Jolanta Łada-Zielke und Dr. Frank Piontek in Bayreuth, Foto: privat
Die Polonaise, ein traditioneller polnischer Tanz, steht seit dem
5. Dezember 2023 auf der Repräsentativen Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO.
Ich habe mit der Vertreterin der Verwahrer dieses Eintrags und Direktorin des Hofballetts Cracovia Danza, Romana Agnel über die Inspiration der Polonaise in den Werken deutscher Komponisten bereits gesprochen (Interview von Jolanta Łada-Zielke mit der Direktorin Romana Agnel klassik-begeistert.de, 6. März 2024).
Richard Wagner soll man in diesem Fall ein eigenes Kapitel widmen.
Dazu habe ich Dr. Frank Piontek eingeladen, mit dem ich schon einige Wagner-Gespräche, auch auf KB, geführt habe.
Jolanta Łada-Zielke im Gespräch mit Dr. Frank Piontek
klassik-begeistert: Wagner verwendete in seiner Polonia-Ouvertüre (1836) ein Motiv aus dem polnischen patriotischen Polonaise-Lied über den 3. Mai 1791, als die polnische Regierung die erste demokratische Verfassung in Europa (nach der Verfassung der Vereinigten Staaten) verabschiedete. Hat er schon davor Polonaisen komponiert?
Dr. Frank Piontek: Ja, er hat Polonaisen vorher geschrieben, sie sind aber qualitativ nicht besonders gut. Die zwei Polonaisen, die Wagner als Student für Klavier komponierte, waren lange vergessen. Man hat sie eigentlich erst im 20. Jahrhundert ausgegraben. Die Polonia-Ouvertüre ist im Jahr 1836, also später als die zwei Stücke, entstanden.
klassik-begeistert: Sollten die damaligen Studenten der Universität Leipzig in ihrem Lehrgang Polonaisen komponieren?
Dr. Frank Piontek: Nein, er hat es völlig freiwillig, unabhängig vor dem Studienprogramm getan. Diese zwei Polonaisen – eine für zwei und eine für vier Hände – klingen sehr ähnlich, haben dieselbe Tonart (D-Dur) und dieselbe Nummer. Deshalb verwechselt man sie häufig. Die vierhändige Fassung wird mit der B-Nummer bezeichnet. Richard Wagner komponierte diese Stücke, kaum zufällig, kurz nach dem polnischen Aufstand. Sie wurden dann auch sofort gedruckt.
klassik-begeistert: Du sagst, sie sind nicht besonders anspruchsvoll?
Dr. Frank Piontek: Dies sind einfache Stücke. Aber man assoziiert Wagner nicht mit künstlerisch anspruchsvollen Polonaisen, wie sie Frédéric Chopin geschaffen hat. Wagner war ja nie ein Klaviervirtuose. Seine Polonaisen haben natürlich einen tänzerischen Charakter, man kann sie gut in einem Salon spielen und tanzen. Dafür eignen sie sich praktisch und das ist vielleicht gar nicht so schlecht.
Wenn man sie aber als rein musikalische Kunstwerke bezeichnen würde, klingen sie ganz einfach und gehen den Musikwissenschaftlern bei mehrmaligem Hören vielleicht auf die Nerven. Obwohl: Dies sind auch echte Ohrwürmer; wenn man sie zwei oder dreimal gehört hat, ist bereits die Melodie im Kopf. Der junge Wagner hat es verstanden, die Musik zu schreiben, die relativ einfach ist, aber trotzdem etwas Gewisses, nämlich so einen Ohrwurm-Effekt, in sich hat. Das finde ich interessant.
klassik-begeistert: Diese ersten Polonaisen Richard Wagners entstanden also aus seiner Faszination für Polen heraus, wie es bei der Polonia-Ouvertüre der Fall war?
Dr. Frank Piontek: Vermutlich. Wagner schreibt in „Mein Leben“ über die Polen, die nach der Niederlage des November Aufstands 1831 nach Sachsen gekommen sind und wie herzlich sie dort aufgenommen wurden. Viele sind dann nach Frankreich gegangen. Er hat in einem Augenblick der Emphase tatsächlich so eine Art Huldigungsstück, wie diese zwei sogleich gedruckten Polonaisen, für das vertriebene Polenvolk geschaffen. Richard Wagner war als ein junger Mann sehr emphatisch: noch vor der Polonia-Ouvertüre, die vier Jahre später entstanden ist.
klassik-begeistert: Dann war lange, lange nichts mit den Polonaisen im Werk Richard Wagners, bis zum „Ring des Nibelungen“. Stimmst Du Tomasz Konieczny zu, der behauptet, dass am Ende von „Das Rheingold“, wenn die Götter in Walhalla einziehen, eine Polonaise im Hintergrund zu hören ist? Er sagt, dass er als Wotan an der Stelle manchmal die Polonaise-Schritte macht.
Dr. Frank Piontek: Es ist schwierig, dies eindeutig zu sagen. Ich denke, wir hätten eher Wagner danach fragen müssen 😉 Es fällt jedoch auf, dass das ein relativ langsames Stück ist, in Des-Dur und von einem zeremoniellen, majestätischen Charakter. Das ist ironisch gemeint. Die Götter werden damit charakterisiert, dass sie in der Wirklichkeit in den Untergang laufen und sich ihrem Ende nähern. An dieser Stelle hören wir wirklich eine Art Polonaise-Rhythmus, aber in einem sehr langsamen Tempo.
Ich würde aber vorsichtig sein und keine definitive Aussage machen. Es ist auch möglich, dass der Komponist hier eher an die Pavane, einen typisch höfischen Tanz, gedacht hat. Sie war ein italienischer, in der Spätrenaissance sehr beliebter Schreittanz. Der Regisseur Götz Friedrich hat im Jahre 1984 in seiner Berliner Inszenierung des „Rheingold“ auf diese Schlussmusik eine Pavane inszeniert, was erstaunlich gut gepasst hat. Und die Pavane ist langsamer als die Polonaise. Ich weiß nicht, ob Wagner bewusst an diesen Tanz gedacht hat, weil er darüber keine Aussage machte. Ich würde mich, wenn ich gezwungen würde, nicht für eine Polonaise, sondern für eine Pavane entscheiden. Die Musik an der Stelle zeichnet aus, dass das ein langsamer Schreittanz ist.
klassik-begeistert: Diese Ironie zeigt sich auch bei Loge, der erkennt, um welchen Preis sich Wotans Traum von Walhalla erfüllt hat.
Dr. Frank Piontek: Er sagt selber: „Ihrem Ende eilen sie zu“ und damit hat er recht. Als Wagner diesen Satz formuliert hat, hat er den Text der anderen Ring-Teile schon komplett geschrieben. Er wusste also, wie „Götterdämmerung“ ausgeht. Die Prophezeiung von Loge bezieht sich auf die Götter, die jetzt glauben, dass sie gerade ins Himmelreich wandern. Die Musik kann man als ironischen Kommentar dazu sehen. Dieses Monumentale ist völlig anders als das, was die Rheintöchter gleichzeitig singen. Dies ist die wahre Musik, und der Schreittanz die „unwahre“ Musik.
klassik-begeistert: Vor einigen Jahren hast Du einen Vortrag „Die Gibichungen tanzen die Polonaise“ für die Deutsch-Polnische Gesellschaft Bayreuth gehalten. Es gibt also doch eine Polonaise im „Ring des Nibelungen“?
Dr. Frank Piontek: Ja, wenn man sich den Anfang von „Die Götterdämmerung“ anhört, erklingt in der ersten Szene tatsächlich der Rhythmus der Polonaise. Dieses Motiv wird direkt mit den Gibichungen verbunden. Sie sind nämlich genau wie die Götter am Ende des „Rheingold“ ein negativ gezeichnetes Geschlecht. Das heißt, Wagner verbindet den Rhythmus einer Polonaise, um eine miserable Herrschaftsfamilie zu zeichnen.
klassik-begeistert: Er stellt also die Polonaise in einem negativen Kontext dar?
Dr. Frank Piontek: Ich glaube, Wagner wusste an der Stelle schon, dass es ein Polonaise-Rhythmus ist, obwohl er das nie gesagt hat. Er hat sehr selten etwas Direktes über seine Musik erzählt. Man kann sagen, dass er, je älter er wurde, immer negativere Meinungen gegen die Polen entwickelt hat. Die Begeisterung für Polen, die er noch in den 1830er mit den anderen Liberalen geteilt hatte, ist zunehmend einer Kritik gegenüber diesem Volk gewichen. Man kann einige Stellen in Wagners Tagebücher heraussuchen, an denen eindeutig klar wird, dass er dieses Volk – das er eigentlich nicht kannte – nicht besonders gemocht hat.
klassik-begeistert: Der arme Wotan kann also die Polonaise nicht tanzen, weil er in „Götterdämmerung“ nicht auftritt?
Dr. Frank Piontek: Er tritt dort indirekt auf, aber es ist zu spät für ihn zu tanzen. Tanzen ist das Letzte, woran Wotan denken würde, wenn die Götter untergehen.
klassik-begeistert: Am 3. Mai 1879 schrieb Wagner das berühmte vierzeilige Gedicht an Ludwig II: „Dritter Mai, holder Mai / Dir sei mein Lob gespendet / Winters Herrschaft ist vorbei / Und Parsifal beendet“. Die Melodie der „3. Mai Polonaise“, die er in der Polonia-Ouvertüre verwendete, blieb ihm also so lange im Gedächtnis?
Dr. Frank Piontek: Ich bin nicht sicher, ob die Melodie in seinem Kopf geblieben ist. Er hat aber jahrzehntelang den Text von diesem Lied im Gedächtnis bewahrt und mit guten Gründen auf sein Verhältnis zu Ludwig II. bezogen. Der 3. Mai war ein wichtiges Datum im Leben der beiden Herrschaften. Am 3. Mai 1864 begegneten sie sich in München und dank diesem Treffen wurde der Komponist aus dem Schlamassel errettet. Ob Wagner noch damals die Musik von dem Dritten-Mai-Lied gekannt hat, das weiß man nicht. Er hat sich aber bestimmt lebenslang an den Text erinnert.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Jolanta Łada-Zielke, 11. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at