Alice Meregaglia © Jean-Marc Angelini
Belcanto, Immanuel Kant und Zen-Buddhismus – Leidenschaften einer starken Persönlichkeit
Vom Lago di Varese über den Canal Grande und die Weser an die Elbe – Die neue Zeitrechnung an der Hamburgischen Staatsoper begann fulminant mit dem neuen Intendanten und Regisseur Tobias Kratzer, der mit Schumanns „Das Paradies und die Peri“ seine erste erfolgreiche Arbeit präsentierte und mit einem neuen Führungsteam frischen Wind in das Haus am Dammtor bringt – eine weitere Schlüsselstelle des Hauses wurde neu besetzt mit der jungen italienischen Chordirektorin Alice Meregaglia.
klassik-begeistert im Interview mit der neuen Chordirektorin an der Hamburgischen Staatsoper, Teil III
von Patrik Klein
Sie ist jung und dennoch sehr erfahren, arbeitete als Chordirektorin in Bremen und Darmstadt, ist an internationale Opernhäuser und Festivals eingeladen (z.B. Bayreuther Festspiele-Jubiläum in 2026, Bregenzer Festspiele, Elbphilharmonie, Opéra national du Rhin, Opéra de Nice, Slovak National Theater in Bratislava…), ist Preisträgerin des Kurt-Hübner- Preises 2018, unterrichtet Rezitativgestaltung und Singen in Italienisch an der Hochschule Bremen und tritt nun in die breiten Fußstapfen von Eberhard Friedrich, der den Chor der Hamburgischen Staatsoper und der Bayreuther Festspiele in die Hände junger Nachfolger legte.
klassik-begeistert: Ihr Vorgänger Eberhard Friedrich hatte ja die Aufgabe, mit dem Chor ein stattliches Repertoire mit über 30 verschiedenen Produktionen pro Saison zu pflegen und aufrecht zu erhalten. Diese Vielseitigkeit des Repertoires wurde von der neuen Intendanz recht deutlich gekürzt um fast 30%, um u.a. auch die komplexen Prozesse innerhalb des Hauses zu entlasten. Ob sich das für die Qualität spürbar auswirken wird, muss sich in den kommenden Jahren erst noch zeigen.
Dennoch ist dieses verbleibende Repertoire immer noch beachtlich und muss mit den Mitgliedern des Chores gepflegt und auch weiterentwickelt werden. Dutzende Stücke auswendig in den unterschiedlichsten Sprachen vorhalten zu können, ist eine schwierige Aufgabe für alle.
Das ist doch sicherlich für Sie im Vergleich zu den Tätigkeiten in Bremen und Darmstadt eine riesige Herausforderung. Welche Ziele verfolgen Sie hier konkret? Wie machen Sie das? Wie sieht hier eine Chorprobe aus im Gegensatz zur Neuerarbeitung eines Werkes?
Alice Meregaglia: Ich kann das nur bekräftigen was Tobias Kratzer da gesagt und getan hat. Weniger Quantität und mehr Qualität ist hier das Ziel, bei dem ich mich zu Hause fühle. Ich komme ja aus einem System, dem Theater „di stagione“ in Italien und nicht aus einem Repertoirebetrieb. Aber es ist für mich immer eine Frage, wo hier die Grenzen sind. Und ich finde, wenn die Grenze zu weit weg ist und eine Routine entsteht, dann ist das eher unglücklich.
Martha Argerich, zum Beispiel, hat sich mit Schumann Klavierkonzert Nr. 1 in A Moll seit mehr als 60 Jahren befasst und diese intensiv studiert. Und dieses Klavierkonzert ist immer schöner, besser oder anders geworden. Ich finde es immer interessant, wenn wir denken, okay, das schaffe ich, das kann ich, das habe ich ja schon hundert Male gesungen. Aber wir Künstler, dadurch dass wir nicht im Kino sind, wir können nicht immer das gleiche Produkt vorstellen. Wir sind Menschen in Transformationen und ich erwarte, dass auch ein Repertoire sich transformieren kann.
Schon jetzt zum Beispiel vor jeder Repertoire-Oper habe ich vielleicht Wünsche oder Interpretationen, die sie in der Vergangenheit anders gemacht haben. Und ich möchte das natürlich umsetzen. Manchmal kommt das dann auch, aber manchmal auch weniger oder nicht. Ich vertraue im Laufe der Zeit auf die neuen Prioritäten oder die neuen Visionen so, wie man eine Pflanze einsetzt und sich die Wurzeln entwickeln.
Dadurch wird sich unser Repertoire langsam entwickeln. Das Repertoire hat natürlich nicht so viele Proben. Für Tosca zum Beispiel haben wir dreimal 20 Minuten gehabt. Das ist kurz, ja sehr kurz (lacht). Aber trotzdem, die Cantata hat jetzt ein paar Phrasierungen, mit denen ich Puccini mehr erkennen kann.
Für mich gibt es keine Routine im Repertoire. Unser Repertoire soll außergewöhnlich sein und noch stärker werden.
klassik-begeistert (steuert nachfragend ein): Das klingt auch sehr nach den Ideen des neuen Intendanten Tobias Kratzer, der ja dahin möchte, dass hier am Haus jeden Abend Premiere stattfindet. Ist das so abgesprochen? Hat er Sie nach diesen Anforderungen auch eingestellt?
Alice Meregaglia: Nein nein, keineswegs. Ich habe mich ganz normal beworben und ein Probedirigat mit anderen Kollegen im Wettstreit zusammen gemacht. Vielleicht hat Herr Kratzer es in diesem Kontext gespürt, dass ich hier ganz auf seiner Welle gleite.
Ja, und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich mit der neuen Leitung sehr wohl fühle.
Die Così fan tutte von Omer Meir Wellber ist ein Così fan tutte, die ich seit 15 Jahren in Deutschland so nie gehört habe. Die Interpretation hat mich an die Arbeit mit meinem Maestro Umberto Finazzi, von La Scala in Mailand erinnert, mit dem ich das Opernrepertoire ganz tief studiert habe. Dieser Mozart von Omer Meir Wellber ist genau das, was ich mir vorstelle.
Auch die Operndirektorin Bettina Giese hat einen sehr ähnlichen Geschmack, eine große Professionalität, eine besondere Sensibilität und eine unglaubliche Ironie. Das ist fast wie von der gleichen Familie. Wir haben das gleiche Credo und nehmen die Aufgabenstellungen von vielen verschiedenen Seiten. Wir unterstützen uns gegenseitig.
klassik-begeistert: Welches Chorwerk ist denn Ihr Lieblingsstück? Und warum?
Alice Meregaglia: Ich habe viele Chorlieblingsstücke.
Ich beschäftige mich z.B. in dieser Zeit mit dem französischen Repertoire, hier ganz besonders die vielen kleinen Chorwerke von Fauré. Zum Beispiel das Cantique de Jean Racine, diese Komposition für gemischten Chor und Klavier oder Orgel.
Eine Oper, die ich sehr besonders liebe ist Verdis Rigoletto. Also ich denke, dass Verdi, Donizetti und Rossini meine Lieblingskomponisten sind. Eigentlich alle Belcanto Opern mag ich sehr, weil dieses Repertoire, jedes Mal wenn ich diese Musik höre, mich glücklich macht. Die Musik tut mir einfach gut. Ich fühle mich von ihr berührt und sie hilft mir bei jedem Lebensschritt.
klassik-begeistert: Welche weiteren Ziele oder Pläne haben Sie für die Zukunft?
Alice Meregaglia: Lassen Sie mich doch erst einmal so richtig ankommen in Hamburg (lacht). Oder wollen Sie mich bereits jetzt kündigen (lacht verschmitzt)? Ich glaube, ich muss zuerst meine Wurzeln genau spüren, bevor ich weiter in die Zukunft schauen kann.
klassik-begeistert: Was machen Sie denn gerne in der Hansestadt Hamburg, wenn Sie mal nicht am Dirigentenpult stehen?
Alice Meregaglia: Ich bin eine Zen-Praktikantin und habe sofort ein Soto-Zen-Zentrum in Altona gefunden. Ich beschäftige mich intensiv mit dem Zen-Buddhismus vor allem in der Form der Meditation. Wenn ich nach Hause fahre, auch zu meiner Familie, gehe ich in mein Kloster in der Nähe von Parma. In Hamburgs Zentrum ist es kein Kloster, sondern ein Dojo, also ein Meditationsraum für den Zen-Buddhismus.
Das ist schon toll. Und dann, liebe ich natürlich die Kunst. Ich habe mir für die Kunsthalle Hamburg direkt ein Jahresabonnement besorgt. Und manchmal, nach der Probe, kann ich ein, zwei Stunden in die Kunsthalle gehen und studiere dort.
Mich interessiert ferner besonders das Studium der Philosophie, ich mache sogar ein Fernstudium und lese viel darüber. Als ich in Frankreich war, habe ich mich zudem noch mit der französischen Poesie befasst. Und da ich hier in Deutschland derzeit viele meiner Träume verwirklichen kann, ich sehr dankbar darüber bin, hier zu arbeiten, möchte ich natürlich sehr gerne die deutsche Kultur noch besser kennen lernen. Deutsche Philosophen gibt es ja nun reichlich und ich bemühe mich, sie zu studieren und zu verstehen. Erasmus von Rotterdam, Friedrich Nietzsche, Arthur Schopenhauer und Platon haben mich zum Beispiel sehr beschäftigt. Immanuel Kant versuche ich auf Deutsch zu lesen, aber das ist schon sehr schwer.
klassik-begeistert: Wir schweifen hier ja gerade etwas ab, aber wenn ich Nietzsche und Schopenhauer höre, kommt mir sofort Richard Wagner in den Sinn. Wie finden Sie die Musik, die Chöre bei Wagner?
Alice Meregaglia: Ja, Schopenhauer und Nietzsche sind mir in ihren Meinungen doch etwas zu hart. Ich mag Schopenhauer mehr als Nietzsche, muss ich gestehen. Ja zu Wagner, da fällt mir sofort ein Zitat aus Puccinis „La Bohème“ ein, das heißt: “ La brevità, gran pregio“ von Rodolfo gesungen, also übersetzt: „Die Kürze ist eine große Tugend„. Wir Italiener haben das in den vielen Opern geschafft, bei Wagner kann ich das eher nicht erkennen. Manchmal brauche ich sogar nach einer seiner Opern einen Physiotherapeuten für meinen Rücken (lacht). Aber nächstes Jahr werde ich sogar in Bayreuth als Assistentin des neuen Chordirektors in Erscheinung treten, worauf ich mich natürlich sehr freue.
Außerdem spiele ich Tischtennis. Ich liebe es, Tischtennis zu spielen. In Darmstadt spielte ich zuletzt auch sogar in einer Mannschaft. In Hamburg habe ich ein Tischtenniszentrum für mich in St. Pauli gefunden und werde ab Januar in einer Mannschaft spielen.
Ich lasse mich ein bisschen inspirieren von dieser schönen Hamburger Atmosphäre. Daher habe ich meine Lieblingsorte, wo man zum Brunch gehen kann. Ich liebe es, zu brunchen, am Samstag- und vor allem am Sonntagvormittag.
klassik-begeistert: Liebe Frau Meregaglia, herzlichen Dank für das Gespräch. Viel Glück und Erfolg bei Ihrer neuen Aufgabe.
Patrik Klein, 10. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Biografie Alice Meregaglia
Alice Meregaglia, geboren in Tradate, Italien, studierte Klavier am Konservatorium in Venedig, Musikwissenschaft und Korrepetition in Mailand, Orchesterdirigat in Straßburg.
Von 2012 bis 2015 war sie als Solorepetitorin an der Opéra national du Rhin tätig.
2016 ging sie ans Theater Bremen, zunächst als Chordirektorin und Vocal Coach, später auch als Studienleiterin und Kapellmeisterin.
2023/24 wechselte sie an das Staatstheater Darmstadt als Chordirektorin mit Dirigierverpflichtung.
Sie gastiert bei den Bayreuther Festspielen (im Jubiläumsjahr 2026), den Festspielen Bregenz, an der Elbphilharmonie in Hamburg, Opéra national du Rhin, Slovak National Theater in Bratislava, Opéra de Nice, Trondheim Opera, Saluzzo Opera Academy, Festival de musique sacrée de Nice, Festival Opus Opéra de Gattières, sowie dem Festival OperAffinity in Italien.
Zu den Werken, die sie dirigierte, gehören u.a. La cambiale di matrimonio, L’occasione fa il ladro, Don Giovanni, Le nozze di Figaro, Così fan tutte, La rondine, La Cenerentola, L’italiana in Algeri, L’elisir d’amore, L’étoile, Hello, Dolly! , L’impresario Dotcom von Ľubica Čekovská, Faurés Requiem, Rossinis Petite messe solennelle, und Puccinis Messa a 4 voci.
Zudem ist sie als Korrepetitorin in zahlreichen Meisterkursen tätig (u.a. Teresa Berganza, Luciana Serra, Renata Scotto, Anna Vandi, Carmela Remigio, Bernadette Manca di Nissa, Nicola Martinucci, Elisabeth Wilke, Sylvie Valayre, Jean-Philippe Lafont, Françoise Pollet).
Alice Meregaglia ist Preisträgerin des Kurt-Hübner-Preises 2018 und unterrichtet Rezitativgestaltung und Singen in Italienisch an der Hochschule Bremen.
Mit Beginn der Spielzeit 2025/2026 ist sie Chordirektorin des Chors der Hamburgischen Staatsoper.