Lise Davidsen © Staatsoper Berlin
Interview mit Lise Davidsen von Kirsten Liese
Die 36-Jährige Lise Davidsen ist eine der führenden Wagnersoprane im lyrisch-dramatischen Fach.
Auf den Bayreuther Festspielen nahm die Sopranistin 2022 als Sieglinde in dem sehr umstrittenen Ring von Valentin Schwarz für sich ein, für den es in diesem Sommer noch Karten gibt, und als Elisabeth im Tannhäuser.
Die Norwegerin wurde 1987 in Stokke geboren und gastiert an so ziemlich allen großen renommierten Bühnen in Wien, London, New York, München oder Berlin. Auf dem Grünen Hügel ist sie in diesem Jahr jedoch wegen anderer beruflicher Verpflichtungen nicht dabei.
Kirsten Liese: Frau Davidsen, wann und bei welcher Gelegenheit haben Sie Ihre Stimme entdeckt?
Lise Davidsen: Ich habe mit dem Musikmachen begonnen, als ich 15 Jahre alt war. Zunächst habe ich Gitarre gespielt und sozusagen ein bisschen angefangen wie die Popsängerin Eva Cassidy, von da an hat sich alles langsam entwickelt. Und als ich auf der Oberschule war – drei Jahre, bevor ich an die Musikhochschule kam – besuchte ich zusätzlich eine spezielle Musikschule, dort begann meine Ausbildung im klassischen Gesang, die sich dann natürlich professioneller und gründlicher in der Grieg Akademie in Bergen fortsetzte. Danach habe ich an der Königlichen Opernakademie in Kopenhagen noch ein Masterstudium drauf gesattelt.
Kirsten Liese: Sie wollten als Kind aber nicht von Anfang an Sängerin werden…
Lise Davidsen: …sondern Pflegeschwester wie meine Mutter. Nicht notwendigerweise, weil sie diesen Beruf ausübte, aber weil ich damit vertraut war. Ich habe auch ein paar Jahre lang im Sommer in der Pflege gejobbt und denke, ich hätte diese Arbeit gerne gemacht. Es ist ein schöner Beruf.
Kirsten Liese: Meine Namensschwester Kirsten Flagstad war eine der berühmtesten Wagnerheroinen und die bedeutendste, die Norwegen hervorgebracht hat. War sie Ihnen ein Vorbild?
Lise Davidsen: Ich muss ehrlich bekennen, dass ich sie zu der Zeit gar nicht kannte. Daran mag man den grundlegenden Unterschied zwischen Norwegen und Deutschland erkennen: Das Interesse an klassischer Musik ist bei uns weniger ausgeprägt. In meiner Familie drehte sich alles um den Sport. In meiner Kindheit kam Kirsten Flagstad praktisch gar nicht vor. Natürlich kennen die meisten Norweger ihren Namen. Erst als ich Sängerin wurde, gewann Kirsten Flagstad als historische Persönlichkeit und Ikone meiner norwegischen Heimat an Bedeutung für mich. Die historischen Aufnahmen mit ihr klingen natürlich ganz anders als heutige, und so hören wir sie auch heute ganz anders. Aber natürlich setzte sie mit ihren grandiosen Interpretationen Maßstäbe.
Kirsten Liese: Wie kam es dann dazu, dass Sie schon in recht jungen Jahren Wagners Musik für sich und Ihre Stimme entdeckten?
Lise Davidsen: Vermutlich wäre ich in der Alten Musik hängen geblieben und hätte überwiegend Barockopern und Bach gesungen, wenn es nach mir gegangen wäre. Meine Lehrerin und die Opernakademie in Kopenhagen aber entdeckten mein Potenzial für das Wagnerfach und brachten mich dahin. Ich glaube schon, dass Stimmen zu einem bestimmten Repertoire passen und so kam es, dass ich schlussendlich dann bei Wagner gelandet bin.
Kirsten Liese: Für die meisten Wagnersänger kommt es einer Krönung gleich, in Bayreuth zu singen. Auch wenn die goldenen Jahre längst vorbei sind. Die Inszenierungen wurden im Laufe der Jahre immer miserabler. Der Unmut des Publikums hat zugenommen, es wird stärker gebuht, die Nachfrage nach den Karten hat enorm abgenommen. Der Ring von Valentin Schwarz markiert aus meiner Sicht künstlerisch den Tiefpunkt.
Lise Davidsen: Ich muss Ihnen entschieden widersprechen. Einige Regie-Ideen in diesem Ring erscheinen im ersten Jahr vielleicht ein bisschen undurchsichtig. Aber ich denke, es könnte ähnlich laufen wie beim Tannhäuser, da wurde im ersten Jahr auch viel gebuht und mittlerweile liebt ihn das Publikum. Die Produktionen entwickeln sich von Jahr zu Jahr, wir verstehen sie mehr und mehr.
Kirsten Liese: Ich sehe den Tannhäuser keineswegs positiver. Tobias Kratzer veralbert das Stück, macht eine Art Satire daraus, erfindet eine zusätzliche Kinostory, das hat kaum noch etwas mit Wagner zu tun. Und das Publikum, in dem sich immer weniger Wagner- Connoisseure finden, klatscht sich lachend auf die Schenkel. Ich wusste noch gar nicht, dass Tannhäuser eine komische Oper ist.
Lise Davidsen: Ich finde es schon wichtig, dass der Versuch unternommen wird, die Geschichte in die Gegenwart zu übersetzen. Es ist bestimmt in Wagners Sinne, dass wir seine Musik und seine Geschichten aus unserer Perspektive betrachten. Davon bin ich überzeugt.
Kirsten Liese: Was für einen Reim machen Sie sich denn darauf, dass Sieglinde in der „Interpretation“ von Herrn Schwarz schon von Anfang an schwanger ist…
Lise Davidsen: Sie wurde von ihrem Vater Wotan vergewaltigt, was sich im zweiten Akt offenbart, wenn er sich noch einmal an ihr vergeht. Sieglinde wurde traumatisiert, was sie noch gar nicht begriffen hat. Sie ist mit Hunding zusammen, aber nicht freiwillig, sondern weil Wotan sie zwingen kann, sich ihm hinzugeben. Er bestimmt ihr Zusammensein, die Ehe von ihr und Hunding, und behauptet, auf sie aufzupassen.
Und ich finde es mutig, dass Valentin Schwarz den Versuch unternimmt, gesellschaftspolitische Probleme zu beleuchten und hervorzuheben, inwiefern sich die Macht des Rings auf unsere Gesellschaft übertragen lässt – insbesondere im dritten Akt der Walküre, wo die Kosmetik ins Spiel kommt, die darauf anspielt, dass wir alle noch besser aussehen wollen.
Kirsten Liese: Mit Ihrer großen vibrierenden Stimme scheinen Sie wie prädestiniert für Partien wie Isolde, Brünnhilde, Elektra oder Turandot. Bestimmt häufen sich auch bereits entsprechende Anfragen. Aber bekanntlich kann es der Stimme schaden, sie zu früh in Angriff zu nehmen…
Lise Davidsen: Ich muss das Repertoire aufbauen wie ein Haus: Stein für Stein. Vielleicht hätte ich die Brünnhilde jetzt schon singen können, aber jede Rolle richtet sich nach dem richtigen Zeitpunkt. Das gilt natürlich für jeden, aber ich muss meinen ganz eigenen Weg finden und das braucht Zeit.
Kirsten Liese: Und wie finden Sie die richtigen Rollen zur richtigen Zeit?
Lise Davidsen: Das erscheint mir in der Tat das Schwierigste überhaupt, auch wenn ich ein gutes inneres Gefühl dafür habe. Die Pandemie hat die Situation nicht gerade vereinfacht: Was ist das richtige Timing, wann bereite ich mich auf eine Rolle vor oder sollte ich vielleicht doch besser eine andere vorziehen? Alle diese Dinge, die sich hinter den Kulissen abspielen, und von denen das Publikum nichts mitbekommt, erlebe ich als eine notwendige Herausforderung.
Kirsten Liese: Sie können es sich immerhin leisten, Angebote auszuschlagen, das Privileg kommt nicht jeder Kollegin zu…
Lise Davidsen: Nachdem ich Wettbewerbe gewonnen hatte, war ich stark gefragt und seither kann ich es mir erlauben, „Nein“ zu sagen. Dank anderer Angebote kam ich in diese privilegierte Situation, ohne darüber nachdenken zu müssen. Wenn die Engagements bescheidener ausfallen und man härter darum kämpfen muss, ist das sicherlich anders. Meine Familie hat mich immer darin bestärkt, dass ich zur Not auch etwas ganz anderes machen könnte, wenn ich mich in meinem Beruf nicht wohlfühlen sollte. Aber ich hoffe, dass ich noch lange so weitermachen kann. (lacht)
Kirsten Liese: Eine große Partie in den vergangenen Jahren, einmal nicht von Wagner, war die Leonore im Fidelio. So manche grandiose Wagnersängerinnen kamen mit der Rolle nicht so gut zurecht.
Lise Davidsen: Jemand bemerkte einmal treffend, Beethovens Musik sei kein Balsam für die Kehle. Der Fidelio ist keine so umfangeiche Partie wie Sieglinde oder Elisabeth, aber die Einstudierung erfordert genauso viel Zeit. Ich habe Nina Stemme gehört, wie sie das macht und dachte nur, wow, könnte ich die große Arie „Abscheulicher, wo eilst du hin… Komm Hoffnung lass den letzten Stern“ so abfeuern. Am Ende war ich aber zuversichtlich, da mir in den schnelleren Teilen meine barocke Koloraturtechnik zu Hilfe kam. Die Stimme muss freilich anders ausbalanciert werden als in einer Wagner- oder Strauss-Oper, das brauchte seine Zeit. Das war eine Herausforderung für mich bis zur Premiere. Aber ich war glücklich, dass ich Fidelio als Neuproduktion in London gestartet habe, wo ich nach der Premiere viel Zeit hatte, zusammen mit dem Dirigenten Antonio Pappano, der immer da war, weiter nach dieser Balance zu suchen.
Kirsten Liese: Was inspiriert Sie?
Lise Davidsen: Die Musik, ebenso die Produktionen, für die ich engagiert bin und meine Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich zusammenarbeite. Das sind die drei wichtigsten Aspekte, Teil einer Produktion mit Kollegen zu sein, mit denen man gemeinsam etwas erarbeitet und neue Rollen einstudiert.
Kirsten Liese: Was erwarten Sie sich von Dirigenten?
Lise Davidsen: Ich finde den gegenseitigen Respekt sehr wichtig. Wenn ich aus guten Gründen eine andere Vorstellung von etwas habe und dafür herablassend behandelt werde, finde ich das unangebracht, schließlich geht es um eine Zusammenarbeit. Dirigenten und Sänger sollten dieselben Vorstellungen teilen und an einem Strang ziehen. Zudem erwarte ich das von ihnen, was sie von mir erwarten: Gut vorbereitet und mit der Musik vertraut zu sein. Allerdings befand ich mich kaum jemals in einer Situation, wo das nicht der Fall gewesen wäre.
Kirsten Liese: Meine Leuchttürme unter den Operndirigenten sind Riccardo Muti, Christian Thielemann und Daniel Barenboim. Meines Wissens haben Sie noch mit keinem von ihnen gearbeitet.
Lise Davidsen: Oh ja, ich würde mit allen dreien einmal sehr gerne zusammenarbeiten. Leider hat es sich noch nicht ergeben.
Kirsten Liese: Worin sind Sie richtig gut außerhalb Ihres Berufs?
Lise Davidsen: Ich liebe Sport. Wenn ich in einer Disziplin richtig gut sein könnte – das wäre was! Bei den Leichtathletik Europameisterschaften 2022 in München haben einige norwegische Läufer Gold gewonnen. Das setzt nicht notwendigerweise ein großes Talent voraus, es hängt von den Genen ab, aber das wäre einfach irre, wenn mir das gegeben wäre. Für Handball könnte ich mich auch sehr erwärmen. Oder auch für geistreichere Dinge, ich würde beispielsweise gerne alle Sprachen beherrschen, das wäre sehr hilfreich für das Singen.
Kirsten Liese: Was verstehen Sie unter Glück?
Lise Davidsen: Glück verbindet sich für mich vor allem mit Dankbarkeit. Ich bin dankbar für meine Familie, meine Arbeit, dass ich diesen Beruf ausüben kann, womit ich meine, dass ich mein Hobby zu meinem Beruf machen konnte. Und dass ich Freunde habe, die für mich da sind, so selten ich auch zu Hause bin. Dass ich überhaupt so weit gekommen bin, ist ein Grund, dankbar zu sein. Ich spreche von Glück nicht als etwas, das sich gerade ereignet hat, denn man muss arbeiten, Beziehungen pflegen, sich um seinen Körper und seine Begabungen kümmern. Für mich umschreibt Glück also eher Dankbarkeit.
Kirsten Liese: Gibt es auch etwas, was Sie nicht oder sehr schlecht können?
Lise Davidsen: Oh, es gibt sicherlich Hunderte von Dingen, in denen ich schlecht bin, ich versuche lediglich, sie zu verbergen (lacht). Ich bin schon ziemlich weltfremd. Mit jemandem wie mir zusammenzuleben und immer zusammen zu sein, kann ganz schön vertrackt sein, weil ich so viel reise. Ich muss mich ganz auf mich und mein Tun konzentrieren und das ist für einen Partner und Freunde nicht so einfach. Ich bin also wirklich schlecht darin, ein ganz normales Leben zu führen, das mein Beruf nun mal nicht hergibt.
Kirsten Liese: Wollen Sie einmal Familie haben?
Lise Davidsen: Ich habe einen Partner und viele Neffen, so gesehen eine erweiterte große Familie. Ich weiß das zu schätzen, alles Weitere wird man sehen. Meine Karriere nahm 2015 mit einer derart rasanten Geschwindigkeit Fahrt auf, dass ich über Kinder kaum nachdenken konnte.
Kirsten Liese: Was ist typisch für Sie?
Lise Davidsen: Jemand aus London hat mich einmal als ein Country-Girl beschrieben. Zuerst habe ich das nicht verstanden, dann aber zunehmend mehr, je mehr ich in unterschiedlichen Kulturen gearbeitet habe. Ich hatte es zuerst nicht verstanden, weil ich denke, ich bin gerade heraus, sage offen meine Meinung, wenn ich nicht einverstanden bin, nicht, weil ich unbedingt gehört werden will, sondern mich einer Diskussion stelle. Aber dennoch komme ich vom Lande und bin nicht die kultivierteste Opernsängerin im Vergleich mit Kolleginnen, die von Früh auf mit der Opernwelt Richard Wagners und Bayreuths vertraut sind. Meine Familie hat erst mit mir begonnen, sich für Oper und klassische Musik zu interessieren, so gesehen falle ich ganz aus dem Rahmen. Inzwischen bin ich natürlich ein Teil der Opernwelt, das ist nun Teil meiner Identität. Bei mir verbinden sich die schönen Künste mit so profanen Dingen wie dem Ernten von Kartoffeln, also zwei gänzlich unterschiedliche Dinge.
Auf der Bühne bin ich gerne eine Heroine, privat aber eben ein ganz anderer Typ. Am liebsten ziehe ich mich zu Hause zurück, das soziale Leben ist nicht so meins, das kann mitunter ganz schön schwierig sein.
Kirsten Liese: Kennen Sie auch Angst?
Lise Davidsen: Während der Pandemie wurde mir bewusst, wie wichtig und unentbehrlich mir mein Beruf ist und wie sehr ich ihn liebe. Zugleich liebe ich meine Familie. Es fühlt sich seltsam an, die meiste Zeit ohne sie zu verbringen. Ich habe Angst, dass ich zu häufig abwesend und deshalb für meine Familie und Freunde zu wenig da bin. Dieser Gedanke beunruhigt mich sehr, dass ich nicht als Freund oder Familienmitglied wahrgenommen werde. Natürlich gehöre ich zur Familie dazu, aber ich wäre gerne diejenige, die im Notfall angerufen wird, ganz gleich ob ich gerade in New York oder Norwegen weile.
Kirsten Liese: An welche Debüts oder Aufführungen denken Sie besonders gerne zurück?
Lise Davidsen: Die Zeit in Bayreuth war toll, wo ich 2019 als Elisabeth mein Debüt gab, und im selben Jahr folgte mein Debüt an der Met mit der Lisa in Pique Dame. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich dachte, meine Güte, jetzt singst du an der Met, das fühlte sich surreal an, es kamen so viele Leute und ich hatte so hart dafür gearbeitet. Bei meinem Debüt an der Mailänder Scala war es ganz ähnlich, es war ein Konzert, nachdem das Haus nach den Lockdowns wiedereröffnet hatte, das Publikum saß in den Logen, man befand sich auf Distanz, aber die große Dankbarkeit, sich an diesem Ort wieder begegnen zu dürfen, war spürbar.
Unvergessen bleibt mir natürlich auch mein Debüt in München als eine der Walküren, wie wir da standen in unseren Roben und als dann Anja Kampe und Petra Lang hereinkamen, fühlte ich mich wie ein neugeborenes Baby.
Meine wichtigsten Stationen waren aber letztlich Bayreuth und die Met, weil die Deüts auch länger vorausgeplant waren. So stieg die Spannung noch mehr als ich es erwartet hatte.
Kirsten Liese: Frau Davidsen, vielen Dank für das Gespräch.
CD Rezension: Lise Davidsen, Leif Ove Andsnes, Edvard Grieg, klassik-begeistert.de