„Man möchte fast katholisch werden!“ Verdis Requiem glänzt in Lübeck

Giuseppe Verdi, Messa da Requiem  Musik- und Kongresshalle Lübeck, 31. August 2025

Verdi Requiem, Foto Andreas Ströbl 

Schlusskonzert des Schleswig-Holstein Musik Festivals

„Jetzt hat nur noch der Weihrauch gefehlt“, meinte eine liebe Kollegin vom NDR nach dem Verebben des brandenden, langanhaltenden Beifalls am 31. August 2025 in der Lübecker Musik- und Kongresshalle, wo mit Verdis „Messa da Requiem“ das diesjährige Schleswig-Holstein Musik Festival seinen mehr als würdigen Abschluss fand. Und nein, es war keine Totenmesse, sondern ein Fest leidenschaftlichen, sinnlichen Glaubens, in der Gewissheit auf das Leuchten des ewigen Lichtes.

Giuseppe Verdi, Messa da Requiem

Vittoria Yeo, Sopran
Alice Coote, Mezzosopran
Davide Giusti, Tenor
Dmitry Belosselskiy, Bass

Schweizer Jugendchor
Schleswig-Holstein Festivalchor

Nicolas Fink, Einstudierung

NDR Radiophilharmonie
Stanislav Kochanovsky, Dirigent

Musik- und Kongresshalle Lübeck, 31. August 2025

von Dr. Andreas Ströbl

Nach dem Requiem kommt die Auferstehung!

Ministerpräsident Daniel Günther ist für sein Kultur-Engagement und seine unkomplizierte Art bekannt, und so verabschiedete er das SHMF 2025 mit der Botschaft desjenigen Werks, das acht Festwochen mit 202 Konzerten im ganzen Bundesland beschloss: Die Auferstehungshoffnung durchbricht die Finsternis des Todes und der Trauer. Das gilt auch für das kommende Festival – nicht traurig sein, im nächsten Sommer geht es wieder los! Stockholm wird die neue Musikhauptstadt; man darf gespannt auf neue Entdeckungen sein.

Festival-Intendant Christian Kuhnt hielt seine charmante Ansprache, wie sein Vorredner, bewusst kurz, denn das Konzert wurde pünktlich vom NDR übertragen. Diese Sendung lohnte sich, denn die Umsetzung des Werks war schlichtweg grandios.

Von sehr leisen Gebeten zum Fortissimo des Zorns

Die faszinierende Spannbreite und Vielfältigkeit in der musikalischen Farbigkeit, die das Verdi-Requiem ausmacht, loten alle Mitwirkenden in größtmöglicher Feinfühligkeit und Hingabe aus. Den Schleswig-Holstein Festivalchor, verstärkt durch den Schweizer Jugendchor, nennt der Intendant seine „große Liebe“; man versteht gerade an diesem Abend diese Liebeserklärung.

Mit andächtiger Sanftheit intonieren die Sängerinnen und Sänger die Bitte um ewige Ruhe, mit der dieses Oratorium beginnt, um dann in wuchtiger, ja gnadenloser Stärke den göttlichen Zorn spürbar zu machen. Diesen Zorn, der am Jüngsten Tag, dem dies irae, die hoffnungslosen Sünder in den Höllenrachen schleudern wird, und, wie es bei Luther heißt, „Himmel und Erde…mit großem Krachen“ zerschmettern wird, intoniert mit kraftvoll unbarmherziger Stärke das vielköpfige Orchester.

In der Tat unterschieden sich die endzeitlichen Visionen des Reformators nicht von denen der Altgläubigen und folgerichtig vermittelt die phantastische NDR Radiophilharmonie Gläubigen aller Konfessionen ebenso wie Atheisten und Agnostikern im Publikum mit knallenden Paukenschlägen und harten Klang-Hieben der Streicher eine Ahnung von der Gewalt des Jüngsten Gerichts.

An mehreren Stellen auf den Rängen sind die Trompeter plaziert, schaffen damit eine unvergleichliche Raumwirkung und jagen der Zuhörerschaft Gänsehaut-Schauer über den ganzen Leib. Niemand kann entrinnen, von überall her dringt die mahnende Stimme des Weltenrichters.

Stanislav Kochanovsky leitet den gewaltigen Apparat aus Stimmen und Instrumenten mit bewundernswerter Souveränität, exakten Einsätzen und aufmerksamer Zugewandtheit. Tiefer Ernst bestimmt dieses Dirigat und eine makellose Beherrschung des Werks durch rasche Aktionen, die dann wieder von fließenden Bewegungen abgelöst werden.

Solistische Glanzleistungen

Trotz der Klangstärke von Chor und Orchester dringen die Stimmen der vier Solisten atemberaubend deutlich durch die Massivität dieser Musik. Alle vier glänzen durchweg durch eine selten so gehörte Würdigung des Messtextes; jeder Buchstabe wird liebkosend wahrgenommen, und so vermittelt dieses sehr italienische Latein die existentielle Botschaft unmittelbar und eindringlich.

Vom Habitus entspricht die Sopranistin Vittoria Yeo fast schon einer Heiligendarstellung, allerdings einer ausgesprochen sinnlichen; man könnte sie sich auch als Maria Magdalena vorstellen, die alle Höhen und Tiefen des Lebens durchlitten hat. Ihre Stimme ist voll klarer, lyrischer Schönheit und weiblicher Wärme.

Deutliche Autorität vermittelt Alice Coote, ihre klare Intonation überzeugt gerade bei den Pianissimo-Stellen, und ihr ausdrucksstarker Mezzosopran könnte auch geflüstert den letzten Winkel des Saales erreichen. Phantastisch, wie sie dem Text Lebendigkeit und Tiefe gibt!

Eher wie das Drohen eines heidnischen Totengottes grollt der massige Bass von Dmitry Belosselskiy, auch dieser Sänger besticht durch seinen Umgang mit dem Text. Füllig und von ernster Wahrhaftigkeit dringen die Worte in Ohr und Seele.

Flehend und inbrünstig hingegen entlässt der Tenor Davide Giusti die Klagen und Bitten zu Gott; sein „Ingemisco tamquam reus“, also das Bekenntnis der eigenen Schuld, wirkt absolut glaubhaft, die Reue ist aufrichtig. Ungemein sympathisch ist, wie der Sänger auch die Partien der anderen Solisten voller Leidenschaft durchlebt und den Text zuweilen mit geschlossenen Augen stumm mitspricht. Man möchte ihn fast umarmen und ihm zuflüstern, dass dies ja „nur“ Verdi und nicht das Weltgericht sei. Aber dazu ist die Wiedergabe eben zu plastisch und überzeugend; alle Mitwirkenden sind im Innersten beteiligt und gehen ganz in der gewaltigen Musik auf.

Verdi Requiem, Foto Andreas Ströbl

Verlockung zur Konversion

Manchem Lübecker Lutheraner entfährt es ganz unvermittelt nach dem Ende des Konzerts: „Man möchte fast katholisch werden!“. Als „Verdis beste Oper“ wurde das in katholisch-sakraler Tradition stehende Requiem immer wieder bezeichnet, und tatsächlich ist eine Gattungszuweisung nicht ganz einfach. Sicher, es ist schon eine Totenmesse im besten Sinne, mit dem festgelegten Ablauf und dem mittelalterlichen Text. Aber die Aufführungspraxis und -rezeption ist doch eher eine weltliche. Verdi selbst hatte seine Zweifel an Kirche und Klerus, aber das tut dem Bekenntnis zu einem sehr sinnlichen, lebenszugewandten Glauben keinen Abbruch. Diese Komposition ist Botschafterin eines mediterranen Christentums, dessen universale musikalische Sprache aber die Grenzen von Konfessionen oder Religionen überschreitet.

Jene Botschaft in all ihrem Ernst und der dem Werk innewohnenden Autorität weiß der Dirigent nach den letzten Takten durch ein noch wirkmächtigeres Werkzeug als den Klang zu vermitteln: die Stille. Sicher eine Minute lang sinken seine Arme in Zeitlupe langsam herab, das Publikum hält die Luft an, sehr lange.

Dann erst setzt der Beifall ein und feiert begeistert eine überwältigende Gesamtleistung.

Der Dirigent hält am Ende die Partitur hoch und schenkt den Applaus dem Schöpfer des Werks. Was für eine sympathische, große Geste!

Dr. Andreas Ströbl, 2. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Giuseppe Verdi, Messa da Requiem Bremer Konzerthaus Die Glocke, 13. April 2025

Giuseppe Verdi, Messa da Requiem Konzerthaus Wien, 7. Dezember 2024 

Giuseppe Verdi, Messa da Requiem Berliner Dom, 16. November 2024

Giuseppe Verdi: Messa di Requiem  Laeiszhalle, 18. November 2023

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