Zwischen Flüchtlingskrise und Me-too-Debatte – ein politisch aufgeladener „Otello“ in der Staatsoper Hamburg

Giuseppe Verdi, Otello,  Staatsoper Hamburg

Foto: Hans Jörg Michel (c)
Hamburgische Staatsoper
, 20. Juni 2018
Giuseppe Verdi, Otello

von Leonie Bünsch

Wie war noch gleich die Geschichte von „Otello“? Eigentlich sollte die Handlung von Shakespeares Drama zumindest in Grundzügen bekannt sein. Der „Mohr von Venedig“, wie ihn Shakespeare nannte, der durch ein intrigantes Spiel und seine eigene Eifersucht dem Wahnsinn verfällt und erst seiner Geliebten Desdemona und schließlich sich selbst das Leben nimmt. Doch in den ersten Minuten von Calixto Bieitos Inszenierung scheint all das vergessen zu sein. Der erste Akt von Verdis Oper ist dermaßen politisch aufgeladen, dass man für einen kurzen Moment vergisst, für welche Vorstellung man in die Hamburgische Staatsoper gekommen ist.

Da ist ein Boot mit Gefangenen, „Help me“ ruft eine von ihnen stumm und mit erhobenen, in Fesseln gelegten Händen. Da ist Stacheldrahtzaun, durch den die Gefangenen verzweifelt versuchen zu gelangen. Auf der anderen Seite des Zauns steht Otello mit seinen Gefolgsleuten, der den Sieg über die Türken besingt und ruft: „Jubel! Der Stolz der Muslime liegt begraben im Meer.“ Ein Satz, der in der heutigen Zeit eine hitzige Debatte auslösen dürfte… Bei der Siegesfeier werden gefangene Frauen durch die betrunkenen Edelmänner wie selbstverständlich belästigt.

Flüchtlingskrise, Islamfeindlichkeit, Me-too-Debatte – all das in den ersten zehn Minuten von Verdis „Otello“. Doch ging es darin nicht um etwas ganz anderes?

Ja, nach der Siegesfeier beginnt sogleich das intrigante Spiel des Jago, der sich zum einen durch Otello in seiner Ehre verletzt fühlt, weil er durch diesen nicht befördert wurde, zum anderen von Neid, Missgunst und Hass erfüllt ist, was – wie er selbst sagt – in seiner Natur liegt. So trifft er Otellos Nerv, indem er ihn glauben macht, dessen Frau Desdemona würde ihn mit Cassio betrügen.

Die Höhepunkte der Inszenierung sind vorbei. Es folgt die schlichte Wiedergabe von Otellos Zerrissenheit, Desdemonas Verzweiflung, Jagos Freude am Bösen.

Franco Vassallo, der den Jago verkörpert, hat sichtlich Spaß an seiner Rolle und würde in einem anderen Kontext sicherlich einen hervorragenden Mephisto geben. Dass Verdi im Entstehungsprozess seiner Oper überlegt hatte, ob er Jago zur Hauptperson machen solle, merkt man deutlich. Das liegt an diesem Abend aber auch an den Darstellern.

Vassallo ist sowohl stimmlich als auch darstellerisch sehr viel einnehmender als sein Gegenpart Carlo Ventre. Stimmlich legt der Otello-Darsteller alles an Emotionen hinein, was die Rolle zu bieten hat. Insbesondere im letzten Akt ist seine Verzweiflung deutlich spür- und hörbar. Doch diese emotionale Aufgeladenheit überträgt sich leider nicht auf seine Darstellung. So hat man bei seinem Anblick hin und wieder das Gefühl, in einer konzertanten Aufführung zu sein. Zu starr und konzentriert wirkt Ventre, weshalb der Jago ihm schlicht die Show stiehlt (deutlich zu hören am Schlussapplaus).

Die Darstellerin der Desdemona, Aleksandra Kurzak, hat den tosenden Beifall am Ende der Vorstellung redlich verdient. Konnte man sie in den ersten beiden Akten noch schwer einschätzen, beweist sie ihr Talent im vierten Akt umso mehr. Das traurige Lied von der Weide, mit dem sie sich, bereits in Todesangst, von ihrer Freundin Emilia verabschiedet, raubt einem fast den Atem. So schlicht und doch so emotional, blitzsauber gesungen und auch im pianissimo mit so unglaublichem Ausdruck, dass es scheint, als würden alle Zuhörer im Saal die Luft anhalten, um keinen Ton zu verpassen.

Insgesamt können sämtliche Sängerinnen und Sänger an diesem Abend stimmlich überzeugen. Und auch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Paolo Carignani lässt nichts zu wünschen übrig.

Und so geht die Vorstellung nach einem sehr eindrücklichen Beginn recht schlicht zu Ende. Interpretatorisch bot der erste Teil des ersten Aktes mehr Diskussionsstoff als der gesamte Rest der Vorstellung. Die sozialpolitischen Verweise werden in der Inszenierung weder fortgeführt noch abrundend erklärt. Bei genauerem Nachdenken jedoch lassen sich durchaus auch in Shakespeares Drama und Arrigo Boitos Libretto weiterhin Verweise auf das aktuelle Weltgeschehen finden.

Otello ist ein Außenseiter. Nicht umsonst hat Shakespeare ihn zum Mohren erklärt. Er ist ein Mann, der den „amerikanischen Traum“ lebt, sich vom Sklaven zum Feldherrn hochgearbeitet und nebenbei die Schönheit der Stadt geheiratet hat. Doch wer gönnt ihm diesen Erfolg? Außenseiter verlieren in dieser Welt, erst recht, wenn sie Erfolg haben. Der Neid macht sie kaputt, und so wird Otello das Opfer einer planmäßigen Destruktion eines Menschen. Gleichzeitig ist es sein Wesen, sein Charakter, die es ihm unmöglich machen, zwischen Wahrheit und „fake news“ zu unterscheiden. So glaubt er die Lüge, die ihn am Ende das Leben kostet.

Wenn man die Geschichte von Otello aus diesem Blickwinkel betrachtet, ergeben die übrigen Verweise auf unsere heutige Lage schon wieder Sinn. Gleichzeitig brauchte es wohl eine Inszenierung von 2017, um Shakespeares Drama in diesem Kontext interpretieren zu dürfen.

Leonie Bünsch, 21. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de

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