Currentzis brilliert mit seiner fulminanten Dritten von Mahler in Berlin

Gustav Mahler: Dritte Sinfonie, Wiebke Lehmkuhl, Alt

Teodor Currentzis © Liliya Olkhovaya

Gustav Mahler
Symphonie Nr. 3 d-Moll

Wiebke Lehmkuhl, Alt

Staats- und Domchor
Vocalconsort Berlin
Utopia Orchester

Leitung: Teodor Currentzis

Philharmonie Berlin, 13. Juni 2023

von Kirsten Liese

 Es ist ein seltenes großes Glück, wenn sich die Gelegenheit bietet, ein so wunderbares, geniales Werk in kurzer Zeit zwei Mal hintereinander in grandiosen Interpretationen zu hören: das erste Mal unter Thielemann, das zweite Mal unter Currentzis. Streng genommen habe ich Mahlers Dritte sogar innerhalb von drei Wochen drei Mal gehört, zähle ich noch die Aufzeichnung der legendären Einstudierung mit dem Lucerne Festival Orchestra unter Claudio Abbado dazu, die ich mir zur Erinnerung an das legendäre Konzert angeschaut habe, das ich weiland in den frühen 2000er Jahren live in Luzern erleben durfte.

Und was soll ich sagen: Die klanglichen Ergebnisse und Tempi dieser drei so unterschiedlichen Persönlichkeiten Thielemann, Abbado, Currentzis liegen sehr dicht beieinander! Dabei hat jeder für sich eine gänzlich andere Art des Dirigierens.

Um nun speziell auf Currentzis zu kommen: Er strahlt während des gesamten Abends eine unbändige Vitalität aus und formt die Musik in all ihren Ausprägungen und Kontrasten in der denkbar größten Plastizität nach. Die Entwicklung dieses Künstlers, dem ich noch bei seinem Debüt bei den Berliner Philharmonikern vor einigen Jahren kaum zuschauen konnte, weil er sich damals sehr unruhig und exzentrisch auf dem Podium bewegte, ist wirklich phänomenal.

Schon im vergangenen Jahr schien er bei seinem ersten Berlin-Auftritt mit seinem Utopia Orchester wie ausgewechselt, wirkte kontrollierter, hampelte nicht mehr herum und verströmte dennoch eine Wahnsinns- Energie, die die Spieler anfeuert. Genauso war es diesmal auch. Der von ihm gesuchte permanent sehr dichte Kontakt mit den Musikern zahlt sich aus, insbesondere zu der im ersten Satz viel beschäftigten Cello-und Bassgruppe, an die er mit kleinen Ausfallschritten in der Kniebeuge dicht heranhupft, wenn sie ihre aggressiven Attacken zu spielen haben, die sie mit rasanter Schärfe darbieten, noch dazu homogen wie eine Person. Als wollte er sich mitten in ihre Menge hineinkatapultieren. Damit verströmt er eine kolossale Aktivität, als wäre er selbst einer der Spielenden.

Das Utopia Orchester ist zweifellos ein Luxusorchester wie das Lucerne Festival Orchestra, das herausragende Solisten zusammenführt, von denen bis auf die Cello- und Bassgruppe sowie die tiefen Bläser, Tubisten und Harfenisten alle im Stehen musizieren (!). Das habe ich bei diesem 90-minütigen Mammutwerk tatsächlich noch nicht erlebt.

Die Exzellenz der Musiker offenbarte sich vor allem natürlich an ihren Soli. Die Melodie des Posaunisten im ersten Satz kommt wie ein einziger Gesang daher, phrasiert auch auf weiten Atembögen als ein solcher. Warm und samten tönen die Motive der Oboe, die Klarinette hat freilich vor allem im dritten Satz, wo sie das Hauptthema präsentiert, ihren größten Auftritt. Sabine Meyer, einst an Bord bei Abbado, konnte es nicht kecker spielen.

Und dann das Posthorn-Solo: verträumt versponnen aus der Ferne und im Piano makellos sauber im Ansatz.

Mit kammermusikalischer Intimität serviert die Konzertmeisterin ihre filigranen Girlanden, hauchfein wie ein Aquarell aus Tusche.

Die Weltklasse dieses Klangkörpers zeigt sich  freilich auch am Blech, vor allem im Kopfsatz  „Kräftig, entschieden“  stark im Einsatz mit exponierten Fanfaren, Chorälen und Hymnen. Hörner, Posaunen und Trompeten tönen da allesamt brillant, jeder Ton absolut sauber im Ansatz, golden in der Farbe.

Dynamisch lotet Currentzis die Sinfonie in derart extremen Kontrasten aus, wie es intensiver kaum mehr geht. Auf die schauerreichen, dramatischen, fast schon martialischen Zuspitzungen in der ersten Abteilung lässt er das Menuett der zweiten in einer grazilen Leichtigkeit anstimmen, dass man meinen könnte, eine Elfe fordere ihn zum Tanz heraus.

Aber so sehr man schon angesichts der Zartheit die Ohren spitzen muss, ist der leiseste Punkt hier noch nicht erreicht. Ihn sparen sich Currentzis und seine Musikerinnen und Musiker für den letzten Satz mit seiner überirdisch jenseitigen Meditation auf, in dem die Zeit immer wieder stillzustehen scheint, bis sich die Musik ein letztes Mal dramatisch aufbäumt.

Für das Altsolo auf Nietzsches Nachtwanderlied erwies sich Wiebke Lehmkuhl  mit ihrer warmen großen Stimme als ideale Solistin. Wie zuletzt Christa Mayer in dem Thielemann-Konzert gefällt sie mir noch besser als die zwar mit kristalliner Schönheit singende, aber im Ausdruck stets unterkühlte Elīna Garanča. Dies auch deshalb, weil sie der geheimnisvollen, unwirklichen Stimmung der Verse zwischen Wachen und Träumen mit entsprechend gedeckten farblichen Schattierungen Ausdruck gibt.

Nur ein kleines Detail habe ich in diesem Satz kritisch anzumerken:  Oboen und Englischhorn haben immer wieder kleine Einwürfe nach den letzten Silben der Singstimme auf einer Phrase, eine große Terz. Mahler hat zur Ausführung in seiner Partitur dazugeschrieben „hinaufziehen“ und in Klammern „wie ein Naturlaut“. Das Hinaufziehen bedeutet, dass der Spieler die zweite Note über ein glissando von der ersten erreicht. Darauf haben die Solisten des Utopia Orchesters verzichtet, und ganz sicher nicht, weil sie es nicht gekonnt hätten. Es hat nicht weiter gestört, aber mit Glissando – wie bei der Sächsischen Staatskapelle unter Thielemann und dem Lucerne Festival Orchester unter Abbado zu hören – gefällt es mir besser.

Trotz hohem Aufgebot an Mitwirkenden tönen auch das anschließende kindlich-naiv anmutende „Bimm-bamm“  und das auf Erlösung hinzielende Lied „Es sungen drei Engel einen süßen Gesang“ sehr licht und schlank.

Der magischste Moment aber ist wie auch in den beiden anderen Interpretationen im letzten Satz, dem Adagio, erreicht, in dem Currentzis, nun mit ganz minimalistischen Handzeichen in jenseitige, ätherische Sphären eindringt und die Zeit anhält. Die Streicher spielen ihre Schwebeklänge in den ersten Takten nahezu an der Grenze zum Nichts, als stünde da ein vierfaches Pianissimo, knisternd geheimnisvoll. Das war wirklich nicht mehr von dieser Welt und so schön, dass man sich wünschte, diese Musik möge nie enden.

Die atmosphärische Spannung hätte sich freilich noch über die Sätze hinweg halten können, wenn Currentzis nicht dazwischen nach einer Wasserflasche gegriffen hätte. Mir ist durchaus bewusst, dass dieses gigantische Werk, zumal unter einem solch vitalen Einsatz wie dem seinen an den Kräften zehrt, aber ich bin mir sicher, er könnte es auch ohne diese kleinen Trinkpausen bewältigen.

Aber das ist nur eine Randbemerkung.

Weniger Verständnis habe ich dafür, dass einige Zuschauer, die womöglich an die Usancen des Konzertlebens noch weniger gewöhnt sind, im Laufe der Konzerts die Toilette aufsuchten und bei ihrer Rückkehr gar die ganze Sitzreihe nötigten, ihretwegen aufzustehen.

Liebe Leute: Ein Konzertsaal ist kein Bahnhof! Ein solches Herumlaufen stört kolossal! Schon traurig genug, dass es im Kino üblich ist, den Saal während der Vorstellung zu verlassen, im Konzert- und Opernbetrieb sollte diese Unsitte nicht zur Gewohnheit werden.

Erfreulich andererseits, dass ich selten ein Konzert besucht habe, in das so viele junge Musikenthusiasten strömten. Die Berliner Philharmonie war nicht restlos ausverkauft, aber sehr gut besucht.

Jedenfalls zeigt sich das Publikum, das sämtliche Mitwirkende am Ende verdient bejubelte, absolut erhaben über den in diesen Tagen in den Gazetten wieder um sich greifenden Schimpf über Currentzis. Wie schlecht ist es doch um Demokratie und Meinungsfreiheit bestellt, wenn einem Künstler noch nicht einmal zugestanden wird, sich einer politischen Äußerung zu enthalten!

Dass sie unbeeindruckt dieses Bashings den umstrittenen Dirigenten abermals mit seinem Utopia Ensemble eingeladen hat, rechne ich der Konzertagentur Adler hoch an. Damit zeigt sie mehr Rückgrat als das Wiener Konzerthaus, von dem zu lesen war, dass es den Künstler wohl nicht mehr willkommen heißen will. Mit Freude habe ich gelesen, dass Currentzis und Utopia schon im November wiederkehren, diesmal dann mit Brahms’ Violinkonzert und der Fünften von Tschaikowski. Danke, machen Sie bitte weiter so!

Kirsten Liese, 14. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Gustav Mahler, 3. Symphonie Sächsische Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 d-Moll Lübecker Musik- und Kongresshalle, 3. Juni 2022

UTOPIA, Dirigent TEODOR CURRENTZIS Laeiszhalle, Hamburg, 5. Oktober 2022

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