Alexander Malofeev © hr/Ludmila Malofeeva
hr-Sinfonieorchester
Alexander Malofeev, Klavier
Ivan Repušić, musikalische Leitung
Alte Oper Frankfurt, 24. Oktober 2025
von Dirk Schauß
Am 24. Oktober in der Alten Oper Frankfurt: Mediterrane Sonne, slawischer Überschwang – und ein Pianist, der nichts mehr beweisen muss. Alexander Malofeev, 24 Jahre alt, betritt den großen Saal mit einer leisen, verhaltenen Ruhe, die sofort zur Haltung wird. Kein Lächeln, kein Effekt, nur konzentrierte Stille. Wer ihn damals erlebte, als er kurzerhand für einen großen Kollegen einsprang und mit Rachmaninow den Abend rettete, weiß:
Dies ist kein Mann der Show. Damals überraschte er mit seiner Reife, heute mit seiner Natürlichkeit. Nun also Tschaikowskys erstes Klavierkonzert – ein Monument, das in Routine erstarren kann, wenn man ihm zu oft begegnet.
Doch zunächst Blagoje Bersa: ein Name, den man selbst in gut sortierten Musikerkreisen selten hört. Kroatischer Spätromantiker, 1873 geboren, Schüler Leschetizkys, zwischen Wien und Zagreb pendelnd. Sein sinfonisches Gedicht Sonnige Felder von 1917 eröffnet den Abend. Der Titel klingt nach Sommerprospekt, die Musik aber ist dicht, kraftvoll und handwerklich edel gebaut. Ein Hymnus auf die dalmatinische Landschaft – nicht idyllisch verklärt, sondern von archaischer Erdigkeit.
Der Beginn schimmert in hellem Streicherlicht, dann setzt das Blech in breiten Akkorden ein, acht zusätzliche Bläser postiert Repušić auf den Emporen: zwei Gruppen, die den Raum öffnen. Die Wirkung ist frappierend – Klang in 3D. Man hört die Bauern arbeiten, spürt die Hitze, sieht die Felder, ohne dass je plakative Folklore aufkommt. Kraftvolle Glockenschläge kündigen den Mittag an – dann große, strahlende Fortissimo-Akkorde, die den Saal beben lassen. Doch statt sich im Lärm zu verlieren, zieht Repušić dann die Dynamik zurück: Flöten und Oboen malen ferne Hirtengesänge, zart phrasiert, mit einem vibratolosen, klaren Ton, der erstaunlich modern wirkt.
Repušić liest Bersas Musik wie ein Archäologe, der etwas Vergessenes freilegt. Seine Bewegungen sind knapp, eher kantig, doch jede Geste sitzt. Er hält das Orchester auf Spannung, ohne es zu überdehnen. Besonders im Mittelteil – ein Wechselspiel zwischen hellen Streicherflächen und dunklem Blech – zeigt sich, wie genau er Farben denkt. Das hr-Sinfonieorchester reagiert mit Wachheit, klanglich flexibel und mit jener Mischung aus Disziplin und Abenteuerlust, die man bei diesem Ensemble schätzt.
Dann Tschaikowsky. Das b-Moll-Klavierkonzert – Erkennungsstück und Prüfstein zugleich. Schon die ersten Akkorde zeigen, dass Alexander Malofeev nicht auf Wirkung spielt. Er eröffnet die Phrase aus der Ruhe heraus, mit einem Anschlag, der mehr spricht als donnert.
Das Orchester antwortet zurückhaltend, als müsse es sich erst auf diesen Tonfall einstellen. Malofeev spielt mit der Haltung eines Künstlers, der sich selbst zurücknimmt, um die Musik freizulegen. Was folgt, ist ein erster Satz von ungewohnter Leichtigkeit. Wo andere Pianisten die Kraft betonen, sucht Malofeev den Dialog. Er erlaubt sich kleine rhythmische Freiheiten, setzt winzige Pausen, die das Orchester hellhörig machen. Besonders im Holz hört man, wie konzentriert Repušić reagiert: die Klarinetten atmen die Phrasen mit, die Hörner antworten nicht pompös, sondern als farbige Partner. Einmal – ein kaum merklicher Moment – schließt die Flöte mit einer Art Lächeln im Ton; Malofeev nimmt es auf, als habe er darauf gewartet. Solche Zwischenspiele machen diesen Satz lebendig.

Im Andantino semplice kehrt innige Ruhe ein. Malofeev phrasiert mit kontrollierter Zärtlichkeit, ohne in Sentimentalität zu rutschen. Sein Pedalgebrauch ist sparsam, asketisch. Die Holzbläser antworten mit kammermusikalischer Transparenz. Besonders hervorzuheben ist die Flöte – federleicht, unaufdringlich, doch immer präsent. Sie singt mit dem Pianisten, nicht neben ihm. Man spürt, dass Repušić hier nicht begleitet, sondern gestaltet: die Dynamik bleibt atmend, der Puls organisch. Im Mittelteil, wenn das Thema kurz aufblüht, entsteht ein Moment stiller Schönheit – einer dieser Augenblicke, in denen man den Atem anhält, weil alles stimmt.
Im Finale zeigt Malofeev dann, dass Virtuosität nicht mit Lautstärke verwechselt werden muss. Seine Oktaven sind kristallklar, präzise, aber ohne Schärfe. Repušić hält das Orchester hell und rhythmisch wach, die Holzbläser sind präsent, der Tuttiklang bleibt schlank. Der Schluss – technisch makellos, innerlich gesammelt – löst spontanen Jubel aus. Der Applaus bricht wie ein Windstoß los. Malofeev verneigt sich mehrfach, beinahe verlegen, als wolle er sagen: Ich habe nur zugehört, was Tschaikowsky geschrieben hat. Zwei Zugaben (Purcell und Skriabin) folgen, besonders eindrücklich davon Skriabins Präludium für die linke Hand – beide poetisch, tastend, wie Nachbilder eines Traums.
Nach der Pause bleibt die Bühne in russischer Hand: Tschaikowskys „Capriccio Italien“. Ein Stück, das leicht zur Postkartenidylle verkommt, bekommt hier klare Struktur. Repušić denkt in Bögen, nicht in Episoden. Die Fanfaren zu Beginn klingen strahlend, aber nie laut. Das Schlagwerk setzt markante Akzente, ohne den Puls zu übersteuern. Besonders die Trompeten – sauber geführt, mit leicht metallischem Kern – tragen die Architektur. Die Streicher bleiben flexibel, mit jener Eleganz, die zwischen Präzision und Wärme balanciert.

Repušić, nun auswendig dirigierend, gönnt dem Orchester Zeit. Er lässt Atempausen, wo andere drängen, und setzt dann gezielt Ausbrüche. Man merkt, dass er die Partitur nicht als italienische Farbpalette, sondern als architektonisches Gebilde begreift. Die Holzbläser – besonders die Oboen und Fagotte – spielen mit schönem Eigenprofil, während die Blechbläser zugleich leuchten. Es ist eine Musik des Maßes, die doch vor Energie sprüht.
Dann Respighis „Pini di Roma“ – ein Werk, das viele Dirigenten zur Selbstinszenierung verführt. Repušić tut das Gegenteil. Er baut Spannung in kleinen Schritten auf. Sehr bildhaft tollen die spielenden Kinder in den „Pini di Villa Borghese“ herum. „Pini presso una catacomba“ beginnt mit gedämpften Streichern, dunkel, atmend, wie ein tiefes Gebet. Über diesem Teppich hebt sich die Trompete aus der Ferne – einsam, schneidend, dann wieder verschwimmend. Man spürt, wie der Dirigent den Klang modelliert, nicht dirigiert.
Im dritten Satz, „Pini del Gianicolo“, wird das Orchester zum großen Klangatelier. Hier geschieht einer der magischen Momente des Abends: die Soloklarinette – traumhaft sicher, mit einem Ton, der mehr haucht als spricht – trägt eine der schönsten Melodien des ganzen Werkes. Kein Vibrato, kein Schmelz, nur pure Phrasierung. Sie spielt, als ginge sie auf Zehenspitzen durch die Nacht. Repušić hält das Ensemble wie den Atem eines Lebewesens – zart, aber gespannt. Wenn dann der ferne Nachtigallengesang einsetzt, geschieht das ohne Effekt. Er klingt nicht „eingespielt“, sondern organisch, als käme er von draußen herein.
Im Finale, „Pini della Via Appia“, wächst der Klang Schritt für Schritt. Die Pauken beginnen nahezu unhörbar, die Trompeten antworten wie aus der Ferne. Dann setzen die Posaunen ein, massiv, doch nie roh. Repušić lässt die Legionen nicht marschieren, sondern schreiten – und das Orchester folgt. Der Klang schwillt an, wird körperlich spürbar, aber bleibt klar geformt. Erst im letzten Crescendo entfesselt er das volle Volumen – ein Moment, in dem die Akustik der Alten Oper beinahe glüht.
Das hr-Sinfonieorchester präsentiert sich dabei in exzellenter Verfassung: die Streicher homogen und doch farbig, das Blech brillant, das Schlagzeug präzise, die Holzbläser mit Charakter. Vor allem die Soli verdienen besondere Erwähnung – die Flöte im Tschaikowsky, die Klarinette in Respighi, aber auch Oboe und Horn in Bersa: kleine Meisterleistungen im großen Zusammenhang.
Ivan Repušić, der neue Generalmusikdirektor in Leipzig, zeigt an diesem Abend, was ein Dirigent sein kann, wenn er die Musik sprechen lässt. Keine aufgesetzte Gestik, kein übertriebener Ausdruck – nur ein klares Bewusstsein für Struktur, Atem und Energie. Man spürt, dass er formt, nicht dominiert und doch aus der vorgetragenen Musik spannende Aussagen zu vermitteln weiß.
Nach zwei Stunden endet der Abend mit jener Begeisterung, die bleibt, wenn ein Konzert wirklich gelingt. Malofeev ist der Held des Abends – gerade weil er sich nie als solcher aufführt.
Und Repušić? Er formt das hr-Sinfonieorchester zu einem Ensemble, das plötzlich wieder Neugier zeigt, farbenreich, differenziert, mit innerem Feuer musiziert. Keine Geste zu viel, kein falscher Glanz. Zu wünschen ist, dieser Dirigent käme öfter zurück – zumal er an diesem so besonderen Abend schmerzlich mehr Profil zeigte als der amtierende Chef.
Dirk Schauß, 25. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
FOM, Maxim Lando, Klavier, Cornelius Meister, Dirigent Alte Oper Frankfurt, 29. September 2025