Die Oper „Nabucco“ ist heute wichtiger denn je

Giuseppe Verdi, Nabucco, Dramma lirico in vier Teilen  Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf, 12. Oktober 2024

Alexey Zelenkov (Nabucco), Riccardo Romeo (Abdallo), Svetlana Kasyan (Abigaille), Luke Stoker (Oberpriester des Baal), Chor der Deutschen Oper am Rhein © Sandra Then

Die kreative Neuinszenierung von Ilaria Lanzino überzeugt uns hiervon in der Düsseldorfer Oper.

Die Warnung vor Stroboskop-Effekten lässt es schon ahnen. Es droht „Regietheater“ mit duplizierte Rollen in Metaebenen, Videos, Umdeutungen, Sex and Crime – ja, alles! Das Ergebnis: Genial! Gesungen wird in allen Rollen auf exzellentem Niveau. Auch die schauspielerische Leistung der Chöre und der Kinder in den stummen Rollen ist beeindruckend. Das Düsseldorfer Symphonieorchester unter der Leitung von Katharina Müllner begleitet nicht nur die Sänger wunderbar, sondern beeindruckt auch in den Orchesterpassagen mit differenziertem und präzisem Spiel. Musik, Text und Inszenierung samt Bühnenbild passen im besten Sinne Verdis zusammen: „Va’, pensiero!“

Giuseppe Verdi
Nabucco. Dramma lirico in vier Teilen
Libretto von Temistocle Solera

Chor und Extrachor der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker
Chorleitung: Patrick Francis Chestnut
Musikalische Leitung: Katharina Müllner

Inszenierung: Ilaria Lanzino

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf, 12. Oktober 2024

von Petra und Dr. Guido Grass

„Null freie Plätze“ zeigt das Parkleitsystem und in 15 Minuten beginnt die Vorstellung! Im Laufschritt erreichen wir die Oper und sinken auf die letzten freien Plätze. Wieder ausverkauft! Nach der Vorstellung wissen wir warum.

Die ersten Töne der Posaunen beim Vorspiel lassen bereits erahnen, wie die Dirigentin Katharina Müllner die Oper musikalisch anlegt. Hier wird kein Schmacht- und Schlachtfetzen, sondern italienische Feinkost angeboten. Auch in den kräftigen Passagen, selbst im Forte-fortissimo bleibt die Musik transparent und exakt.

Alexey Zelenkov erscheint als Nabucco überraschend auf dem 1. Rang. Wahnsinn blitzt in seinen Augen auf, die bei seinem ersten Auftritt überlebensgroß auf den verspiegelten Bühnenhintergrund projiziert werden. Sein mächtiger Bassbariton lässt keinen Zweifel daran, wer der Herrscher im Reich ist. Ebenso überzeugend singt er den geistig umnachteten Vater, der sich mit letzten Kräften gegen die Intrigen seiner Erstgeborenen, Abigaille, wehrt. Warm und herzerweichend bereut er zum Schluss seine Fehler. In dieser vielschichtigen Neuinszenierung trifft ihn nicht der Zorn Gottes, sondern ein Terroranschlag, ausgeübt von einem Komplott aus Feinden und Freunden einschließlich seiner eigenen Tochter Abigaille.

Eduardo Aladrén (Ismaele), Liang Li (Zaccaria), Kimberley Boettger-Soller (Fenena), Chor der Deutschen Oper am Rhein © Sandra Then
Svetlana Kasyans Stimme schillert in vielfältigen Klangfarben

Als Abigaille beherrscht Svetlana Kasyan die Bühne. Mit gleißendem Strahl füllt ihr verzweifelter Sopran den Raum bis in die letzte Ritze. Mit tiefer Kraft droht sie allen, die ihr entgegenstehen. Wenn sie sich am Ende ihres Lebens zu Gott bekennt, rührt ihre lyrisch-weiche Stimme zu Tränen. Heftigste Tonsprünge, wilde Koloraturen, zartes Piano oder stahlhartes Forte-fortissimo: Svetlana Kasyans Stimme scheint keine Grenzen zu kennen.

Eduardo Aladrén (Ismaele), Liang Li (Zaccaria), Svetlana Kasyan (Abigaille), Anastasiia Buianevych (Junge Abigaille), Alexey Zelenkov (Nabucco), Riccardo Romeo (Abdallo), Luke Stoker (Oberpriester des Baal), Chor, Extrachor und Statisterie der Deutschen Oper am Rhein © Sandra Then

Wenn sich Abigaille an ihre Kindheit erinnert, schauspielern Kinder sie und ihre Schwester Fenena. Dieser Kniff hat überhaupt nichts gekünsteltes oder aufgesetztes. Tatsächlich wird so die Rivalität der Schwestern vor unseren Augen sichtbar und wirken dem Schwarz-Weiß-Denken entgegen. Ungerechte Behandlung und Zurückweisungen ließen Abigaille zur bitterbösen Furie werden. Während ihre umsorgte und geliebte Schwester zu einer altruistischen Persönlichkeit heranwachsen konnte.

Die Rivalität zieht sich ins Erwachsenenalter fort. Fenena hat ihr den Geliebten Ismaele ausgespannt. In dieser Rolle überzeugt Eduardo Aladrén mit sicherer  Höhen und klarer Stimme, die auch die dramatischen Ausbrüche lebendig werden lässt.

Er hat sich in Fenena hoffnungslos verliebt und ist bereit, für sie seine Karriere aufzugeben und sein Vaterland zu verraten. Kein Wunder: Anna Harvey alias Fenena muss man einfach gern haben. Einst verwöhntes, süßes Schwesterchen im rosa Prinzessinnen-Tutu lebt sie nun im grauen Alltag unter den Unterdrückten und hilft, wo sie kann. Mühelos setzt sich ihre Stimme über Chor und Orchester hinweg. Wenn sie in Todesfurcht sich Gott anvertraut, schwebt ihre Stimme dem Himmel entgegen („Oh, dischiuso è il firmamento!
“).

Young-Doo Park als Zaccaria ist uns noch aus Köln wohl bekannt. Gerade in dieser Inszenierung ist die Rolle des Königs der Hebräer ambivalent angelegt. Mit sattem Bass markiert er den großen Herrscher, der mit Charisma sein Volk zum Widerstand motiviert. Während im Original seine Durchhalte- und Kampfparolen zum siegreichen Schluss führen, entpuppen sich diese heute als hohle Phrasen. Dass das Konzept der Regisseurin so unzweifelhaft aufgeht, ist auch Young-Doo Park zu verdanken. Wie er dies mit seiner Stimme gestaltet, besteht kein Zweifel mehr, dass Verdi es so geschrieben und gemeint hat.

Die Chöre meistern ihre Hauptrolle

Der Chor und Extrachor der Düsseldorfer Oper (Chorleitung: Patrick Francis Chestnut) werden ihrer Aufgabe mehr als gerecht. Ebenso kraftvoll wie dramatisch, fast ohrenbetäubend holt uns der Ruf des Chores „Gli arredi festivi giù cadano infranti!“ nach der Ouvertüre ins hier und jetzt. Später, beim Gassenhauer des „Gefangenenchores“  vermeidet er das oftmals gehörte martialische Niederbrüllen. Der Chor gestaltet emotional intensiv die Wehmut des schmerzlich süßen Andenkens. Dabei wird dem Chor in jeder Minute eine enorme schauspielerische Leistung abverlangt. Während die Herrscher auf der oberen Ebene der Bühne singen, zeigt der Chor unten in bewegenden Bildern das elende Leben im Krieg.

Chor, Extrachor und Statisterie der Deutschen Oper am Rhein © Sandra Then
Ilaria Lanzino überwindet die Polarisierung

Mit dem dritten Akt kommt die entscheidende Neuinterpretation zum Tragen. Das alte, sehr einfache Gut-Böse-Muster der Handlung wird aufgebrochen. Die Chöre und damit die Völker vereinigen sich zum Widerstand gegen ihre kriegsgeilen Herrscher. Als Narrenkönige enden sie allesamt, einschließlich Abigaille, auf dem Scheiterhaufen. Kein Gott wird sie retten.

Regie, Bühnenbild, Kostüme und Musik gehen in dieser Inszenierung Hand in Hand. Ilaria Lanzino hat ihre Regiearbeit vom großen Bogen bis ins kleinste Detail durchdacht, nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch. Die bewegliche Bühnenrampe bietet auf der einen Seite den Sängerinnen und Sängern eine ideale Plattform für exzellenten Klang und schafft darunter Platz für dramatische Szenen. Offensichtlich macht sich bemerkbar, dass die noch junge Professorin auch selbst Gesang studiert hat.

Das gelungene Zusammenspiel aller führt zum Erfolg dieser spannenden und modernen Inszenierung. Sie hat uns enorm begeistert.

Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 14.10.2024
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:
Nabucco: Alexey Zelenkov
Ismaele: Eduardo Aladrén
Zaccaria: Young-Doo Park
Abigaille: Svetlana Kasyan
Fenena: Anna Harvey
Der Oberpriester des Baal: Luke Stoker
Abdallo: Florian Simson
Anna: Mara Guseynova

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