die vielleicht noch von Omas Schallplatte mit der Best-of-Sammlung bekannt ist, wird einen gewissen Bekanntheitsgrad für sich in Anspruch nehmen können. Und obwohl vom ganzen Rest fast nichts sonderlich bekannt ist, lädt die ganze Oper zum Mitsummen ein, so melodienreich bietet sie sich dar.
Natürlich stimmt es: Die ganz großen Schlager wie in Rigoletto oder Traviata – beide kurz vor den „Vêpres“ entstanden – fehlen hier. Aber Verdi hat den Musikern seine typischen, das Herz entzückenden Kantilenen in die Kehlen und auf die Cellosaiten geschrieben; er komponierte Herzschlagrhythmen und Atemstillstand: Ganz Hollywood muss bei ihm in die Schule gegangen sein. Ein wundervolles a capella-Quartett, die vertraute Zwiesprache zwischen Gesangs- und Orchestersolisten, Generalpausen, kaskadenartig fallende chromatische Läufe, große Chorszenen und nicht zuletzt die Spannung zwischen Italianità und Grand Opéra sorgen dafür, dass die Aufmerksamkeit der Lauschenden bis zuletzt gefesselt bleibt.
Dieses italienisch-französische Gebilde spiegelt als musikalisches Oxymoron das Thema der Oper. Was für ein Kunstgriff. Verdi, der immer wieder für den französischen Markt schrieb, bediente hier nicht nur die große Form (einschließlich Balletteinlage), er colorierte auch die einzelnen Nummern sehr nuanciert. Wir hören deshalb zum Beispiel eine sizilianische Herzogin, die von den französischen Besatzern gezwungen wird, ein italienisches Lied zu singen, das sie unter Anspielung auf die Marsellaise zu nutzen weiß, um ihre Landsleute aufzustacheln. Warum wohl ein solches Werk für die Pariser Weltausstellung 1855 bestellt wurde?
Die Inszenierung nimmt das selbstreferentielle Vexierspiel der Komposition auf und bringt die Bühne auf die Bühne. Gelegentlich überlastet sie das Stück damit – manche Anspielung möchte Anspielung bleiben und nicht überdeutlich verbildlicht werden. Insbesondere der Chor der Deutschen Oper Berlin, wie immer vorzüglich intonierend, perfekt abgestimmt, wie ein eigener Organismus singend – dieser Chor wirkte zugleich seltsam steif und unbeteiligt, wenn er sich bewegungslos am Stacheldraht aufbaute, der die Straße sperrte, oder in den Opernlogen herumstand wie bestellt und nicht abgeholt. Zeit, die Augen zu schließen und die Musik zu genießen.
Dazu bot der Abend unendlich viel Gelegenheit. Der Sopran von Hulkar Sabirova wurde weicher, voller und zugleich brillanter, je mehr die Handlung sich verwickelte, und meisterte die Koloraturen perfekt. Ihr hörbarer Akzent ließ sich mit etwas gutem Willen als zur Rolle passend werten – die Herzogin sang in fremder Sprache. Auch die Duette mit (dem bemerkenswert textverständlich singenden) Piero Pretti, von denen das erste noch etwas einstudiert gewirkt hatte, gestalteten sich später organisch und scheinbar unangestrengt: Die beiden warmen Stimmen gaben einander Raum und luden harmonisch zum Hörgenuss ein.
Der absolute Hammer des Abends aber – ich kann es nicht anders sagen – waren die beiden tiefen Männerstimmen. Roberto Tagliavini, der nicht ohne Grund auf die großen Bühnen der Welt eingeladen wird, zog mit seinem wahrlich sonoren Bass wahrscheinlich alle in den Bann, die keine Petersilie in den Ohren hatten. Mir schien, schon der erste Ton ließ das vollbesetzte Opernhaus die Luft anhalten. Was für eine Stimme! Durchdringend, packend, tragend. Der Erotik dieses Tons, der für den Volksverführer der Sizilianer äußerst passend gewählt war, dürften sich auch die Massen auf unserer Seite des Orchestergrabens willig hingegeben haben.
Ganz anders Ensemblemitglied Thomas Lehman als Montfort. Der Bösewicht des Abends fällt in der durchgehend wunderbaren Sängerriege zunächst nicht besonders auf – bis er seine weiche Seite zeigen darf. Des Machtgewandes im Wortsinn entkleidet, besingt er seine Sehnsucht, Vater sein zu dürfen für den Sohn, den er in einer Vergewaltigung gezeugt hat (let‘s face it: „Raub“ steht für nichts anderes). Dieser widerlich verdrehte Charakter, ein skrupelloser und zynischer Mörder, besingt in seiner großen Szene seine Schuld gegenüber der Mutter seines Sohnes und zugleich seinen Schmerz. Natürlich ist er auch in diesem Moment Egomane: Schlimmer als seine eigenen Untaten sei, meint er, was ihm angetan wurde. Und doch schenkt Lehman diesem Mann eine Seele. Zart, fragend, innig rührt seine Stimme ebenso an wie sie kalt, ätzend, stählern Abscheu erregt. Es ist der verzweifeltste, schmerzlichste, kunstvollste, berührendste Moment des Abends.
Der Begleitung dieser Arie durch eine Tänzerin, die die Mutter darstellte, hätte es wahrlich nicht bedurft. Allerdings war die Idee der Inszenierung durchaus sinnfällig, das Ballett als wesentlichen Bestandteil der Grand Opéra mit eigenen, das ganze Stück begleitenden Rollen zu bedenken. Auch dass die Toten noch unter den Lebenden weilen, leuchtete ein. Es zeigt aber, scheint mir, ein gewisses Misstrauen der Regie gegen die Gestaltungskunst eines Sängers, wenn sie die Arie des Montfort, die so beklemmend wie berührend ist, unentwegt tänzerisch kommentieren lässt. Überdies hebt sie die Versteinerung insbesondere des Chores dadurch auf, dass sie andere Elemente unentwegt in Bewegung hält (neben den Tänzern etwa sich hebende und senkende Kronleuchter oder die geradezu Karussell fahrende Drehbühne). Die zarten Buhrufe für die Regie inmitten all der Bravos für die Sänger waren dennoch der alles in allem sorgfältigen und stimmigen Regieleistung nicht angemessen.
Bleibt die Frage des Abends: Darf man in die Oper gehen in diesen Zeiten des Krieges, der sich auch noch auf der Opernbühne wiederfindet und dort ausgesungen wird? Gegenfrage: Beschreibt Vissi d’arte nicht den Kern der conditio humana?
Teilen wir Freude, wo immer wir es können – ohne vom Leid wegzuschauen. Hatte ich eigentlich erwähnt, dass die Deutsche Oper Berlin für die Ukraine sammelt…
Sandra Grohmann, 22. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Giuseppe Verdi, Les Vêpres Siciliennes, Deutsche Oper Berlin, Premiere am 20. März 2022
Giuseppe Verdi, “Rigoletto”, Royal Opera House Covent Garden, 12. März 2022