Louis Lohraseb © Louis Erica
Im zweiten Teil unseres Interviews blickt der Dirigent Louis Lohraseb auf Anton Bruckner. Außerdem: Wie füllt man ein Opernhaus?
Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 2
klassik-begeistert: Viele Dirigenten kombinieren in Sinfoniekonzerten gerne Mozarts letztes Klavierkonzert mit einer Sinfonie von Anton Bruckner. Besonders eindrücklich geriet das bei Bernard Haitink anlässlich seines Abschieds von den Berlinern Philharmonikern mit Bruckner 7. Warum passt das Klavierkonzert Nr. 27 so gut zu Bruckner?
Louis Lohraseb: Für mich gibt es eine inhärente Nostalgie, die das letzte Klavierkonzert durchdringt, und eine Lyrik, die auf die Romantik verweist. Es war daher eine gute Wahl für das letzte Haitink-Konzert. Mozart blickt liebevoll in die Vergangenheit und verspricht gleichzeitig eine gute Zukunft.
klassik-begeistert: Bruckner hat wenig für Klavier komponiert, ein eigenes Klavierkonzert hat er nicht hinterlassen. Was könnte der Grund gewesen sein?
Louis Lohraseb: Man könnte es sich einfach machen und betonen, dass Bruckner in erster Linie Organist und nicht Pianist war, aber wenn man weiterdenkt, kommt man schnell zu dem Punkt, dass der virtuose und darstellerische Aspekt eines Konzerts im Widerspruch zu der homogenen Welt von Bruckner zu stehen scheint. Bei Bruckner wirken alle Elemente zusammen und kreieren einen Effekt, ohne dass ein Element dabei heller leuchtet als das andere. Diese Demut ermöglicht es, dass Schönheit und Triumph noch heller erstrahlen können. Das ist ein Eckpfeiler im Œuvre Bruckners.
Zwei meiner liebsten sinfonischen Mittelsätze sind das Adagietto aus Mahler 5 und das Adagio aus Bruckner 6. Beide sind in F-Dur und beide Sätze wimmeln nur so von Liebe, Sehnsucht und Schmerz. Sie treiben mir Tränen in die Augen, aber auf so unterschiedliche Weise.
Bei Mahler gehen Leidenschaft und Sinnlichkeit Hand in Hand mit ernsthaften Liebesgefühlen. Aber man lebt nur im Moment, wenn auch auf unglaublich gefühlvolle Weise. Der Bruckner mit seiner Coda und der Wiederholung des Tredezim-Akkords, der sich schließlich in der heitersten und schönsten F-Dur-Sequenz auflöst, lässt zumindest mich daran denken, als Achtzigjähriger mit meiner Frau auf einem Balkon Händchen zu halten – einen wunderschönen Sonnenuntergang im Blick und mit Tränen in den Augen aus Dankbarkeit für ein Leben voller Liebe, das wir mit unserer Familie und untereinander geteilt haben.
klassik-begeistert: Es heißt oft, Mozart sei für Kinder zu leicht und für Erwachsene zu schwer. Teilen Sie diese Behauptung?
Louis Lohraseb: Als ich mich zum ersten Mal in Mozart verliebte, interessierte ich mich auch sehr für das Komponieren. Ich begann, viele Kompositionen zu schreiben, die den Stücken, die ich studierte, nacheifern sollten. Was rückblickend eine der besten Möglichkeiten war, mir selbst beizubringen, einen Komponisten zu verstehen. Ich blicke mit Zuneigung auf mein 11- bis 15-jähriges Ich zurück, das diese Kompositionen schamlos und unverfroren spielte und schrieb und dabei das Gefühl hatte, dass seine Verbindung zu Mozart einzigartig und unzerbrechlich sei und dass Mozart aus seinen zweihundert Jahren alten Kompositionen ausschließlich zu ihm sprach.
Als berufstätiger Erwachsener kann es schwierig sein, sich daran zu erinnern. Wenn jemand seiner Arbeit gegenüber Demut zeigt, wird es oft so sein, dass man immer mehr befürchtet, vielleicht überhaupt nichts über ein Stück zu wissen, je mehr man es studiert. So quäle ich mich oft mit der Frage, ob dies richtig ist oder doch das, ob dieser Triller so sein sollte oder ob diese Dynamik hier oder da platziert werden sollte. Die Fragen sind unendlich. Wenn das zu unerträglich wird, versuche ich, mich in meine Jugend zurückzudenken. Ich bin so glücklich und dankbar, dass Mozarts Musik mir immer noch eine Geschichte erzählt.
klassik-begeistert: Ich frage dies auch, weil die Staatsoper Hamburg selten ausverkauft ist. Ein Ansatz, junges Publikum anzulocken, ist es, Konzert und Oper als Event zu bewerben. Ich halte das für falsch. Denn wenn vermittelt wird, dass beispielsweise La Traviata ein zweistündiges Brindisi zum Mitschunkeln ist, dann werden Erwartungen enttäuscht. Puren Kunstgenuss muss man sich auch als Publikum immer noch selber erarbeiten, wenn man so will mit Disziplin. Wie aber kann man zukünftige Konzertbesucher anleiten, sich ernsthaft mit Programm und Komponisten auseinanderzusetzen?
Louis Lohraseb: Wenn ich diese Frage stelle, beginne ich immer mit der Tatsache, dass das Konzept der Sonatensatzform im 17. Jahrhundert als vereinfachte Möglichkeit entwickelt wurde, um musikalische Ideen so aufzufächern, dass sie von Menschen mit geringer (wenn überhaupt) musikalischer Bildung verstanden werden können. Und wenn man die Sonatenform in ihrer grundlegendsten Form betrachtet, ist das offensichtlich wahr: Präsentieren Sie eine Idee mit starkem Charakter, präsentieren Sie eine kontrastierende Idee, wiederholen Sie sie, um sie wieder vertraut zu machen, spielen Sie mit diesen Ideen auf ganz unterschiedliche Weise und stellen Sie sie dann als eine zusammenhängende Einheit dar. Dem kann man leichter folgen als beispielsweise der sechsstimmigen Ricercar aus Bachs Musikalischem Opfer (BWV 1079).
Dennoch finden viele Menschen heutzutage klassische Musik zu schwierig, zu pompös, zu unnahbar. Da ich nicht glauben möchte, dass wir als Individuen heute weniger gut mit Informationen umgehen können als unsere Vorfahren vor fast drei Jahrhunderten, liegt der Unterschied darin, wie wir diese Musik schon in jungen Jahren wahrnehmen und präsentieren.
Daher ist die Musikausbildung ein wesentlicher Bestandteil, um unsere Kunst anhaltend am Leben zu halten. Eine Aufnahme auflegen und einem Dreizehnjährigen sagen: „Das ist Brahms’ Dritte Symphonie. Es ist ein großartiges Musikstück, und man sollte es zu schätzen wissen“ ist vielleicht der schlechteste Weg, Kinder dazu zu bringen, sich in Brahms zu verlieben. Nur wenn Kinder ein ausgeprägtes Verständnis davon haben, wie Musik funktioniert, werden sie in die Lage versetzt, sich von wunderbaren Melodie des dritten Satzes mitreißen zu lassen.
Mein anderer Hauptgrundsatz ist der folgende: Das Publikum sehnt sich danach, etwas zu fühlen, es möchte eine emotionale Reaktion haben.
Wir als Interpreten sind nicht hier, um zu diktieren, was gedruckt wird, und wir sind auch nicht hier, um den Menschen beizubringen, wie man ein Musikstück „richtig“ präsentiert. Natürlich müssen wir unzählige Stunden daran arbeiten herauszufinden, was „richtig“ ist. Aber diese Arbeit ist nicht das Produkt; Emotion und Vermittlung sind das Ergebnis. Wir müssen danach streben, dass unser Publikum durch unsere Darbietungen ernsthaft berührt und begeistert wird, und das kann nur durch Offenheit, Verletzlichkeit und Mut erreicht werden. Die Angst vor dem Scheitern führt bestenfalls zu guten Leistungen. Die Bereitschaft, es zu versuchen und zu scheitern, ist der einzige Weg, wie Transformation stattfinden kann.
klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Jörn Schmidt, 31. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Teil 3/4 unseres großen Louis-Lohraseb-Interviews lesen Sie Samstag
(1. Juni 2024) hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at.
Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 1 klassik-begeistert.de, 30. Mai 2024
Wolfgang Amadeus Mozart: Le nozze di Figaro Staatsoper Hamburg, 17. Mai 2024