Marie Jacquot: „Ich höre sehr gerne Pop-Musik aus den siebziger und achtziger Jahren"

Interview: klassik-begeistert im Gespräch mit Marie Jacquot – Teil 2  klassik-begeistert.de, 25. Januar 2025

Marie Jacquot © Christian Jungwirth

Marie Jacquot (*1990 in Paris) hat sich durch zahlreiche erstklassige Debüts bei hochkarätigen Orchestern, ihre konsequente musikalische Arbeit und ihre Entdeckungsfreude im gesamten Repertoire in die vorderste Reihe spannender junger Dirigentinnen und Dirigenten gespielt. Seit der Spielzeit 2023/24 ist die Französin Erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker, mit denen sie in Konzerten im Wiener Konzerthaus, im Wiener Musikverein, bei den Bregenzer Festspielen und auf Tournee zu hören ist. Mit der Spielzeit 2024/25 übernahm sie außerdem die Aufgabe der Chefdirigentin des Royal Danish Theatre Copenhagen. Ab 2026/27 wird sie Chefdirigentin des WDR Sinfonieorchesters.

Jolanta Łada-Zielke im Gespräch mit der Dirigentin Marie Jacquot – Teil 2

klassik-begeistert: Heute gibt es einen weltweiten Trend zur Entdeckung der Komponistinnen, die zu einer Zeit lebten, als dieser Bereich eine männliche Domäne war. Gab es deswegen im Programm Ihres letzten Konzerts in der Elbphilharmonie die Sinfonie e-Moll »Gaelic« von Amy Beach?

Marie Jacquot: Nein, das hat mit diesem Trend nichts zu tun. Ich mag es ganz einfach, sehr gute „Raritäten“ zu dirigieren, die nicht oft genug aufgeführt werden, meiner Meinung nach zu unrecht.

Die »Gaelic«-Sinfonie von Amy Beach gehört ohne Zweifel in den Konzertsaal. Es hatte keinen Einfluss auf meine Wahl, dass die Autorin dieses Werkes eine Frau ist. Ich bin eher dafür, die Stücke unabhängig davon zu bewerten, wer sie komponiert hat. Und wenn wir schon bei diesem Thema sind: Vor ein paar Jahren gab es eine Mode, Dirigentinnen zu entdecken, was sowohl Vorteile als auch Nachteile hatte. Was mich betrifft, bin ich froh, dass es so viele Dirigentinnen und Komponistinnen gibt.

Für mich ist jedoch nicht die Quote, sondern die Qualität wichtig, weil ich Menschen nie in eine Schublade gesteckt habe. Ich sehe einen Menschen in erster Linie als Person, nicht als Mann oder Frau.

klassik-begeistert: Manche Dirigenten fühlen sich gestört, wenn das Publikum zwischen den einzelnen Sätzen eines Werks klatscht. Andere sagen, dass es nicht schadet und dass man froh sein sollte, dass auch „weniger eingeweihte“ Besucher zu Konzerten kommen. Was halten Sie davon?

Marie Jacquot: Ich denke, die Wahrheit liegt eher in der Mitte. Nach diesem Klatschen oder Nichtklatschen kann ich zum Beispiel erkennen, was für ein Publikum ich gerade habe. Und das finde ich spannend. Wir haben die Sinfonie von Amy Beach mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zweimal – am Sonntagvormittag und am Montagabend – in der Elbphilharmonie gespielt. Beide Konzerte waren sehr gut besucht.

Während des ersten Konzerts applaudierte das Publikum zwischen den Sätzen sowohl der Sinfonie als auch des Trompetenkonzerts von Wynton Marsalis. Am Montag gab es Applaus erst nach dem Ende des ganzen Stückes. Man hat gespürt, dass am Sonntag ein mehr „touristisches“ Publikum im Saal war, und am Montag kamen eher die Musikkenner und Besitzer der Konzert-Abonnements.

Ich persönlich habe nichts gegen das Klatschen zwischen den Sätzen, weil Leute einfach äußern, was sie beim Hören eines Stücks empfinden. Diese „weniger Eingeweihten“ haben eine Gelegenheit zu lernen, dass man zwischen Sätzen nicht klatscht und warum man das nicht tun sollte.

klassik-begeistert: Und es gibt Werke, die kein klares Ende haben…

Marie Jacquot: Ja, zum Beispiel Tschaikowskys Sechste Symphonie. Wenn man sie nicht kennt, klatscht man oft nach dem Erklingen des letzten, fröhlichen Akkords des vierten Satzes in dem Glauben, dass dies der Schluss sei. Doch plötzlich kommt noch der letzte, sehr langsame Satz. Der Beifall des Publikums ist ein Ausdruck der Begeisterung und der Dankbarkeit für die Musik. Und ich freue mich immer, wenn man sich bei mir bedankt.

Marie Jacquot © Werner Kmetitsch

klassik-begeistert: Ein unangemessenes Verhalten „weniger eingeweihter“ Zuschauer stört oft die Musikkenner.

Marie Jacquot: Das kann ich verstehen. Besonders in der Elbphilharmonie verstärkt die dortige Akustik jedes Geräusch, ein Husten oder Rascheln beim Bonbon-Auspacken.

Letztes Jahr habe ich Bruckners Siebte Symphonie dirigiert. Im vierten Satz gibt es einen Höhepunkt, gefolgt von einer Generalpause, in der das gesamte Orchester still bleibt. Ich wollte diese Pause besonders ausdehnen, damit der nächste Takt eine andere Spannung bekommt. Und genau in dieser Pause, in dieser absoluten Stille, hat ein Telefon im Publikum geklingelt! Ich habe mich umgedreht und einen bösen Blick in diese Richtung geworfen. Die ganze Spannung und die emotionale Intensität, die ich davor aufgebaut habe, waren so groß, dass diese Störung in mir eine solche spontane Reaktion hervorrufen hat. Heute betrachte ich es als einen Vorfall ohne große Bedeutung, an den ich mich nicht für den Rest meines Lebens erinnern werde.

Manchmal ist das Publikum besonders aufmerksam, manchmal nicht. Das macht Konzerte interessanter, als wenn sich alle immer gleich verhalten. Sollte ich das nächste Mal Bruckners Siebte dirigieren, werde ich diese Spannung hoffentlich ungehindert aufbauen können.

klassik-begeistert: Das Leben einer Dirigentin besteht aus zahlreichen Konzerttourneen. Finden Sie Zeit zum Entspannen?

Marie Jacquot: Sagen wir es mal so: Am Anfang einer Karriere ist es sehr wichtig, so viele Orchester wie nur möglich kennen zu lernen und berufliche Erfahrungen zu sammeln. Je jünger ein Mensch ist, desto schneller und besser lernt er. Also lerne ich neue Stücke ziemlich schnell, sauge die Erfahrungen wie ein Schwamm auf und entwickle mich künstlerisch weiter.

Im Moment bin ich sehr beschäftigt, und das ist mein Glück, denn viele meiner Kolleginnen und Kollegen bekommen nicht so viele Angebote. Ich bin in der komfortablen Lage, „Nein“ zu sagen, wenn mir die Bedingungen eines Engagements nicht passen. Manche Kolleginnen trauen sich nicht zu, ein Angebot abzulehnen, weil sie befürchten, dass man ihnen dann kein weiteres Engagement anbieten würde.

Wenn ich ein paar Tage frei habe, studiere ich neue Partituren ein. Es ist nicht leicht, eine gute Balance zwischen Berufs- und Privatleben zu finden. Momentan habe ich nicht viel Zeit für private Angelegenheiten, aber meine Familie hat Verständnis dafür und unterstützt mich sehr.

Marie Jacquot © Werner Kmetitsch

klassik-begeistert: Haben Sie eine Lieblingsmusik, die Sie zur Abwechslung hören?

Marie Jacquot: Meine Lieblingsmusik ist immer die, die ich gerade einstudiere (lacht). Ich höre sehr viel unterschiedliche Musik, am liebsten aus den siebziger und achtziger Jahren, denn damals hat man sie noch akustisch gespielt und nicht, wie heute, aus dem Computer.

Ich besuche gerne Konzerte sowie Opernaufführungen, und schaue mir die Inszenierungen an. Manchmal entdecke ich bei solchen Gelegenheiten eine tolle Sängerin oder einen Sänger und biete ihr oder ihm ein gemeinsames Projekt an. Selbst wenn ich klassische Musik zum Vergnügen höre, mache ich das im Zusammenhang mit meiner Arbeit.

klassik-begeistert: Herzlichen Dank für dieses informative Gespräch und viel Erfolg weiterhin!

Jolanta Łada-Zielke, 25. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Homepage: Marie Jacquot – Conductor

Interview: klassik-begeistert im Gespräch mit Marie Jacquot – Teil 1 klassik-begeistert.de, 23. Januar 2025

Debussy und Bartók, Konzerthausorchester Berlin, Joana Mallwitz, Dirigentin Konzerthaus Berlin, 19. September 2024

Julia Hagen, Violoncello, Nil Venditti, Dirigentin, Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen Bremer Konzerthaus Die Glocke, 11. September 2024

Nil Venditti, Dirigentin, Bridges-Kammerorchester Elbphilharmonie, 26. August 2024

Holly Hyun Choe, Dirigentin, Schleswig-Holstein Festival Orchester Musik- und Kongresshalle Lübeck, 13. Juli 2024

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