"Verschwörungstheorien brauchen keine klaren Tatsachen": Frank Piontek über Fake News in der Zeit Richard Wagners

Interview am Donnerstag 1: Frank Piontek

Interview am Donnerstag 1: Der Kulturjournalist und Buchautor Dr. Frank Piontek

von Jolanta Lada-Zielke

Musik soll vorurteilsfrei sein und Menschen verschiedener Nationen, Kulturen und Religionen zusammenbringen. Das wäre schön, leider gibt es Ausnahmen von der Regel. Der Pianist Igor Levit hat in der letzten Zeit Morddrohungen aus antisemitischen Hintergründen bekommen, nachdem er sich öffentlich mit den Opfern des Anschlags von Halle vom 9. Oktober 2019 solidarisiert hat. Im Lauf der Geschichte wurde der Hass gegen Juden auf verschiedene Art und Weise geäußert. Ein markantes Beispiel dafür ist Richard Wagners Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“. Zwar gibt es dort keine Todesdrohungen oder Vernichtungsintentionen, der Text enthält jedoch diskriminierende Bemerkungen gegen Künstler jüdischer Abstammung. Der Kulturjournalist Dr. Frank Piontek hat in seinem Buch „Richard Wagner: Das Judenthum in der Musik. Text, Kommentar und Wirkungsgeschichte“ (herausgegeben 2017) den Text des Pamphlets analysiert. Nach der Lektüre hatte ich eine ganze Menge Fragen und so ist es zu diesem Interview gekommen.

Wagners Antisemitismus, den er in seinem Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“ geäußert hat, ist heute von der Mehrheit der Wagnerianer schwer zu akzeptieren. Wie ist es dazu gekommen, dass Du Dich mit dem Thema beschäftigt hast?

Ich bin ganz überraschend dazu gekommen, ich habe nämlich einen Vortrag über die Wirkungsgeschichte von Wagners Antisemitismus beim Wagnerverband in Weimar gehalten. Dann ist Herr Thomas Krakow vom Wagner-Verband Leipzig auf mich zugekommen und hat gefragt, ob wir daraus ein Buch machen wollen. Ich habe ihm gesagt, dass es zu diesem Thema schon zwei Meter Literatur gibt. Er wollte es aber trotzdem herausgeben. Dann habe ich mir das Konzept überlegt, damit sich das neue Buch von den bisher herausgegebenen unterscheidet. Das Thema ist aber nicht abschließbar. Jedes Jahr erscheinen neue Publikationen dazu und in hundert Jahren werden wieder neue erscheinen.

„Das Judenthum in der Musik“ wurde zweimal veröffentlicht, einmal 1850 in der Leipziger „Neuen Zeitschrift für Musik“ und dann 1869 als eine einzelne Broschüre. Welche Version liegt Deinem Buch zugrunde?

Selbstverständlich die neuere Version von 1869. Ich habe nur an wenigen Stellen Kommentare hinzugefügt, die sich in den beiden Versionen stark voneinander unterscheiden. Die meisten Änderungen, die Wagner dem originalen Text gegenüber vorgenommen hat, sind marginal, aber die grundsätzliche Erweiterung ist wichtig. Deswegen musste er den Text von 1869 publizieren, weil der Text von 1850 so gut wie gar nicht wahrgenommen wurde. Erst die Fassung von 1869, die doppelt so lang ist, wurde vom großen Publikum rezipiert.

Deswegen, weil sie ein bisschen „verschärft“ ist?

Das ist sehr höflich ausgedruckt. Die Fassung von 1869 ist radikal verschärft. Man merkt, dass Wagner zunehmend härter und unnachgiebiger wurde. Und alles, was sich in ihm gegen den so genannten „Juden“ ansammelte, drückte er zum Teil mit großem Hass in der Schrift von 1869 aus.

Hängt das alles mit der fortgeschritten Emanzipation der Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen? Es gab schon offiziell jüdische Juristen, Ärzte, Musiker …

… und Musikkritiker! Das war einer der Gründe dafür und lag vielleicht daran, dass die Juden inzwischen ungeahnte Freiheiten bekommen hatten. Gerade um 1869-70 war die Emanzipation der Juden schon fortgeschritten, was dem Antisemiten Wagner nicht gefallen konnte. Das war genau die Zeit, als Juden endlich rein gesetzmäßig in Deutschland und in Österreich angekommen waren. Den älter gewordenen Wagner hat das irritiert, wie sie plötzlich bürgerlich und gleichberechtigt wurden. Das war aber sicherlich nicht der Hauptgrund, warum er den Text neu überarbeitete. Vor allem machte er das aus künstlerischen Gründen, die mit rassistischen Motiven vermengt wurden. Bei der ersten Publikation war das ein zum Teil irrationaler Hass gegen den Komponisten Giacomo Meyerbeer und die Abneigung gegen Felix Mendelssohn Bartholdy. 1869 kam noch ein Grund dazu. Kurz davor hatte Wagner die Meistersinger von Nürnberg in München (1868) uraufführen lassen. Dann äußerte sich der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick, den Wagner für einen Juden hielt (die Familie war aber konvertiert), sowie die anderen jüdischen und nichtjüdischen Kritiker sehr negativ gegen dieses Werk. Wagner war frustriert, dass sein Meisterwerk durch jüdische Kritiker in den Schmutz gezogen wurde.

Man muss sagen, dass Hanslick seinerzeit wirklich ein sehr harter Kritiker war. Aus heutiger Sicht wäre er ein Schwachkopf, aber diese Art der Musikkritik war damals völlig normal. Musikgeschichtlich behielt übrigens nicht Hanslick, sondern Wagner Recht. Er war aber überempfindlich und hat sich schnell beleidigt gefühlt, wenn jemand ihn kritisierte. Das lag in seiner Natur: Entweder war jemand ganz für oder gegen ihn. Der unmittelbare Impuls für die Wiederveröffentlichung des Pamphlets war also der Hass auf die ganze Stadt Wien, in der Eduard Hanslick sein „Regiment“ ausüben konnte. Der andere Grund war folgender: Wagner war mit Mendelssohn noch nicht fertig. Unmittelbar nach dem „Judenthum in der Musik“ schrieb er eine neue Schrift über das Dirigieren, die mit dem „Judenthum…“ zusammenhängt. Die Schrift ist gegen Mendelssohn als Interpreten von klassischen Werken gerichtet. Dazu kommt noch die Abneigung gegen jüdische Musiker elementar zum Vorschein, etwa gegen Ferdinand Hiller, der sich Beethoven zu dirigieren traute. Wagner fand das zweitklassig. In den Jahren 1869-70 brach die ganze Abneigung Wagners heraus: gegen Wien, Hanslick, gegen die ausübenden jüdischen Musiker, die immer noch am Leben waren und es wagten, Beethovens Musik aufzuführen. Man kann Wagner nicht verteidigen, aber in einem Punkt kann man versuchen, ihn zu verstehen: Das war der Hass gegen Hanslick und seine Kritikerfreunde. Der große Künstler war zu Recht persönlich beleidigt, deswegen schlug er so zurück, schoss über sich hinaus und gleich entwickelte sich daraus eine Verschwörungstheorie.

Das war wirklich eine Verschwörungstheorie. Wagner behauptet ja in seinem Pamphlet, dass die ganze Presse den Juden gehört und alle Theaterdirektoren Juden sind.

Verschwörungstheorien brauchen keine klaren Tatsachen. Man nimmt sich einen Fakt heraus und bläst ihn auf (wie Barrie Kosky es in seiner „Meistersinger“-Inszenierung in Bayreuth sehr deutlich zeigt). Mit „Fake News“ kann man herrliche Verschwörungstheorien bauen. Im 19. Jahrhundert traf es die Juden, die immer noch unter Verschwörungstheorien leiden. Wagner hat tatsächlich einige Argumente zusammengetragen, die schon lange gegen Juden im Umlauf waren. Er selbst erfand das alles nicht, er fixierte es nochmal und verschärfte es. Er behauptete, die Zeitungen, die Verlage, das Finanzleben, all das sei in jüdischer Hand. Das war völliger Unsinn. Es gab sowohl jüdische als auch nicht-jüdische Bankiers. Der Anteil der Juden an den Finanzgeschäften in Europa war gegenüber den christlichen Inhabern wesentlich kleiner. Man kann nicht über eine jüdische Weltherrschaft reden, obwohl es den großen jüdischen Bankier Baron Rotschild gab. Es wäre auch schwierig nachzuweisen, dass viele Zeitungen in jüdischer Hand waren. Es gab sicherlich mehr christliche und nicht-jüdische als jüdische Redakteure in der deutschen und österreichischen Presse. Das konnte man schon damals nachweisen, aber das hat Wagner nicht interessiert.

Seine Äußerungen über die Teilnahme der jüdischen Musiker im öffentlichen künstlerischen Leben sind auch nicht besser: vollendete Unproduktivität, innere Lebensunfähigkeit, Tyrannei, Meyerbeer und seine Clique… Aber Meyerbeer ist heute nicht so populär wie Wagner.

Man denkt, dass Wagner daran schuld ist, dass Meyerbeer im 20. Jahrhundert nicht mehr gespielt wurde, das stimmt aber nicht. Meyerbeers Opern wurden in Deutschland bis 1933 noch gespielt, bis die Nazis es verbaten. In Amerika führte man seine Werke noch länger auf. Ich war selber überrascht, als ich einen interessanten Satz entdeckte: „Man muss sich nicht darüber ärgern, dass Meyerbeer nicht mehr gespielt wurde; man soll sich wundern, dass er so lange gespielt wurde“. Das hat nichts mit seiner jüdischen Abstammung zu tun. Es gab andere Meister der so genannten „großen Oper“ [Grand Opéra], wie Gioacchino Rossini, Gaetano Dionizetti, deren Werke Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr gespielt wurden. Die Werke von Meyerbeer wurden aufgeführt, weil er zum Teil besser als seine Kollegen war. Dann wurde damit aufgehört, aber das lag nicht an Wagners Pamphlet, sondern am sich wandelnden Zeitgeschmack und natürlich an der Musik Wagners, die einen neuen, modernen Stil einführte. Die Musik der alten Opernmeister war nicht mehr so populär. Und warum wird er heute nicht gespielt? Meine persönliche Theorie ist die, dass er im Vergleich mit Wagner oder Rossini kein großes Genie war. Zwar wurde er grandios inszeniert und schuf grandiose Opernabende, aber rein musikalisch konnte er langfristig tatsächlich mit Wagner nicht mithalten, weil er nicht so „scharf gewürzt“ wie Wagner und wie später Richard Strauss war.

Warum hat Wagner Meyerbeer so „widerlich“ gefunden? War es ihm so peinlich, dass er ihm seine Hilfe während des Aufenthalts in Paris zu verdanken hatte?

So etwas steht nicht im Pamphlet, das ist nur eine psychologische Interpretation. Wagners Einstellung war jedoch unbegreiflich. Meyerbeer war ein großer Menschenfreund und sehr vorsichtiger Mensch, kein Polemiker. Man weiß aus allen Dokumenten, dass er in Paris Wagner unterstützte, so gut er konnte. Er gab ihm Geld, verschaffte ihm Gesprächstermine bei Theaterdirektoren und Empfehlungen. Wagner hatte Meyerbeers Einfluss aber überschätzt, er war ein gefragter Meister, aber kein Zauberer und konnte nicht alles für den unbekannten Deutschen tun. Wagner hat das vermutlich nicht wahrgenommen. Er verdrängte es, dass ihm Meyerbeer viele Türen geöffnet hatte. Auf Empfehlung Meyerbeers wurde die Partitur des „Rienzi“ nach Dresden geschickt, die Oper wurde gespielt, dann kam Wagner nach Dresden und wurde Kapellmeister. Das hatte er Meyerbeer zu verdanken, deswegen ist es so unbegreiflich, wie er das verdrängen konnte. Psychologen könnten sagen, er hatte ein schlechtes Gewissen, deswegen biss er die Hand, die ihn streichelte. Dies ist der persönlich schwierigste Punkt in dem ganzen Pamphlet.

Im Vorwort schreibst du, dass Mendelssohn von Wagner ein bisschen freundlicher behandelt wurde, wahrscheinlich weil er so früh gestorben ist…

Ja, aber es gibt verschiedene Gründe dafür. Mendelssohn hat nie eine große Oper geschrieben und ist nicht als Opernkomponist in die Musikgeschichte eingegangen. Seine Meisterwerke sind die dramatischen Oratorien, wie z. B. Elias. Außerdem komponierte er Lieder, Klavierstücke [z. B. „Lieder ohne Worte“], Streichquartette, Konzerte, also das alles, womit sich Wagner nicht beschäftigte. Seine Familie konvertierte zum Christentum, aber für richtige „Judenfresser“ ist das kein Argument. Für viele Menschen im 20. Jahrhundert war auch Gustav Mahler ein Jude, obwohl auch er konvertierte. Es gibt diesen bösen Satz von Göring: „Wer Jude ist bestimme ich“. Aber Mendelssohn war kein Konkurrent für Wagner und seitdem er tot war, bestand für Wagner keine „Gefahr“ mehr. Die beiden hatten persönlichen Kontakt zueinander in Dresden, der übrigens nicht freundlich war. Wagner warf Mendelssohn Unproduktivität vor, schrieb jedoch auch über ihn, dass er ein „feiner Musiker“ sei. Seiner Meinung nach war Mendelssohn kein großer Musiker, weil er Jude war und Juden nicht schöpferisch sein konnten. Trotzdem merkt man zwischen den Zeilen, dass er ihn relativ vorsichtig anfasst. Wenn man das mit dem vergleicht, was er über Meyerbeer geschrieben hat, muss man sagen, dass er mit Mendelssohn taktvoll umgeht. Es ist nicht zu vergleichen mit den hasserfüllten Sätzen, die er später gegen Meyerbeer geäußert hat.

Vielleicht kommt noch die Enttäuschung hinzu, dass Wagner als junger Komponist die Partitur seiner C-Dur-Symphonie an Mendelssohn schickte, aber keine Antwort von ihm bekam?

Dafür hätte Wagner ihm dankbar sein müssen. Er hätte 1850 verstehen müssen, dass seine Symphonie, die aus heutiger Sicht sehr interessant ist, damals epigonal klang. Da gibt es sehr viele Anklänge an Beethoven und Wagner kann nicht bestreiten, dass er ein treuer Schüler Beethovens war. Ich glaube, Mendelssohn sah das sofort und deshalb schwieg er taktvoll, sonst hätte er sagen müssen: „Herr Wagner, das ist zwar gut, aber nicht originell, eigentlich dilettantisch.“ Wagner war schon Mitte zwanzig so eitel, dass er nicht begreifen konnte, wie man über so ein Meisterwerk schweigen kann. Das war ein pures Missverständnis, die Schuld lag aber auf Wagners Seite.

 

Wagner behauptet, die ganze musikalische Erfahrung von Juden beschränke sich auf die synagogale Musik, die für nicht-jüdische Künstler wie eine Fremdsprache ist…

Wagner ist von der jüdischen Sprache ausgegangen, die er offensichtlich in Riga kennengelernt hatte. Diese Sprache – Jiddisch – war eigentlich eine Art von Slang, der sogar von assimilierten Juden verachtet wurde. Es gab Juden, die ihre Religion und Kultur behielten, aber nicht Jiddisch gesprochen haben, im Gegensatz zu den Leuten im Stedtl. Wagner scheint die zwei Sprachen verwechselt zu haben und hat das auf die Musik der Juden übertragen, was Unsinn ist. Ich bin nicht sicher, ob er die reformierte jüdische Musik von Louis Lewandowski in Berlin oder von Salomon Sulzer in Wien nur einmal gehört hat. Es ist auch nicht bezeugt, ob er jemals einen Gottesdienst in der Synagoge besuchte. Wahrscheinlich beurteilte er etwas, wovon er keine Ahnung hatte.

Er war auch nicht im Recht, wenn er schreibt, dass es vor Mozart und Beethoven noch keinen berühmten jüdischen Komponisten gegeben hätte. So gab es doch im italienischen Frühbarock den Komponisten Salamone Rossi.

Ja, wenn man in die Musikgeschichte hineinschaut, gibt es nicht viele jüdische Kunstmusik-Komponisten. Aber der Name Salamone Rossi ist bekannt, weil er ein großer Komponist der Monteverdi-Zeit war. Er nahm den Monteverdi-Stil auf und schrieb schöne und originelle Musik. Man kann einige seiner Stücke glücklicherweise auf CDs und auf YouTube finden. Rossi ist jedoch eine Ausnahme. Der Grund, dass bis zu Wagners Zeit die jüdischen, jüdisch-stämmigen und auch jüdisch-gläubigen Komponisten in der Musikgeschichte – abgesehen von den Reformgesängen – nicht auftreten, ist einfach der, dass sie keine Chance hatten, so populär und produktiv zu werden wie Händel, Mozart, Beethoven, oder Gluck. Über Jahrhunderte war es völlig unmöglich, dass ein Jude ein Hofkapellmeister oder ein Musikdirektor werden durfte. Man dachte, ein Jude kann ins Opernhaus nichts mitbringen. Wagner gibt einen biologischen Grund an, vor ihm gab es dafür aber soziale und soziologische, keine intellektuellen Gründe.

Man sagt, Wagner hätte die negativen Figuren in seinen Opern, wie Alberich, Mime, oder Beckmesser als Juden dargestellt. War das wirklich seine Absicht oder hat man sie nur so interpretiert?

Schwierige Frage, die auch heute nicht zu beantworten ist. Vor einigen Jahren haben amerikanische Wissenschaftler die so genannten „Körperbilder“ bei Wagner untersucht, um sie mit den Karikaturen von Juden im 19. Jahrhundert zu vergleichen. Man behauptete, die Figuren wie Alberich, Mime, Beckmesser und auch Klingsor, so wie sie singen und wie sie auf der Bühne durch die Regieanweisungen charakterisiert werden, könnten als jüdische Karikaturen dargestellt sein. Das musste Wagner nicht extra erläutern und das Publikum sah das sofort. Wenn jeder von denen extrem hoch und schrill singt und mit krummer Nase dargestellt wird, dann sieht er wie eine Judenkarikatur aus. Mahler sagte um 1900 selbst, dass Mime ein Jude ist. Wagner behauptete so etwas nie. Ganz interessant ist, dass all diese Figuren negativ gezeichnet sind, aber Wagner hat ihre Partien so komponiert, dass sie während der Aufführung zwischendurch das Mitleid des Publikums gewinnen. In dem Fall kann man nicht nur von jüdischen Karikaturen reden. Aber letztlich bleibt die Frage unbeantwortet, ob Wagner das wirklich absichtlich machte. Im Blick auf „Das Judenthum in der Musik“ muss man sagen: Vermutlich.

Sind der fliegende Holländer und Kundry die archetypischen Darstellungen vom „ewigen Juden“?

Wagner hat selbst über seinen Holländer als ein „Wanderer“ gesprochen. Er hat ihn als „Ahasver des Ozeans“ charakterisiert, aber das ist nicht antisemitisch gemeint. Das ist keine negative, sondern eine tragische Figur. Kundry ist auch eine ewige Wanderin mit eigener Geschichte, die sie über tausend Jahre mitschleppt. Die Kundry-Figur wurde im Zusammenhang mit späteren Schriften „Zu Regeneration und Rasse“ geschaffen, in denen sich Wagner über die „jüdische Rasse“ äußert. Aber Kundry ist vielschichtig, sie hat negative Züge und Leidenszüge. Man kann schwer sagen, ob sie eine antisemitische Darstellung ist. Auch wenn das von Wagner intendiert wäre, ist letztendlich diese Figur zu komplex, um sie darauf zu reduzieren.

Es gibt noch einen jüdischen Künstler, zu dem Wagner eine spezielle Beziehung hatte, nämlich Heinrich Heine…

Ja, sie kannten sich persönlich aus Paris, jeder schrieb über den anderen, und zwar nicht nett, eher spitz. Aber Wagner verdankt Heine einige Motive, die er vor allem im Fliegenden Holländer und Tannhäuser ausschöpfte. Er lernte den Stoff, anhanddessen er komponierte, auch durch Heinrich Heine kennen. Wenn es um „Tannhäuser“ geht, verdrängte Wagner wieder, dass er den satirischen Text von Heine dazu verwendete. Als er in Paris war, vertonte er selbst ein Gedicht von Heine „Les deux Grenadiers“. Und im „Judenthum in der Musik“ schrieb er sehr allgemein, dass es Leute gebe, die „diese Gedichte“ vertonten, aber nicht, dass er selbst zu diesen Komponisten gehöre. In seiner Autobiographie „Mein Leben“ hat er zwar zugegeben, dass er Musik zu Texten Heines komponierte, in dem Pamphlet durfte das aber nicht stehen.

In der zweiten Version des Pamphlets wendet sich Wagner an Maria Kalergis – Muchanow – mit den Worten „verehrte Frau“ – was für mich eine Überraschung war.

Wagner kannte diese berühmte Polin aus Paris, wo sie als glänzende Pianistin anerkannt war. Sie unterstützte Wagner in seiner Pariser Zeit mit viel Geld, weil er damals unterstützt werden musste. Aus Dankbarkeit widmete er ihr eine private Aufführung eines Akts von „Tristan und Isolde“. Zwar war sie keine echte Wagnerianerin, schätzte aber seine Musik sehr hoch. Die beiden weilten in denselben künstlerischen Kreisen und verstanden sich gut sowohl auf künstlerischer als auch auf finanzieller Ebene. Deswegen schrieb er so einen Vorbrief an sie vor der zweiten Ausgabe des Pamphlets, in dem er ihr zu erklären versuchte, warum die Presse so gegen ihn gehetzt hat. Man weiß nicht, ob sie ihn wirklich danach fragte, aber er war ihr für ihre Unterstützung noch nach Jahren dankbar.

Im Pamphlet wird auch der polnische Schauspieler jüdischer Abstammung Bogumił Dawison erwähnt.

Leider haben wir keine Filmaufnahmen aus der damaligen Zeit, aber Dawison war ein sehr berühmter Schauspieler. Im Wiener Burgtheater spielte er große Shakespearerollen und war der beliebte, ein bisschen eitle und schwierige, aber Theater-Superstar der Epoche. Wagner selbst schreibt über die Unfähigkeit eines Juden, Charaktere auf der Bühne adäquat darzustellen, und spricht ihm dieses Talent ab. Ich nehme an, Wagner musste es furchtbar geärgert haben, dass ein polnisch-jüdischer Charakterdarsteller so eine große Karriere machte und dass er Shakespeare spielte. Shakespeare war der Lieblingsautor von Richard Wagner. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, ob Wagner Dawison je auf der Bühne sah. Er las wahrscheinlich von ihm und bildete sich so aus zweiter Hand ein Urteil über ihn. In ähnlicher Weise bildete er sich ein Urteil über Mendelssohn, als der in einem Konzert seine „Tannhäuser-Ouvertüre“ dirigieren sollte. Das machte aber ein anderer Dirigent und Wagner war nicht dabei, behauptete aber, dass Mendelssohn „falsche Tempi“ einführte und alles kaputt gemacht habe. Anhand solcher „Fake News“ bildete er sich ein Urteil.

Welche Reaktionen hat sein Pamphlet in Wagners Zeit verursacht? Die Sängerin Pauline Viardot sagte, dass Wagner künstlerisch sehr groß aber moralisch ein Schwächling sei.

Das ist auch die heutige Meinung von vielen Wagner-Experten. Als Reaktionen auf die erste Ausgabe 1850, die Wagner unter dem Decknamen „K. Freigedank“ veröffentlichen ließ, erschienen nur drei Kritiken in Fachzeitschriften. Dann wurde das Ding vergessen. Nur die wenigsten Leute wussten, wer der wirkliche Autor war. 1869 war Wagner sehr berühmt, und bei der zweiten Ausgabe (schon unter seinem Namen) gab es etwa dreihundert Rezensionen, viele negative, etliche positive, also war die Meinung gespalten. Damals war Antisemitismus in Deutschland und Österreich sehr populär. Von jüdischer Seite bekam Wagners Familie scharfe private, auch anonyme Briefe. Das alles wirkte sich auch auf die Aufführung seiner Werke aus. Kurz nach der Publikation des Textes gab es zum Teil Tumulte in den Zuschauerräumen während der Aufführungen von  Wagners Opern. Vielleicht waren nicht nur Juden daran beteiligt, sondern auch Leute, die moralisch empört waren, dass der Komponist – wie es Franz Liszt sagte – die Torheit begeht, dieses vergessene Ding wieder aufzulegen. Liszt meinte, es ist schon schlimm genug, dass er die erste Version überhaupt geschrieben hat und was er jetzt macht, ist völlig unverständlich. 1869 hat sich Wagner – ich meine zu Recht – den Hass vieler Menschen zugezogen. Er war selbst verstört, weil er ernsthaft glaubte, in dem Text klare Sätze und sachliche Argumente über die jüdische Frage formuliert zu haben. Und plötzlich sah er, wie viele Leute von der neuen Version beleidigt wurden und wie riesig der Sturm war, der wochenlang anhielt und bis nach Tribschen ging, wo der Komponist zu dieser Zeit weilte.

Und infolgedessen haben die Nazis Wagner für „ihren“ Komponisten gehalten?

Ich muss sagen, die antisemitische Musikkritik hat Wagner nicht erfunden, das war schon längst vor ihm der Fall, aber nicht in der Form von Traktaten. Es gab Kritiken von einem Freund von Wagner (Theodor Uhlig), der sich so über Mendelssohn und Meyerbeer äußerte, dass auf das Judentum der Komponisten angespielt wird und deswegen klinge ihre Musik genauso. Auch in Leipzig, wo Mendelssohn sehr populär war, gab es antisemitisch eingestellte Kritiker. Wagner war aber der erste, der wirklich grundsätzlich sich Gedanken über diese Frage machte und versuchte, diese antisemitisch motivierte Musikkritik in einer pseudowissenschaftlichen Form vorzulegen. In der Nazizeit griff man das natürlich mit Vorliebe auf. Wagners Traktat war auch in der berühmten Ausstellung „Die entartete Musik“ ausgestellt. Musikwissenschaftler im Dritten Reich konnten Wagner sofort zitieren, sie zitierten aber nicht alles. Es gibt nämlich ein paar Sätze, auch in der Fassung von 1869, wo man den Eindruck haben könnte, dass Wagner doch an eine friedliche Vereinigung von Juden und Christen denkt, wo dieses Rassenproblem irgendwie beseitigt wurde. Es ist ganz wenig, aber nicht unwichtig. Es ist aber schwierig, Wagner zu folgen, wenn er zunächst gegen Juden schreibt und dann fügt er hinzu, dass es irgendwie kein Problem, sondern eine friedliche Vereinigung zwischen Juden und Christen geben sollte. Nach allem, was er bisher schrieb, ist schwer zu glauben, dass er das wirklich so meinte. Diese Sätze wurden natürlich von Nazis nie zitiert, sie veröffentlichten nur die „schärfsten“. Die Vorwürfe gegen Mendelssohn waren, dass seine Musik zwar schön, aber „ohne Tiefe“ sei, was ein riesiger Irrtum ist. Er hat doch eine sehr zu Herzen gehende Musik geschrieben. Diese Urteile wurden bisweilen in die Nachkriegszeit hineingetragen, man findet sie noch in Büchern. Ich glaube, vielen Musikfreunden ist nicht bewusst, dass diese Meinung über einen guten Komponisten aus dem 19. Jahrhundert stammt, und dass Wagner versuchte, sie in einem sehr höflichen Ton zu formulieren. Das konnte von den Nazis ausgebeutet werden, aber sie konnten nicht jeden Satz gebrauchen.

Wieviel Wahrheit steckt in dem Satz von Thomas Mann: „Es ist viel „Hitler“ in Wagner“?

Es ist ganz wichtig, dass er das Wort „Hitler“ in Anführungszeichen gesetzt hat. Das zeigt eine Art der Distanzierung. Mit „Hitler“ meint Mann nicht den verbrecherischen Mörder, oder die „Bestie“, weil er auch von Hitler als Bruder sprach. Ich glaube, er meinte, dass Wagner und Hitler eines gemeinsam hatten, nämlich dieses Monologisieren und um jeden Preis Recht-Haben-Wollen. Vielen Menschen in ihrer Umgebung ging das auf die Nerven. Ich glaube, das ist die Eigenheit, in der die beiden miteinander verwandt sind, mehr als das den Wagnerianern lieb sein kann. Thomas Mann wollte Wagner nicht mit Hitler als Verbrecher vergleichen, deswegen hat er seinen Namen in Anführungszeichen gesetzt. Dazu kommen noch die antisemitischen Ausfälle, obwohl Mann nie behauptete, dass vom „Judenthum in der Musik“ ein direkter Weg nach Auschwitz führte.

Wie sieht man das Problem heute?

Es gibt drei Einstellungen: die rechte, die linke und die mittlere. Einerseits meinen konservative Leute, dass die zahlreichen Traktate von Wagner vielleicht interessant, aber nicht wichtig seien, um ihn als Künstler zu verstehen. Sie sagen: „Wir haben seine Opern und Musikdramen, die mit dieser zum Teil finsteren Theorie nichts zu tun haben“. Die Anhänger der eher linken Seite behaupten seit den 70er Jahren, dass Wagners Theorien mit der Botschaft seiner Opern identisch sind. Wagner wollte jüdische Karikaturen auf die Bühne stellen. „Parsifal“ sei die Oper, die eigentlich den Holocaust vorhersagt, weil es im Libretto den Begriff des „reinen Bluts“ gibt, wie Hartmut Zelinsky angemerkt hat. Auch in dem Traktat geht es um die Idee des reinen Blutes. Joachim Köhler hat in seinem Buch „Wagners Hitler“ geschrieben, dass diese rassistische „Blutsideologie“, die so elementar für die Nazis war, im „Parsifal“ voll enthalten sei. Seiner Meinung nach hätte Hitler in dem Sinne Wagner richtig verstanden und deswegen seinen Plan der Reinheit der Rasse mit eigenen Mitteln durchgeführt. Dann gibt es Leute wie Jens Malte Fischer, die sagen, dass man beides aushalten müsse: die Gewalt der Musik und die Gewalt der Ideologie. Man sollte tatsächlich eine Verbindung zwischen Wagner und dem 20. Jahrhundert sehen, aber nicht eindeutig behaupten, dass er ein Vorläufer Hitlers war. Wagners Texte lassen tatsächlich viele Interpretationsmöglichkeiten offen; unterm Strich aber war er wohl ein Radikaler.

Was hältst Du davon, dass Wagner in Israel und zwar von jüdischen Musikern aufgeführt wird?

In Israel gab es in den letzten zwei, drei Jahren Versuche, Wagner aufzuführen, die Konzerte wurden aber aus politischen Gründen kurzfristig abgesagt. Ich meine, dass die Mehrheit der jüdischen Musikfreunde in Israel gerne Wagner live hören würde. Eine Minderheit verhindert das immer noch, und das sind die Holocaustgeneration und ihre Angehörigen. Ich finde, in Israel sollte man Aufklärung betreiben. Es gibt übrigens schon längst die hebräische Übersetzung von „Das Judenthum in der Musik“ und jeder kann das nachlesen. Außerdem wurde das Traktat ins Englische und Französische übersetzt. Natürlich ist die Holocaustgeneration empfindlich, weil Hitler Wagner und vor allem Bayreuth sehr geliebt hat. Aber wenn man Wagner, Hitler und den Text des Pamphlets genau betrachtet, kommt man zu dem Schluss, dass Wagner Antisemit war, aber geniale Musik komponierte, die nicht ganz identisch mit der Theorie ist. Vielleicht sollte man einen Versuch wagen, eine seiner Opern oder ein Konzert mit seiner Musik aufzuführen, um zu testen, wie das auf die Öffentlichkeit wirkt. Soweit ich weiß, gab es einmal in einem israelischen Konzert unter der Leitung von Daniel Barenboim eine Zugabe mit Wagner. Er sagte vorher, wenn jemand nicht zuhören mochte, könne man den Saal verlassen. Etliche gingen weg, die meisten blieben und es hat ihnen sehr gut gefallen. Es gibt also eine gespaltene öffentliche Meinung in Israel. Interessanterweise darf man im Radio Wagners Musik spielen, nur in öffentlichen Konzerten nicht. Aber ich glaube, eine öffentliche Aufführung von Wagners Musik wäre auch dort möglich.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Jolanta Lada-Zielke, für
klassik-begeistert.de

Ein Gedanke zu „Interview am Donnerstag 1: Frank Piontek“

  1. Vielen Dank für das Interview mit Dr. Piontek!
    Es ist erfreulich zu lesen, dass er einerseits sehr viel weiß (wohl mehr als manche(r), die sich berufen fühlt/fühlen zu urteilen) … andererseits (oder deshalb?) ein sehr abgewogenes Urteil zum Sujet seiner Untersuchungen hat. Und sich nicht scheut, z.B. zum Thema Kundry, zu sagen, dass er eben keine abschließende Meinung hat. Mehr davon!

    Prof. Karl Rathgeber

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