Vasily Petrenko © tarlova.com
Im Rahmen der Münchner Opernfestspiele ist Vasily Petrenko mit Boris Godunov an die Bayerische Staatsoper zurückgekehrt. Im Interview mit Willi Patzelt erörtert der Chef des Royal Philharmonic Orchestra, des Jugendorchesters der Europäischen Union und Ehrendirigent des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra die Aktualität von Modest Mussorgskys russischer Nationaloper. Die Fragen nach Rolle von Macht und Volk stellen sich im heutigen Russland mehr denn je. Vasily Petrenko, halb russischer und halb ukrainischer Herkunft (seine Familie mütterlicherseits stammt aus einem Dorf unweit von Butscha), spricht über Macht, über Hoffnung und die Rolle von Kultur – gerade in Zeiten wie diesen.
von Willi Patzelt
klassik-begeistert: Sie sind zurück an der Bayerischen Staatsoper – erneut mit Modest Mussorgskys Boris Godunov. Ganz allgemein: Was ist Ihre persönliche Beziehung zu diesem Werk, was bedeutet der „Boris“ für Sie?
Petrenko: Nun, ich habe den Boris zum ersten Mal vor vielen, vielen Jahren als kleiner Junge im Chor der Oper von Kiew gesungen. Seitdem hat er mich die ganze Zeit über begleitet – vor allem deshalb, weil er eine der wenigen Choropern ist. Der Chor ist also die wichtigste treibende Kraft in dieser Oper. Und er, als Volk, führt tatsächlich zu Veränderungen oder wird zu Veränderungen getrieben.
klassik-begeistert: Ich habe Boris Godunov das erste Mal als kleiner Junge in Moskau im Bolschoi-Theater gehört. Und ich erinnere mich, dass ich mir dachte: „Das klingt ja so russisch“. Woher kommt das, was macht diese Musik so russisch?
Petrenko: Ja, Mussorgsky hatte ein sehr tiefes Verständnis der russischen Seele. Etliche der Melodien basieren auf Volksweisen. Ferner gibt es eine Menge Glocken – nicht nur Glocken als Instrument, sondern auch Glocken in der Orchestrierung. Es sind also diese typisch russisch anmutenden Momente. Aber dennoch: Mussorgsky war auch unglaublich modern und in vielerlei Hinsicht seiner Zeit eindeutig voraus – seine Harmonik beispielsweise. Ich glaube, damals hatte selbst Richard Wagner diese fortgeschrittene harmonische Sprache nur im Tristan oder in den späteren Opern.
Alles in allem denke ich somit, Mussorgsky war der talentierteste der Komponisten des „mächtigen Häufleins“. Aber leider hatte er eine Menge schlechter Angewohnheiten. Und wegen dieser schlechten Angewohnheiten hat er kein sehr großes musikalisches Erbe hinterlassen.
klassik-begeistert: Was ist für Sie der wesentliche inhaltliche Aspekt dieser Oper?
Petrenko: Bei Boris geht es um diese Beziehung zwischen dem Volk und Herrscher – völlig egal, wer auch immer das ist, Zar oder Präsident oder Premierminister. Zwischen ihnen stehen Intrigen im Parlament, ja die ewigen Intriganten und Bürokraten, die immer in ihrer Position sein werden – ruhig und glücklich. Und nicht zuletzt geht es auch um die Beileidsbekundungen für Erbsünden, also jene Sünden, die Boris hat oder nicht hat, oder die ihm gegeben wurden. Sie führen unweigerlich zu seinem Tod.
klassik-begeistert: Nun ist der historische Boris bereits über ein halbes Jahrtausend tot. Hat sich dieses dargestellte Verhältnis von Herrscher und Volk – auf dessen hervorgehobene Rolle in diesem Werk, dargestellt durch große Chorszenen, Sie ja abgestellt haben – in Ihren Augen verändert?
Petrenko: Ich denke, was sich leider nicht geändert hat, ist dieses Verständnis von persönlicher Verantwortung. In dieser Oper gibt es irgendwo oben einen Zaren und irgendwo unten ein Volk. Und selbst im Volk äußern sie ihre Wünsche, sie drücken sie aus. Sie leiden zum Beispiel unter einer Hungersnot und bitten: „Gebt uns Brot, gebt uns zu Essen.“ Von ihm erwarten sie das letzte und einzige Wort. Die Bojaren werden von diesen Leuten als ein überflüssiges Führungsgremium gesehen. Die letzte Entscheidung wird also von einem Mann getroffen. Und dieser Mann ist dann noch von Gott erwählt. Und wir sind mit allem einverstanden, was er sagt. Also übernehmen wir keine Verantwortung für Entscheidungen.
Ich denke, in einer besseren Gesellschaft müssen die Bürger selbst die Verantwortung für Entscheidungen übernehmen; für Wahlen, dafür, dass sie pünktlich sind, dafür, dass sie die Dinge sagen, dafür, dass sie die Dinge tun. Vor allem das hat sich vielfach nicht geändert. Und jetzt kann man nicht einmal mehr seine Entscheidungen auf Russisch treffen, wenn sie der offiziellen Doktrin zuwiderlaufen.
klassik-begeistert: Sie haben ja auch Ihren Posten als Leiter des Staatlichen Moskauer Symphonieorchesters „Jewgeni Swetlanow“ niederlegen müssen…
Petrenko: Nein! Ich habe ihn nicht niederlegen müssen, ich habe ihn freiwillig niedergelegt. Wissen Sie, gerade als Künstler müssen sie maximal ehrlich sein. Ich müsste insofern im heutigen Russland entweder unehrlich sein, oder, wenn ich ehrlich wäre, würde ich vermutlich in Russland im Gefängnis sitzen.
klassik-begeistert: Thesen zur Wiederholung von Geschichte sind immer schwierig. Aber meinen Sie, dass der Inhalt von Boris Godunow einen sinnvollen Vergleich mit der heutigen Zeit zulässt? Boris Godunow kommt an die Macht aus einem Machtvakuum nach der Herrschaft von Iwan dem Schrecklichen. Was ergeben sich daraus für Implikationen für heute?
Petrenko: Ja. Ich glaube, es ist gleichsam eine ewige Geschichte: Die Rurikiden sind dann umbenannt in Romanow – das ist es doch, was eine Familie, eine Dynastie zu einer anderen Dynastie macht.
Aber ich denke, die Parallelen liegen vor allem im Volk: nämlich genau darin, dass die Menschen sich ihrer Verantwortung erst sehr spät bewusst werden. Historisch gesehen gab es immer erst dann Proteste, wenn das Volk nichts mehr zu essen hatte. Davor ist alles in Ordnung. Sobald sie etwas zu essen haben, sind sie oftmals eigentlich recht glücklich. Und selbst wenn sie nicht glücklich sind, denken sie, dass ja es noch schlimmer sein könnte. Nur im Moment des Aussterbens protestieren sie. Ansonsten bevorzugen sie eine gewisse Stabilität.
klassik-begeistert: Dem Volk gegenüber steht der Herrscher. Und Macht kann ja bekanntlich ganz besoffen machen. Kennen Sie dieses Gefühl auch vom Dirigieren, beispielsweise aus den großen Chorszenen im Boris? Da muss man doch manchmal das Gefühl haben, die ganze Welt zu regieren.
Petrenko: Nun ja, als Dirigent muss man emotional, manchmal sehr emotional sein. Aber zum Beispiel in der Krönungszeremonie, in der alle gefühlsmäßig gleichsam durchbrennen, muss man immer noch einen Teil von sich haben, der immer die Kontrolle hat. Andernfalls wird die Aufführung scheitern, weil der Dirigent buchstäblich ins Nirwana kommt. (lacht)
klassik-begeistert: Gibt es dann womöglich genau hier eine Parallele zwischen politischen Herrschern und Dirigenten, und Volk und Orchester?
Petrenko: Ja. Musik und die Kultur – das sind Dinge, die wir alle gemeinsam tun. Wenn Sie ein Orchester nehmen, irgendein Orchester, vielleicht abgesehen von sehr wenigen, ist es ein Modell dafür, wie Europa zum Beispiel leben muss. Menschen verschiedener Nationalitäten und mit verschiedenen Instrumenten. Sie alle arbeiten und leben zusammen, um etwas Schönes zu schaffen. Und es sollte nicht so sein, dass beispielsweise der Bratscher den Zimbelspieler hasst. Und dann gibt es in der Oper natürlich auch die Bühnenarbeiter oder die Beleuchter. Es sind so viele Leute an der Aufführung beteiligt. Und deshalb ist es ein Gefühl, dass wir nur gemeinsam etwas erreichen können. Die Rolle des Dirigenten ist es, ihnen zu helfen, ihre beste Qualität zu entfalten – und nicht, zu diktieren. Diktatur ist einschränkend, weil Diktatur unweigerlich zu Angst und Hass führt. Wenn man aber den Menschen hilft, führt das zu Respekt. Respekt und Selbstverbesserung haben für mich viel mehr Perspektive als Hass und Angst.
Und hier gilt das eben auch ähnlich für politische Herrscher: Jeder Herrscher muss Entscheidungen treffen. Einige von ihnen können unpopulär sein, und es wird immer Menschen geben, die unzufrieden sind. Zwangsläufig wird man es nie allen recht machen können, aber es gibt immer noch einen moralischen Teil in einem, der seine Entscheidungen kontrollieren sollte.
klassik-begeistert: Die Akteure im Boris sind nicht unbedingt die nettesten …
Petrenko: Nein, wirklich nicht. (lacht)
klassik-begeistert: Gibt es dennoch Personen, die Ihnen Hoffnung machen – vor allem im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit Macht?
Petrenko: Nun, da gibt es schon einige. Aber das Seltsame ist doch, dass es – besonders in dieser Fassung, die wir spielen – mit dem Tod von Boris endet. Aber davor gibt es diesen Chor, ganz am Ende, der fast a cappella ist, nur mit einigen Glocken. Es ist ein geistlicher Gesang, in dem es letztlich um Glaube und Erlösung geht. Und dieser Glaube und die Erlösung sind auch wichtige Aspekte dieses Stücks. Es ist nicht nur düster und blutrünstig. Es gibt auch eine spirituelle Kraft, an die Mussorgsky wohl auch geglaubt haben muss. Auch wenn die Menschen leiden – und in einer anderen Fassung gibt es ja sogar diese revolutionäre Kromy-Szene – gibt es immer noch einen menschlichen Teil in ihnen, der immer da ist. Und dieser religiöse Teil, der Glaube, der da ist: Das ist das Christentum.
klassik-begeistert: Macht Ihnen das Hoffnung für das heutige Russland?
Petrenko: Nun, sagen wir, ich bin ein Optimist. Ich denke, es gibt immer Hoffnung. Wer weiß, wann und wie und wie lange die derzeitige Konfliktsituation andauern wird. Ich glaube, ehrlich gesagt, dass selbst ein schlechter Frieden besser ist als ein guter Krieg. Es muss zuerst der Beschuss gestoppt werden. Ich denke, ein Teil der Probleme heutzutage, nicht nur in Russland und in der Ukraine, sondern weltweit, ist, dass das Leben überall in Geld bewertet wird. Menschen zahlen Geld für Krieg und Söldner. Doch das Leben ist unbezahlbar.
klassik-begeistert: Welche Rolle spielt denn dann die Kultur in einer Welt, die an ein Leben ein Preisschild hängt?
Petrenko: Besonders erinnert mich die aktuelle Zeit immer an Winston Churchill. Ihm wurde 1940-1941 der Haushalt für das nächste Jahr vorgelegt, nachdem der Krieg bereits begonnen hatte. Und in diesem Haushaltsentwurf wurde die Kultur fast auf null gekürzt. Und er sagte: „Wenn es keine Kultur gibt, was haben wir dann zu verteidigen?“ Und er änderte den Haushaltsentwurf. Der Krieg wird irgendwann zu Ende sein. Wenn der Krieg nicht vorbei ist, dann sind wir alle von diesem Planeten verschwunden.
Und was wird danach passieren? Weder Ukrainer noch Russen werden zum Mars oder zum Mond reisen können, um dort zu leben. Sie werden zwangsläufig immer noch Seite an Seite leben, so wie es in den letzten Jahrhunderten war. Die Kultur kann eines der wenigen Instrumente sein, die den unvermeidlichen Hass überwinden können. Und das ist unglaublich wichtig, denn im Hass kann man nicht leben.
klassik-begeistert: Und es ist auch gerade der Boris, der uns zeigt, dass es in solchen Konflikten immer auch das Schicksal des Einzelnen gibt. Ist es schwierig, als Dirigent beides – Persönliches und Politisches – von der musikalischen Dramaturgie unter einen Hut zu bringen?
Petrenko: Ja, Boris hat natürlich ein dramatisches Leben – zum Beispiel in seiner Familie oder mit seinen persönlichen Gedanken über sein Volk. Er lebt von Anfang an in dieser Spannung zwischen dem, was die Leute wollen und dem, was sie bekommen. Aber ich denke, es ist, wie in vielen Opern, eine Beziehung zwischen dem persönlichen Schicksal des Haupthelden und den umgebenden Ereignissen, die in einem großen Kontrast stehen dürfen. Das ist es, was ein Stück wie dieses zu einem großen Stück macht.
klassik-begeistert: Bleibt uns, abschließend gefragt, die Kultur somit in eigentlich ganz furchtbaren Zeiten gleichsam als letzte Bastion…
Petrenko: Nein, ich würde nicht sagen, dass es die letzte Bastion gegen irgendetwas ist. Kultur hat eine ungemein wichtige Bedeutung für unser Leben. Wir müssen sie aber definieren: Was sind europäische Werte? Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage, aber ich glaube, dass diese Frage letztendlich die Zukunft der europäischen Kultur bestimmen wird.
Wir danken herzlich für das Gespräch!
Das Interview führte Willi Patzelt
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at, 11. Juli 2023