Eine andächtige Verehrung für den größten Künstler unserer Zeit
Grigory Sokolov, Klavier
Joseph Haydn: Sonate Nr. 32 g-Moll, Sonate N.r 47 –Moll, Sonate Nr. 49 cis-Moll
Ludwig van Beethoven: Sonate Nr. 27 e-Moll op. 90, Sonate Nr. 32 c-Moll op. 110
Festspielhaus Baden-Baden, 5. November 2017
von David Fuchs
Bevor ein einziger Ton erklungen ist, glaubt man ihn zu spüren, diesen undefinierbaren, nicht zu leugnenden Abstand, der Grigory Sokolov von jedem anderen Pianisten trennt. Man spürt ihn, wenn mit einigen Minuten Verspätung das Licht auf ein zwielichtiges Halbdunkel gedimmt wird. Wenn dann, wiederum nach einigen Minuten unruhiger Erwartung, der Meister etwas schwerfällig, aber eilig, seinem Instrument entgegenstrebt. Wenn er – den Applaus, ja die Existenz des Publikums kaum anerkennend – eine Verbeugung zwar andeutet, aber nicht zu Ende bringt, sondern unmittelbar in das Hinsetzen an den Flügel überführt. Und sofort zum Spielen ansetzt, ohne einen Moment des Sammelns, fast noch in den Applaus hinein.
Was hier inszeniert wird, ist das Fehlen jeglicher Inszenierung. All die Rituale zwischen Publikum und Künstler werden gerade noch angedeutet, wie um die Form zu wahren, aber dabei so hastig und beinahe lustlos ausgeführt, als wolle der Pianist mit jeder Geste sagen: Genug jetzt der Äußerlichkeiten! „Hier gilt’s der Kunst!“ Und das Publikum glaubt es Sokolov. Hinter seinem eigenwilligen Auftreten steht eine tiefe Verpflichtung der Musik gegenüber, die sofort den ganzen Saal zu ergreifen scheint. Dem tiefen, schnörkellosen Ernst dieses Künstlers schlägt bereitwillig eine andächtige Verehrung entgegen, wie man sie in keinem anderen Konzert erlebt.
Konzertabende Sokolovs sind längst zu Gottesdiensten geworden, zu denen die Musikliebhaber in Scharen pilgern. Kaum erwähnt werden muss, dass auch im Festspielhaus Baden-Baden, mit 2500 Plätzen immerhin dem größten Konzerthaus Deutschlands, an diesem Abend kaum ein freier Platz zu sehen war. Dabei spielte es auch keine Rolle, dass Joseph Haydns Klaviersonaten traditionell eher keine Publikumslieblinge sind: Sokolov braucht kein spektakuläres Programm, um ein spektakuläres Konzert zu geben.
Sein Klavierspiel fasziniert von den ersten Momenten an. Man kann nur staunen über die schiere Menge an Farben und Schichten, die Sokolov allein in den ersten Takten von Haydns Klaviersonate Nr.32 in g-Moll hörbar macht. Zwischen piano und pianissimo scheint es bei ihm noch unzählige bisher ungeahnte Abstufungen zu geben, die er uns mit spielerischer Leichtigkeit aufzeigt. Und wenn er dann einmal wirklich ins äußerste Pianissimo geht, dann ist das so unerhört, ja geradezu bestürzend leise, dass man eigentlich nie wieder einem anderen Pianisten zuhören möchte. Hier finden Haydns Klaviersonaten, die im Vergleich mit ihren Schwesterwerken bei Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven gerne etwas stiefmütterlich behandelt werden, erst zu ihrem vollen Recht: Es sind nicht nur ungeheuer geistreiche, sondern auch tief empfindungsvolle Werke.
Ihre Geltung als jeweils eigenständige Sonaten ging an diesem Abend freilich ein wenig verloren durch Sokolovs merkwürdige Angewohnheit, jeden Satz und jede Sonate völlig “attacca” aufeinander folgen zu lassen. Dadurch, dass die einzelnen Sonaten nicht wie gewohnt durch Applaus oder wenigstens eine kleine Pause getrennt werden, bleibt zwar einerseits die Konzentration ungebrochen – eine weitere jener Eigenwilligkeiten, die Sokolovs Konzerte so einzigartig machen. Andererseits verschwimmen so die einzelnen Sonaten zu einer Abfolge von Einzelsätzen – ein Effekt der an diesem Abend noch dadurch verstärkt wurde, dass es sich durchweg um Sonaten in Molltonarten handelte. Die Spannungsbögen innerhalb der einzelnen Sonaten zu verstehen, wurde damit sehr erschwert. Doch ist dies ein Preis, den man sehr gerne zahlt, wenn man dafür so ein durchsichtiges, zartes und differenziertes Klavierspiel zu hören bekommt.
Der Höhepunkt kam erst nach der Pause mit den beiden Klaviersonaten von Beethoven. Die Sonate op.90 in e-Moll inszenierte Sokolov elegisch und gesanglich, fast nach Schubert konnte das bisweilen klingen. In beiden Sätzen wählte der 67-Jährige ruhige Tempi, um seinen einzigartigen Klang zu entfalten. Es ist ein Klang, der sofort süchtig macht – ein Klang, der keinen Vergleich mit anderen Pianisten vor und neben Sokolov duldet.
Die Technik des Mannes aus St. Petersburg ist in ihrer Erhabenheit völlig unprätentiös, alle Läufe und Triller hat man schon schneller und brillanter gehört. Doch bei diesem einzigartig poetischen Klavierspiel sehnt sich der Zuhörer nie nach mehr äußerlicher Virtuosität – er sehnt sich lediglich danach, dass dieser bestechend schöne Gesang, wie er im zweiten Satz der e-Moll-Sonate zu hören war, niemals enden möge.
Unterbrochen wurde dieser Gesang, wiederum ohne jede Atempause, von dem grimmigen Beginn der c-Moll-Sonate op.111, der letzten Klaviersonate Beethovens. Kompromisslos und unerbittlich schritt Sokolov durch den ersten Satz. Die vielen polyphonen Anläufe in diesem zerrissenen und kantigen Satz gelangen ihm so klar und transparent, dass das Ringen des ertaubten Komponisten um musikalische Einheit, Form und Prozess mit geradezu brutaler Deutlichkeit hervortrat.
Der zweite und letzte Satz dann, die berühmte Arietta, wurde zum bewegendsten Konzerterlebnis, das man sich nur denken kann. Die leuchtende Reinheit von Sokolovs Spiel lässt sich nur als ein Wunder bezeichnen. Wie das schlichte Thema aus seiner anfänglichen Erstarrung erwacht und nach und nach in Bewegung und Fluss kommt, wie es in ausufernde Ekstate gerät und schwindelerregende Abgründe überquert – man kann das alles nicht mit Worten beschreiben, jedenfalls nicht besser, als es Thomas Mann in jenem unsterblichen Kapitel des „Doktor Faustus” unternommen hat. Als sich dieses Thema dann mit einer Geste zutiefst versöhnlicher Verklärung verabschiedete, von Sokolov in den zartesten Farben ausgeleuchtet – wer da nicht zu Tränen gerührt war, der kann nicht richtig zugehört haben.
Glücklicherweise war diese bewegende Abschiedsmusik noch nicht der Abschied Sokolovs vom Publikum. Wie man es von ihm gewohnt ist, gab er nicht weniger als sechs Zugaben. Während andere Pianisten die Konvention der Zugabe als eine kleine Geste des Dankes gegenüber dem Publikum erfüllen, hat Sokolov die Zugaben in den Rang eines eigenen und eigenständigen Programmpunktes erhoben, der gerne dreißig Minuten in Anspruch nehmen darf.
Und in vieler Hinsicht waren die Zugaben wie ein Gegenpol zum bisherigen Programm: Während das offizielle Programm eine strenge Einheit klassischer Sonaten wahrte, führten die Zugaben vom Barock bis zur Hochromantik. Ein kleiner Mikrokosmos der Klaviermusik, ein kleiner Rundweg durch das Repertoire dieses Ausnahmepianisten. Mit größter Selbstverständlichkeit setzte er sich immer wieder ans Klavier, und mit ebenso großer Selbstverständlichkeit nahm das Publikum dies entgegen. Anstatt ermüdet das Ende eines anspruchsvollen Konzerts zu erwarten, applaudierten die Zuhörer jedes Mal lauter.
Die Zugaben: Franz Schubert: Moments musicaux Nr.1, Frédéric Chopin: Nocturne op.32 Nr.1 und Nr.2, Jean-Philippe Rameau: L’Indiscrètte, Chopin: Prelude op.28 Nr.15 und Nr. 20 c-moll.
Nach der sechsten Zugabe blieb fast niemand auf seinem Sitz, das gesamte Publikum applaudierte stehend. Sokolov kehrte nur noch für zwei schnelle Verbeugungen zurück, und blieb dann der Bühne fern. Das Konzert endete ebenso rätselhaft unmittelbar wie es begonnen hatte. Was übrig blieb, war ein Saal in atemloser Begeisterung – und die Erkenntnis, dass Grigory Sokolov nicht nur der beste Pianist, sondern der größte Künstler unserer Zeit genannt werden muss.
David Fuchs, 6. November 2017, für
klassik-begeistert.de
https://www.grigory-sokolov.com/concerts
Sehr geehrter Herr David Fuchs,
„Dabei spielte es auch keine Rolle, dass Joseph Haydns Klaviersonaten traditionell eher keine Publikumslieblinge sind:“
Schade! Joseph Haydn hat so wundervolle Klaviersonaten geschrieben: Ich liebe sie!
„– ein Klang, der keinen Vergleich mit anderen Pianisten vor und neben Sokolov duldet.“
Ich sehe drei lebende Giganten auf einer Stufe: Kissin, Volodos und Sokolov. Wobei ich Sokolov vorziehen würde, wenn ich müsste.
Herzliche Grüße
Jürgen Pathy
Geehrter Herr Fuchs,
nur selten habe ich eine Besprechung gelesen, die mit meiner Meinung so kongruent ist und meinem eigenen Erlebnis fast völlig entspricht. Ich habe vor einigen Jahren Sokolovs Eigenart zusammenzufassen versucht. Leider nicht auf Deutsch, aber vielleicht könnte es doch von Interesse sein. Man findet den Artikel, falls man den Namen des Künstlers mit meinen kombiniert.
Mit freundlichen Grüsse
Günter Thiele