„Dank der Oper bin ich Dirigentin geworden."

Interview: Dirigentin Stephanie Childress im Gespräch mit Jolanta Łada-Zielke  klassik-begeistert.de, 14. Oktober 2023

Stephanie Childress, Foto: Tom Porteous

Gespräch mit der Dirigentin Stephanie Childress, die gerade ihr Debüt an der Staatsoper Hamburg mit der Leitung von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ (Wiederaufnahme von David Böschs Inszenierung) gegeben hat.

von Jolanta Łada-Zielke

Klassik-begeistert: Haben Sie seit Ihrer Kindheit davon geträumt, Dirigentin zu werden?

Stephanie Childress: Ursprünglich wollte ich keine Musikerin werden. Als junges Mädchen habe ich Geigenspielen gelernt, und es war mein ernsthaftes Hobby, aber ich dachte nicht, dass ich das mein ganzes Leben lang machen könnte. Ich stamme nicht aus einer musikalischen Familie und habe den Musikerberuf immer als sehr schwierig empfunden. Doch als ich etwa 12 oder 13 Jahre alt war, entdeckte ich meine Liebe zur Oper. Ich habe die Schule geschwänzt, um die Proben der English National Opera in London zu besuchen. Ich saß während der Proben im Zuschauerraum und das, was ich beobachtete, faszinierte mich so sehr, dass ich beschloss, nicht nur Musikerin, sondern auch Dirigentin zu werden. Die erste Oper, die ich als Kind gesehen habe, war wahrscheinlich „Die Zauberflöte“. Aber drei andere Opern halfen mir, meine Lebensentscheidung zu treffen: „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss, sowie „Billy Budd“ und „Tod in Venedig“ von Benjamin Britten.

Klassik-begeistert: Was war Ihr nächster Schritt?

Stephanie Childress: Im Alter von 15 Jahren beschloss ich, nicht mehr in die Schule zu gehen, sondern direkt an die Universität, um meinen Abschluss an einer Musikhochschule zu machen. Von meinem 16. bis 19. Lebensjahr studierte ich Musikwissenschaft am St John’s College in Cambridge. In meiner Freizeit dirigierte ich verschiedene Werke der klassischen Musik, aber die Oper war immer in meinem Kopf.

Klassik-begeistert: Konnten Sie schon während Ihres Studiums mit einem professionellen Orchester arbeiten?

Stephanie Childress: Ich habe mich bewusst für St John’s College in Cambridge entschieden, weil es dort sehr gute Musiker gibt, sowohl Lehrer als auch Studenten. Während meines Studiums habe ich hauptsächlich mit meinen Studienfreunden gearbeitet. Mit ihnen habe ich Proben organisiert, in denen wir Symphonien, Opern und Operetten einstudierten. Mit ihnen habe ich meine ersten Schritte als Dirigentin gemacht, und mit einigen von ihnen bin ich noch heute befreundet. In Cambridge gibt es auch viele Sängerinnen und Sänger, weil es dort eine große Chormusik-Tradition gibt. Viele Sängerinnen und Sänger, die am St. John’s College liturgische Musik aufführen, gehen danach in die Oper. Die erste Oper, die ich dirigierte, war „The Rape of Lucretia“ von Britten.

Klassik-begeistert: Dies ist eine schwierige Oper, sowohl inhaltlich als auch musikalisch. Am meisten beeindruckt mich die Szene, in der die Freundinnen der Titelfigur morgens aufwachen und singen „What a lovely day“, ohne zu wissen, was Lucretia in der letzten Nacht passiert ist.

Stephanie Childress: Solche Kontraste sind charakteristisch für Britten. Er versteht es, wie man eine Geschichte für die Musik strukturieren soll. Die Figur der Lucretia ist ähnlich wie Salome und Elektra. Alle diese Frauen machen unglaublich harte Erfahrungen. Es ist faszinierend zu verfolgen, wie sie dies überstehen und wie die Gesellschaft sie behandelt. Ich finde, „The Rape of Lucretia“ ist ein anspruchsvolles Stück und das Thema immer noch wichtig.

Stephanie Childress, Foto: Karolina Heller

Klassik-begeistert: Was fasziniert Sie an der Oper am meisten? Ihre Vielseitigkeit?

Stephanie Childress: Ja, die Oper ist ein „Gesamtkunstwerk“, in dem alle Kunstformen zusammenkommen. Ich mag auch symphonische Musik, die ich als Geigerin viel gespielt habe, und das tue ich auch jetzt noch. Was mir jedoch am meisten Spaß macht, ist die Zusammenarbeit mit dem Regisseur, dem Bühnenbildner, dem Kostümbildner und allen anderen an einer Opernproduktion beteiligten Personen. Ich finde es für meine Karriere wichtig, in meine Projekte eher zu viel als zu wenig involviert zu sein.

Manchmal ist der Dirigent die letzte Person, die in den Proberaum kommt. Ich hingegen möchte immer am Anfang des Projekts stehen, mit den anderen Beteiligten diskutieren und zusammenarbeiten. Außerdem fasziniert mich der Dialog zwischen Musik und Text in der Oper.

Klassik-begeistert: Welche zwischenmenschlichen Fähigkeiten sollte ein idealer Opernregisseur Ihrer Meinung nach haben?

Stephanie Childress: Kommunikationsfähigkeit! Ich möchte einen Dialog mit dem Regisseur führen, weil die Oper zwar ein Drama, aber mit der Musik verbunden ist. Ich denke, man kann die beiden nicht voneinander trennen. Und auch wenn der Text und die Musik unterschiedliche Dinge zeigen, soll man sie parallel wirken lassen. Bei der Produktion „Die Entführung aus dem Serail“ in Hamburg arbeite ich mit der Wiederaufnahmeleiterin Maike Schuster zusammen, und ich finde sie fantastisch. Wir sprechen die ganze Zeit über unsere Ideen, ob dies oder jenes in der Musik, im Text oder in der Handlung vorkommt. Das ist genau die Art und Weise, wie ich die Arbeit an der Oper liebe. Es gelingt mir nicht mit allen Regisseuren, aber in diesem Fall ist die Kommunikation ideal.

Klassik-begeistert: Wenn Sie zwischen den Opernproduktionen symphonische Musik aufführen, ist das für Sie eine Art Erholung?

Stephanie Childress: Es ist nie eine Erholung, sondern eine weitere Herausforderung! Ich denke über Oper und symphonische Musik auf dieselbe Weise. Für mich ist es immer eine Narration, sowohl die auf der Bühne als auch die, die ich in meinem Kopf kreiere. In beiden Fällen hat die Musik eine bestimmte Erzählung. Meine Aufgabe ist es, diese Narration dem Orchester und auch dem Publikum zu vermitteln.

Klassik-begeistert: Planen Sie auch Oratorien zu dirigieren?

Stephanie Childress: Ich würde gerne mehr davon machen, weil es für mich natürlich eine perfekte Synthese aus Oper und Sinfonie ist. Ich habe bereits Beethovens Neunte Symphonie dirigiert, die ich für das beste Beispiel einer solchen Kombination halte. Mein Lieblingsoratorium ist Mendelssohns „Elias“, und ich hoffe, dass ich es zukünftig in Europa dirigieren kann. Vor der Pandemie hatte ich ein Orchester in London, das verschiedene Oratorien und Requiems aufführte. Im Jahre 2019 sind wir mit Brahms’ Requiem aufgetreten.

Klassik-begeistert: In Ihrer bisherigen Karriere taucht Mozart neben Britten am häufigsten auf. Ist das ein Zufall oder ist Mozart auch Ihr Lieblingskomponist?

Stephanie Childress: Das ist so, als würden Sie eine Mutter nach ihrem Lieblingskind fragen (lacht). Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten, weil sich meine Vorlieben jeden Tag ändern. Im Moment steht Mozart bei mir ganz oben, weil ich jetzt „Die Entführung aus dem Serail“ in Hamburg und im November und Dezember „Don Giovanni“ in Glyndebourne dirigiere. Im Januar 2024 reise ich nach Amerika, um an den Stücken von Mendelssohn, Debussy und Schostakowitsch zu arbeiten. Das bedeutet, dass ich vielleicht jeden Tag einen anderen Lieblingskomponisten habe.

Klassik-begeistert: Sie haben also keine Angst davor, dass man sie in eine Mozart-Dirigentin-Schublade stecken könnte?

Stephanie Childress: Nein, ich habe keine Angst vor einem solchen Etikett, denn ich weiß, was ich will; und ich will nicht nur Mozart dirigieren. Aber wenn ich mich für den Rest meines Lebens nur mit Mozart beschäftigen müsste, wäre das nicht schlecht, weil er genial ist. Ich freue mich auf den Zeitpunkt, wenn ich sagen kann, dass ich vielleicht bereits 20 Mozart-Produktionen gemacht habe. Das wäre faszinierend. Vielleicht wird das Publikum auch an mich stereotypisch als Mozart-Dirigentin denken, es gibt jedoch andere Komponisten, deren Musik ich aufzuführen vorhabe.

Stephanie Childress, Foto: Karolina Heller

Klassik-begeistert: Sie treten nächstes Jahr auch mit dem Polnischen Nationalen Rundfunkorchester in Kattowitz (NOSPR) auf?

Stephanie Childress: Ja, das wäre mein erstes Mal im April nächsten Jahres. Wir werden ein internationales, polnisches, dänisches und tschechisches Repertoire spielen: Bohuslav Martinů, Frédéric Chopin und Carl Nielsen. Ich freue mich auf diese Zusammenarbeit und hoffe, dass sie fortgesetzt wird.

Klassik-begeistert: Welche Bedeutung hat das Hamburg-Debüt für Sie?

Stephanie Childress: Es war schon immer mein großer Traum, an einem deutschen Opernhaus zu dirigieren, und ich bin froh, dass er an der Staatsoper Hamburg wahr geworden ist. Mir gefällt es hier sehr gut und ich hoffe, dass ich wiederkommen kann. Deutschland hat eine so reiche Operngeschichte! Ich möchte möglichst viele deutschsprachige Opern dirigieren, deshalb bedeutet mir die Arbeit hier sehr viel.

Klassik-begeistert: Was sind Ihre Traumstücke, die Sie in Zukunft dirigieren möchten?

Stephanie Childress: Ich möchte gerne alle Benjamin Brittens Opern aufnehmen, auch die kleinen, wie die Kammeroper „The Turn of the Screw“ und „Paul Bunyan“. Im Bereich der symphonischen Musik würde ich gerne „Le sacre du printemps“ von Strawinsky musikalisch leiten. Wenn es um Oratorien geht, freue ich mich darauf, Mendelssohns „Elias“ zu dirigieren, weil ich jetzt schon weiß, dass ich es tun werde. Ich denke, „Elias“ ist wahrscheinlich eines meiner fünf besten Stücke aller Zeiten. Mein anderer Traum ist es, die Opern von Richard Wagner zu dirigieren.

Klassik-begeistert: Wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch!

 

Die 24-jährige Stephanie Childress ist ein aufstrebender Star unter den Dirigenten. Sie arbeitete bereits mit Ensembles wie London Symphony Orchestra, Orchestre de Paris und Berlin Konzerthausorchester zusammen. Nach dem Studium am St John’s College in Cambridge sammelte sie Erfahrungen als Assistenzdirigentin in Glyndebourne und an der English National Opera. Sie wirkte bei Produktionen der British Youth Opera, der Cambridge University Opera Society und des Royal Conservatoire of Scotland mit.

Stephanie Childress hat kürzlich zwei Spielzeiten als Assistenzdirigentin des St. Louis Symphony Orchestra abgeschlossen. In der Saison 2023-24 wird sie mit dem National Arts Centre Orchestra in Ottawa, dem Cleveland Orchestra, dem Yomiuri Nippon Symphony Orchestra, der Dresdner Philharmonie, dem Royal Scottish Symphony Orchestra und dem National Polish Radio Symphony Orchestra debütieren.

Die letzte Aufführung von „Die Entführung aus dem Serail“ unter der Leitung von Stephanie Childress  in Hamburg findet am 21. Oktober 2023 statt.

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