James Ross © Ankara CSO Salonu Turkey
Der Dirigent James Ross studierte Geschichte und Musik in Oxford und arbeitete seitdem mit Orchestern in aller Welt zusammen. Sein äußerst umfangreiches Repertoire von über 1.500 Werken reicht von Barock bis Boulez und umfasst Chor- wie Orchesterwerke und Opern. Im ersten Teil unseres Interviews sprechen wir über künstlerische Kreativität, Shakespeare und sein neuestes Album mit neu entdeckter Musik von Ralph Vaughan Williams.
Johannes Karl Fischer im Gespräch mit James Ross – Teil 1
klassik-begeistert: Herr Ross, Sie haben gerade ein neues Album mit bislang weitgehend unbekannter Musik von Ralph Vaughan Williams eingespielt, einige Werke davon wurden noch nie zuvor aufgeführt. Wo liegen dabei die musikalischen Herausforderungen?
James Ross: Natürlich ist es immer eine besondere Herausforderung, völlig neue Musik einzuspielen. Man hat diese Musik noch nie aufgeführt, das braucht dann besonders viel Vorarbeit. Wenn man so ein Werk einspielt, braucht man vorher eine klare musikalische Vision, gerade als Dirigent und nochmal mehr, wenn man in einem Tonstudio unter sehr viel Zeitdruck das bestmögliche Ergebnis rausholen will. Ich hatte das Glück, dass die meisten meiner Musiker mit Vaughan Williams’ Musik schon sehr vertraut waren, also im Großen und Ganzen wussten sie schon, wie man die spielt. Trotzdem habe ich dann als Dirigent eine besondere Verantwortung, um diese Stücke in dem engen Zeitrahmen einzuspielen und trotzdem noch ein bisschen künstlerische Kreativität mit einzubringen.
klassik-begeistert: Musik wird oft als universelle Sprache bezeichnet. Wie werden die Werke von Vaughan Williams in Ländern wie Deutschland, wo seine Musik nicht so bekannt ist, aufgenommen?
James Ross: Also mit Vaughan Williams haben Sie definitiv was verpasst! Natürlich kommunizieren einige seiner Werke vielleicht etwas stärker mit dem Publikum als andere, aber ich denke, seine besten Werke werden von jedem Publikum geliebt werden, gerade, wenn sie auf einem hohen Niveau gespielt werden. Zum Beispiel sein „Dona Nobis Pacem“ gehört meiner Meinung nach zu den bedeutendsten Chorwerken des 20. Jahrhundert und ist eigentlich genauso mächtig wie Brittens weit bekannteres „War Requiem“. Auch seine sechste Sinfonie [Anm.: Komponiert 1944–47] mit all ihrem Wut gegenüber dem damaligen Weltgeschehen ist eigentlich genauso stark wie Strauss’ Metamorphosen.
Die meisten außerhalb Englands bekannten Werke von Vaughan Williams wurden aber vor dem ersten Weltkrieg komponiert. Er war tatsächlich im ersten Weltkrieg, als Krankenwagenfahrer, und sah all diese schrecklichen Dinge direkt vor seinen Augen. Seine Werke danach klingen ganz anders, eben nicht aus einer unschuldigen, glücklichen Zeit. Aber das ist bei vielen Komponisten so, da stehen in der Rezeption oft ein oder zwei sehr bekannte Werke im Vordergrund, hinter denen oft die ganze künstlerische Kreativität der Komponisten verloren geht. Zum Beispiel in Deutschland wird ja George Enescus Rumänische Rhapsodie Nr. 1 sehr oft als Zugabe oder orchestrales Showpiece gespielt. Aber wie häufig sieht man Enescus Sinfonien oder seine Oper Oedipe auf den Spielplänen? Das sind alles tiefgründige und komplexe Werke.
klassik-begeistert: Würden Sie gerne mehr seltene oder gar völlig neu entdeckte Werke auf den Spielplänen sehen?
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James Ross: Wir müssen das Repertoire immer frisch halten, immer nach neuer Musik suchen, und das bedeutet auch nicht unbedingt immer den neusten Diversity-Konzepten nachzugehen und in irgendwelchen Seitenschubladen zu graben. Es geht eigentlich um eine genuin künstlerische Sache, jede ernstzunehmende Musikerin ist auf natürliche Weise immer ein neugieriger Entdecker. Ich habe viele Werke, wie die Beethoven-Sinfonien, was-weiß-ich-wie-oft gespielt, das ist auch ganz tolle Musik und ich will die auch nicht beiseitelegen. Aber ich habe immer viel Appetit auf neue Partituren, natürlich auch moderne Werke, auch, weil ich mit jedem neuen Werk immer mehr über das Standardrepertoire lerne. Wenn ich nach einer Uraufführung zurück zu einer Beethoven-Sinfonie komme, kann ich da viel mehr rausholen.
klassik-begeistert: Die Werke von Vaughan Williams auf ihrem Album sind aber keine Strauss’schen Tondichtungen, sondern greifen eher auf die ältere Musik zurück. Gehört diese Musik zur Neo-Renaissance-Bewegung wie etwa Respighis „Antiche Danze ed Arie“ oder Strawinskys „Dumbarton Oaks-Konzert“?
James Ross: Diese Werke von Vaughan Williams nehmen durchaus Formen der Alten Musik auf, zum Beispiel die Arie. Das hat aber auch praktische Gründe, weil das ist eigentlich Schauspielmusik, teilweise auch zu Shakespeare-Stücken. Ich habe während der musikalischen Vorbereitung auch die Shakespeare-Texte studiert und daraus viel über die Musik mitgenommen. Natürlich muss die Musik für sich selbst immer an erster Stelle stehen, aber ich bin trotzdem sehr dankbar als Schüler kleinere Shakespeare-Rollen – zum Beispiel den 2. Totengräber in Hamlet – im Theater gespielt zu haben. Da konnte ich auch bei den Proben zuschauen, wie die Hauptdarsteller dieses Stück gespielt und gemacht haben. Im Studium in Oxford habe ich mich dann auch mit dem Thema „Shakespeare, Politik und Geschichte“ beschäftigt, also Shakespeare war immer irgendwie da.
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© Francis Payol
klassik-begeistert: Wie viel Shakespeare steckt in dieser Musik?
James Ross: Wie viele andere Komponisten hat Shakespeare Vaughan Williams’ musikalische Kreativität gezündet. Das war bei Verdi und Prokofjew übrigens genauso. Diese Komponisten haben zwar ganz andere Dinge mit Shakespeare gemacht als Vaughan Williams und das kann man eigentlich nicht vergleichen. Aber bei allen drei gehören die Shakespeare-inspirierten Werke immer zu ihren größten künstlerischen Errungenschaften. Vielleicht hat daran auch Shakespeare seinen Anteil…
klassik-begeistert: Wenn jemand noch nie Vaughan Williams gehört hat: Warum sollte man sich diese Musik unbedingt anhören?
James Ross: Also wenn man mal das Britische an seiner Musik wegnimmt [lacht]… seine Musik hat immer eine besondere, sehr direkte Form des emotionalen Ausdrucks, eine tiefe, lyrische Passion und Schönheit. Seine Musik ist nicht gerade religiös, Vaughan Williams hatte ein sehr kompliziertes Verhältnis zur Religion. Wenn man sich ein Werk die die Tallis-Fantasia [Anm.: „Fantasia on a Theme by Thomas Tallis“] anhört, bekommt man ein Gefühl der Zeitlosigkeit.
Andere Werke, wie zum Beispiel die sechste Sinfonie, sind einfach so voll von Wut und Gewalt, das ist nicht unbedingt schön, aber diese Musik dringt tief in unsere Seelen ein.
klassik-begeistert: Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Johannes Fischer, 14. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Den zweiten Teil des Interviews mit James Ross lesen Sie am Samstag, 15. Februar 2025, hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at .