Altinoglu schärft Brahms – und lässt Haydn glänzen

hr-Sinfonieorchester,  Alain Altinoglu, Sebastian Berner, Trompete  Alte Oper Frankfurt, 22. Mai 2025

Fotos © hr/Sebastian Reimold

Ein intensiver Konzertabend des hr-Sinfonieorchesters in der Alten Oper Frankfurt

Johannes Brahms
Variationen über ein Thema von Haydn op. 56a

Joseph Haydn
Trompetenkonzert Es-Dur Hob. Vlle:1

Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90

hr-Sinfonieorchester

Alain Altinoglu, musikalische Leitung
Sebastian Berner, Trompete

Alte Oper Frankfurt, 22. Mai 2025

von Dirk Schauß

Kaum war der erste Takt verklungen, war klar: Alain Altinoglu nimmt Johannes Brahms beim Wort. Kein schwerfälliges Pathos, keine romantisierende Überwucherung, sondern eine klangliche Ausdifferenzierung, die das hr-Sinfonieorchester mit einer bestechenden Mischung aus Eleganz, Spannkraft und kontrollierter Präzision realisierte.
Was an diesem Abend zu erleben war, war Brahms ohne Zopf, aber mit Charakter – ein Dirigat, das die inneren Bewegungen der Musik freilegte, ohne sie bloßzulegen, das sie formte, ohne zu glätten. Altinoglu interpretierte Brahms mit scharfer Kontur, mit Sinn für formale Proportion und einem feinen Ohr für die fragile Balance zwischen struktureller Klarheit und atmender Musikalität. Die Musikerinnen und Musiker des hr-Sinfonieorchesters folgten ihm mit wacher Präsenz, gegenseitigem Lauschen und einer plastischen, nahezu skulpturalen Klanggestaltung, die den gesamten Saal der Alten Oper in vibrierende Spannung versetzte.

Den Auftakt bildeten die „Variationen über ein Thema von Haydn“ – jenes Orchesterwerk, mit dem Brahms 1873 nicht nur seine eigene orchestrale Handschrift festigte, sondern zugleich ein raffiniertes Spiel mit Tradition und Innovation begann. Altinoglu stellte die Architektur der Variationen mit analytischer Klarheit dar, ohne den Fluss zu hemmen. Das Eröffnungsthema – in Wahrheit wohl gar kein Haydn – wurde wie ein kostbares Mosaik ausgeleuchtet: die Bläser schattierten weich, pastellig, mit kammermusikalischer Intimität, während die Streicher darunter einen leuchtenden, samtig-klaren Grundton legten.

hr SO Grosse-Reihe-Haydn-Brahms © hr/Sebastian Reimold

Jede Variation war ein Miniaturdrama mit eigener Farbwelt – von zart funkelnder Elegie bis zu heiter pulsierender Motorik. Besonders die Pizzicati der tiefen Streicher im Mittelteil hatten tänzerische Energie, und das Finale entfaltete sich nicht in triumphaler Lautstärke, sondern als organisch gesteigerter Klangstrom – kein äußerlicher Effekt, sondern ein inneres Aufblühen, das auf die letzte Note hin nicht ausbrach, sondern sich wie eine Blüte am Abend schloss: leise, aber voller Strahlkraft.

Es war ein übergangslos gesetzter Kontrast, als sich mit Haydns Es-Dur-Trompetenkonzert ein vollkommen anderer Geist in den Raum legte. Kein Bruch, sondern ein Perspektivwechsel: Jetzt stand die Brillanz im Vordergrund – und Sebastian Berner, der Solotrompeter des hr-Sinfonieorchesters, führte durch dieses Paradestück nicht als Virtuose auf dem Podest, sondern als poetischer Erzähler auf blank poliertem Blech.

Von den ersten Tönen an war sein Klang makellos, goldwarm, mit natürlicher Tragfähigkeit. Was ihn jedoch wirklich herausragen ließ, war seine gestalterische Intelligenz: jede Phrase modelliert, jeder Akzent präzise gesetzt, jeder Ton Teil einer übergeordneten Linie. Im langsamen zweiten Satz spannte er einen lyrischen Bogen von schlichter Erhabenheit – der Ton schwebte, beinahe körperlos, aber mit innerer Spannung und bezwingender Ruhe. Nichts geriet ins Dekorative, kein Ton war bloß schön – sein Spiel hatte Bedeutung, Ausdruck, Aussage. Selbst die rasanten Läufe des Finalsatzes blieben musikalisch gebunden, wirkten eher wie fließende Kalligraphie als wie sportlicher Kraftbeweis. Und auch hier offenbarte sich Altinoglus Qualität als Gestalter von Partnerschaften: Das Orchester begleitete nie bloß, sondern reagierte, atmete, kolorierte – mit einer kammermusikalischen Wachheit im großen Saal, die staunen ließ.

hr SO Große Reihe Haydn-Brahms © hr/Sebastian Reimold

Das Publikum reagierte mit begeistertem Applaus – und wurde mit einer hinreißenden Zugabe belohnt: ein Orchesterarrangement von Richard Strauss’ Lied „Allerseelen“. Berner traf fabelhaft den innigen Ton der Solostimme, phrasiert mit schlichter Noblesse und einem leuchtenden, träumerischen Legato. Das Orchester legte ihm dabei keinen Teppich, sondern einen fein gewebten Klangschleier unter – transparent und doch schützend, mit zärtlicher Zuwendung. Als musikalisches „i“-Tüpfelchen fügte sich Konzertmeister Ulrich Edelmann in einer begleitenden Dialoglinie ein, mit sonor-süßer Tongebung – eine fragile, beinahe intime Zwiesprache zwischen Blech und Saiten.

Nach der Pause dann das Herzstück: Brahms’ dritte Sinfonie in F-Dur, Op. 90 – ein Werk, das sich zwischen heroischem Gestus und pastoraler Lichtung bewegt, das innere Kämpfe kennt und doch eine versöhnliche, lichte Klarheit behauptet.

Alain Altinoglu nahm diese Spannung auf, verstärkte sie nicht künstlich, sondern ließ sie in sich wirken. Bereits im ersten Satz war die Dynamik dramatisch modelliert: Die berühmten Anfangstakte – das F–A–F-Motiv – erklangen nicht als bloßer Leitsatz, sondern als Urimpuls, aus dem sich organisch alles Weitere entfaltete. Die Streicher spielten mit edler Grundierung, aber federnder Artikulation, der Ton hatte Glanz, ohne zu schimmern, Tiefe, ohne zu dröhnen. Die Bläser webten ein warmes, farbenreiches Leuchten in den Satz hinein. Besonders die Klarinetten- und Fagottstimmen stachen hervor: rund, sprechend, voller innerer Spannung – wie Persönlichkeiten, nicht bloß Instrumente.

Der zweite Satz, dieses feierliche Andante, war kein Rückzug in Sentimentalität, sondern eine Art stille, beinahe kontemplative Selbstvergewisserung. Die warm tönenden Kantilenen der Holzbläser erzeugten regelrechte Wonneschauer – von innen heraus leuchtend. Die Phrasen atmeten in weiten Bögen, getragen von einer gedämpften, samtwarmen Streicherbasis, während die Hörner in der Ferne aufschimmerten wie spätes Herbstlicht durch lichten Baumbestand. Es war ein Moment äußerster Konzentration, in dem die Musik zur inneren Stimme wurde, gleichsam entmaterialisiert, und doch im Raum schwebend.

Im Poco Allegretto – oft als Miniatur-Hit aus dem Zusammenhang gerissen – schwebte das berühmte Thema nicht süßlich dahin, sondern war von einem feinen melancholischen Glanz durchzogen. Hier zeigte das Orchester seine große Kunst der Klangbalance: das Zusammenspiel zwischen Celli und Holzbläsern geriet zu einem dialogischen Tanz, weich konturiert, fast schon impressionistisch – wie Samt auf Bronze, warm, schimmernd und zugleich mit innerer Bewegung.

hr SO Große Reihe Haydn-Brahms © hr/Sebastian Reimold

Der Finalsatz bündelte schließlich die zuvor gesäten Kräfte. Kein aufgesetzter Furor, kein rauschender Höhepunkt, sondern ein kontrolliertes, innerlich glühendes Drängen. Altinoglu ließ die Musik nicht ausbrechen, sondern pulsieren, als ströme sie aus einem Zentrum tiefer Entschlossenheit. Die Verdichtungen waren plastisch gestaltet, von großer Transparenz, die Auflösungen wirkten wie weise gesetzte Lichtungen – Inseln der Ruhe im Strom der Emotion. Und dann dieser Schluss – kein Triumph, kein tragisches Verklingen, sondern ein friedlicher Rückzug, ein leiser Atemzug nach innen. Brahms schließt diese Sinfonie mit einem versöhnlichen, schwebenden Diminuendo, das hier wie ein sanftes Ablegen in ein inneres Licht klang – berührend, aber ohne Pathos, klug musiziert und tief empfunden. In dieses starke Ausatmen mischte sich dann die große, lang anhaltende Zustimmung eines spürbar bewegten Publikums.

Was bleibt? Ein Konzertabend von dichter Konzentration und großer Spannkraft. Alain Altinoglu und das hr-Sinfonieorchester haben nicht einfach ein Programm gespielt – sie haben einen musikalischen Bogen gespannt, der die Verbindung zwischen Haydn und Brahms, zwischen klassischer Form und romantischer Empfindung, mit spielerischer Präzision und emotionaler Weite erfahrbar machte.

Und sie taten es nicht demonstrativ, nicht in der Pose des Deuters, sondern mit jener souveränen Selbstverständlichkeit, die das größte Kunststück überhaupt ist: Musik nicht nur zu interpretieren, sondern sie atmen, fließen, leuchten zu lassen.

Dirk Schauß, 23. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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