„Mein Wunsch ist daher, wenn wir wieder auf haben: Kommen Sie in Strömen. Haben Sie keine Angst. Theater ist einer der sichersten Orte, an denen man überhaupt sein kann.“
Gespräch mit Anthony Bramall, Chefdirigent des Staatstheaters am Gärtnerplatz, München
von Barbara Hauter, München
Theater suchen verzweifelt nach Wegen, wie sie trotz der Corona-Beschränkungen ihre Stücke auf die Bühne bringen können. Es wird gestreamt und gemäß Hygiene-Vorgaben umarrangiert. Anthony Bramall (geboren 1957 in London als Sohn einer Wienerin und eines Engländers), seit 2017 Chef-Dirigent des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München, hat mir Einblick in seine Arbeit in diesen besonderen Zeiten gegeben.
Klassik-begeistert: Herr Bramall, wie geht es Ihnen mit der Situation im Moment?
Anthony Bramall: Unsere Situation ist eine Herausforderung. Aber es ist schön, wenn wir Sachen machen wie unseren „Hänsel und Gretel“ Live Stream am letzten Wochenende. Wir hatten ein Neuarrangement wegen der Kontaktbeschränkungen. Es kam wahnsinnig gut an. Wir hatten über 10 000 Klicks und ganz tolle Reaktionen von unserem Online-Publikum. Und auch die 50 hausinternen Zuschauer, die im Publikum sitzen durften, waren hellauf begeistert. Wenn wir sehen können, dass wir etwas künstlerisch Wertvolles machen können trotz Beschränkungen, dann ist das sehr befriedigend.
Klassik-begeistert: Welche Veränderungen haben Sie wegen Corona an „Hänsel und Gretel“ vorgenommen?
Anthony Bramall: Wegen der Distanzregeln im Orchestergraben hatten wir ein viel kleineres Orchester. Normalerweise spielen wir „Hänsel und Gretel“ mit drei Flöten, zwei Oboen, drei Klarinetten, zwei Fagotten, vier Hörnern, zwei Trompeten, drei Posaunen, einer Tuba, Pauken, Schlagzeug und dann bei den Streichern acht erste und sechs zweite Geigen, vier Bratschen, vier Celli und drei Kontrabässen. In der reduzierten Streaming-Fassung hatten wir eine Flöte, eine Oboe, zwei Klarinetten, ein Fagott, zwei Hörner, eine Trompete, eine Posaune, Pauken, Schlagzeug, Harfe und in den Streichern drei erste und drei zweite Geigen, zwei Bratschen, zwei Celli, ein Kontrabass. Also wesentlich kleiner.
Klassik-begeistert: Verändert das den Klang?
Anthony Bramall: Ja natürlich. Wenn man das Stück genau kennt, merkt man, dass Akkorde anders klingen, weil die Disposition der Instrumente anders ist. Dann hört man statt einem Akkord mit vier Hörnern einen Akkord mit zwei Hörnern, Klarinette und Fagott, aber so disponiert, dass man den Unterschied so wenig wie möglich bemerkt. An der Stelle bevor die Hexe zum ersten Mal singt, eine ganz berühmte Phrase mit Pizzicato für die Celli, da habe ich zu unseren beiden Celli die beiden Bratschen hinzugefügt, damit es nach mehr klingt. Mein Prinzip ist, einen wirklich adäquaten Klang herzustellen, und das ist uns bei diesem Stück wirklich gut gelungen.
Klassik-begeistert: Wie entsteht eine solche Neufassung?
Anthony Bramall: Grundlage war eine amerikanische Fassung von „Hänsel und Gretel“ für das reduzierte Orchester. Daran haben wir Veränderungen vorgenommen, um zu erreichen, dass der Klang näher am Original ist. Unser Glück ist, dass wir das Stück extrem gut kennen. Wir haben es schon über 500 Mal gespielt. In Amerika gehört „Hänsel und Gretel“ nicht wie bei uns zum absoluten Humus unseres Kulturlebens. Deswegen weiß ein amerikanischer Arrangeur vielleicht nicht, dass eine bestimmte Phrase zu den Heiligtümern unserer Klangerinnerungen zählt. Dann kann man nicht diese Phrase einfach von einem anderen Instrument spielen lassen, das geht nicht für ein Publikum wie wir es sind in Deutschland. Diese Stellen haben wir anders gemacht.
Klassik-begeistert: Wie ist es bei den kommenden Stücken?
Anthony Bramall: Alles muss umgearbeitet werden. Die Frage ist, wie? Wir gehen von einem ästhetischen Standpunkt aus. Zum Beispiel die letzten zwei Stücke, an denen ich gearbeitet habe – „Eugen Onegin“ und „Hänsel und Gretel“ – sind beides Stücke, die einen chorischen Streicherklang haben müssen. Vor unserer Sommerpause, nach dem ersten Lockdown, hatten wir Modulabende. Eine Stunde lang eine Operngala zum Beispiel mit Stücken aus italienischen oder französischen Opern. Diese Stücke wurden von unseren eigenen Mitarbeitern arrangiert für ein Orchester mit maximal 15 Musikern. Dabei haben wir mit Solostreichern gearbeitet. Als nächstes bringen wir die Operette „Der Vetter aus Dingsda“, dafür lehnen wir uns an Salonorchestersound an. Im März kommt die Oper „Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek. Das ist ein Stück, das große Bedeutung für das Gärtnerplatztheater hat, denn als es dort die Münchner Erstaufführung gab, haben die Nazis eine Stördemonstration organisiert. Unter anderem deswegen führen wir es auf. Es ist wegen seiner Instrumentierung aber eine Herausforderung, denn es verlangt ein sehr großes Bläserensemble. Das ist anders als bei Humperdinck oder Tschaikowsky, wo die Betonung auf den Streichern liegt. Wir werden viele Bläser und nur Solostreicher einsetzen. Das ist eine Frage des Platzes im Orchestergraben. Der Abstand zwischen den Streichern muss 1,50 Meter betragen, bei den Bläsern aber zwei Meter. In unseren Nachbarländern ist nur ein Meter Abstand gefordert.
Klassik-begeistert: Wie geht es Ihren Orchestermusikern mit den Maßnahmen?
Anthony Bramall: Es ist schwierig. Sie sagen mir immer wieder, dass sie glücklich sind, überhaupt spielen zu dürfen. Künstler definieren sich über ihre Kunst und wenn sie ihre Kunst nicht ausüben dürfen, ist es für sie ganz schlimm.
Klassik-begeistert: Wie sieht Ihr persönlicher Alltag aus?
Anthony Bramall: Die Arbeit eines Opern-Dirigenten ist wie ein Eisberg. Der Teil, den man sieht ist der kleinste Teil von dem was eigentlich passiert. Die Spitze ist der Moment des Auftritts vor Publikum. Darunter ist die ganze Probearbeit mit Orchester und Bühne. Darunter liegen die Proben nur mit Orchester und nur mit Bühne. Und davor liegen die ganzen Proben mit den Sängern. Die ganz versteckte Ebene ist das, was zuhause passiert. Das ist der größte Anteil, die Hausaufgaben, das Studium der Stücke. Man versucht zu verstehen, was der Komponist wollte. Was war seine Intention? Er benutzt nur Tinte und Papier. Wenn man Glück hat, wie mit den Komponisten ab Richard Strauss, kann man Aufnahmen hören, die der Komponist selbst dirigiert hat. Sonst hat man nur die Noten und die Aufführungstradition als Anhaltspunkt. Mein Ansatz ist, den Komponisten zu verstehen und nicht einfach zu machen, wie ich will. Ich muss es verstehen, lernen und zum Klingen bringen. Dann muss ich dem Orchester vermitteln, wie ich die Musik sehe. Und das in möglichst kurzer Zeit. Das ist die Arbeit eines Dirigenten und das ist auch in Coronazeiten so. Es ist nur im Detail anders. Wenn ich ein großes Orchester habe, würde ich die eine oder andere Phrase zum Beispiel langsamer spielen, als wenn ich nur drei Geigen habe. Die Umsetzung ist der Situation angepasst.
Im Moment proben wir für ein Konzert aus unserer Reihe „Sinfonische Lyrik“. Da beleuchten wir die Musik durch Text. Wir hatten zum Beispiel 2019 die Faust-Sinfonie von Liszt mit Texten von Goethe, Mann, Marlow, von allen möglichen Faust-Autoren, die das Thema nicht analytisch, sondern vom Geist her angehen. Das nächste Thema wird die Ballettmusik zu Don Juan von Gluck. Das ist für die Auswahl von passenden Texten ein sehr dankbares Thema, da gibt es eine reiche Palette.
Klassik-begeistert: Eventuell wird der Lockdown für die Theater bis 20. Dezember verlängert. Was macht das mit Ihnen?
Anthony Bramall: Publikum, das unsere Art der reproduktiven Kunst konsumiert, ist unsere Erfüllung. Wir brauchen das Publikum. Wir proben zum Beispiel das Timing. Wie lange macht man zum Beispiel eine Generalpause? Da können wir ohne Publikum im Moment nur vermuten, wie es darauf reagiert. Wenn kein Publikum da ist, fehlt uns die Reaktion. Das ist wie ein Witz, den man allein im Wald erzählt. Ist er dann immer noch witzig? Mein Wunsch ist daher, wenn wir wieder auf haben: Kommen Sie in Strömen. Haben Sie keine Angst. Theater ist einer der sichersten Orte, an denen man überhaupt sein kann.
Barbara Hauter, 28. November 2020, für
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