Elena Denisova Foto: privat
Die in Wien lebende russisch-österreichische Geigerin Elena Denisova hat im vergangenen Jahr eine vielbeachtete Aufnahme der sechs Sonaten für Violine Solo von Eugène Ysaÿe vorgelegt. Ich habe mit ihr über Herausforderungen, Hindernisse, Aufgaben und Johann Sebastian Bach gesprochen.
Dr. Rudolf Frühwirth im Gespräch mit Elena Denisova
Eugène Ysaÿe (1858 – 1931), belgischer Komponist und Violinist
Sechs Sonaten für Violine Solo, op. 27.
TYXart “Classics” TXA22171.
Nr. 1 in g-Moll, gewidmet Joseph Szigeti, Leopold Museum
Nr. 2 in a-Moll, “Obsession”, gewidmet Jacques Thibault, Krypta von St. Peter
Nr. 3 in in d-Moll, “Ballade”, gewidmet George Enescu, Bösendorfer Salon
Nr. 4 in e-Moll, gewidmet Fritz Kreisler, Arnold Schönberg Center
Nr. 5 in G-Dur, gewidmet Mathieu Crickboom, Austro-American Institute
Nr. 6 in E-Dur, gewidmet Manuel Quiroga Losada, Richters Geigenbau
Elena Denisova, Violine
klassik-begeistert: Liebe Elena, was hat Dich bewogen, die sechs Solosonaten von Ysaÿe aufzunehmen?
Elena Denisova: Zum einen wollte ich mich nach den Einschränkungen durch Covid “austoben”. Zum anderen waren die Sonaten fester Bestandteil meines Studiums am Moskauer Konservatorium, neben Bach, Mozart und Paganini.
klassik-begeistert: Welches sind die größten Schwierigkeiten, auf die die Solistin dabei trifft?
Elena Denisova: Die Worte Schwierigkeiten oder Probleme mag ich nicht. Ich sehe eine Aufgabe, die gelöst werden muss. Da Ysaÿe selbst Geiger war, ist alles spielbar. Bei manchen Komponisten, die selbst nicht Geiger waren, frage ich mich allerdings, warum sie gerade für die Geige geschrieben haben. Bei Ysaÿe stellt sich die Frage nicht. Der Beginn ist die Beherrschung des Textes, das heißt die Griffe und die Kontrolle des Bogens müssen perfekt sein. Freilich sind dazu oft viele Versuche notwendig, da Ysaÿe nicht alles exakt notiert hat. Dann können die Fragen der Interpretation gelöst werden.
klassik-begeistert: Was waren für Dich echte Herausforderungen?
Elena Denisova: Ich spiele vieles, was in diesem Jahrhundert für mich geschrieben wurde. Die “Zehn Caprices über die Zerstörung eines Tempels” von Mikhail Kollontai sind tatsächlich eine Herausforderung. Da muss ich oft überlegen, auf welcher Saite spiele ich was? Ich erlaube mir auch Abweichungen von den notierten Anweisungen, nicht weil es einfacher oder sicherer spielbar ist, sondern im Sinn der Musik. Etwa um größere Linien oder klarere Polyphonie zu erreichen.
Ein anderes Beispiel ist die Fantasie von Schönberg (op. 47). An einer Stelle (Takt 25/26) sind in sehr raschem Tempo (80 Viertel pro Minute) Doppelgriffe notiert, von denen einer als Flageolett zu spielen ist, und das geht einfach nicht. Schließlich habe ich nur vier Finger zum Greifen. Auch große Interpreten spielen da irgendwas, und auch das nicht im vorgeschriebenen Tempo – ich denke da an eine Aufnahme von Menuhin, trotz großartiger Begleitung durch Glenn Gould. An acht Takten dieser Fantasie habe ich acht Monate geübt. Bei Ysaÿe gibt es so etwas nicht.
klassik-begeistert: Ist das Studium von Bachs Sonaten und Partiten einen gute Vorbereitung für die Sonaten von Ysaÿe?
Elena Denisova: Ich will Bach nicht als Vorbereitung abwerten – für mich ist er der größte aller Komponisten. Auf jeden Fall sollte man zuerst die Partiten, dann die Sonaten studieren. Die Werke für Solovioline von Max Reger sind sicher wichtig, ebenso die Fantasien von Telemann. Auch die Solosonaten von Iwan Chandoschkin (1747-1804) habe ich im Lauf meines Studiums gespielt.
klassik-begeistert: Die sechs Sonaten sind stilistisch recht unterschiedlich. Kann man das damit erklären, dass sie sechs großen Geigern gewidmet sind, die ihrerseits unterschiedliche Spielweisen pflegten?
Elena Denisova: Da ist sicher etwas dran. Die Basis ist für alle natürlich Bach, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Agilität. Auch ist Ysaÿe in der Besessenheit mit dem Instrument noch weiter gegangen als Bach. Die Widmungsträger der ersten beiden Sonaten, Szigeti und Thibault, haben wie Ysaÿe einen Platz im Olymp. Enescu und Kreisler sind bis heute jedem Musikfreund bekannt. Die letzten beiden, Mathieu Crickboom und Manuel Quiroga Losada, sind heute nur mehr Spezialisten geläufig.
klassik-begeistert: Gibt es noch eine Aufnahme der Sonaten von Ysaÿe selbst gespielt?
Elena Denisova: Mir ist keine bekannt. Und wenn es eine gäbe, bin ich nicht sicher, ob ich sie hören wollte. Wenn er sie besser spielte als ich, wäre ich verzweifelt; wenn nicht, wäre eines meiner Idole vom Sockel gestürzt. Ich bin überhaupt keine große Zuhörerin – ich muss gestehen, dass ich einmal im Konzert bei Kissin eingeschlafen bin, und das noch dazu bei Schubert…
klassik-begeistert: Wenn man die Widmungsträger nicht wüsste, könnte man sie erraten?
Elena Denisova: Nicht wirklich. Kreisler kann man vielleicht erahnen, eventuell auch Thibault anhand der zweiten Sonate mit den Zitaten aus der E-Dur Partita von Bach. Die fünfte und die sechste Sonate sind im Konzert die undankbarsten. Die fünfte ist sehr delikat und klingt am ehesten nach Debussy. Die sechste ist formal wie harmonisch sehr frei gestaltet und verlangt schnelle Wechsel der Stricharten. Sie könnte eher als Fantasie denn als Sonate bezeichnet werden.
klassik-begeistert: Hast Du ein Lieblingsstück unter den sechsen?
Elena Denisova: Nein, ich habe nur einen Lieblingskomponisten: Johann Sebastian Bach. Und zwar mit allen seinen Werken, von den Kantaten bis zum Zitat des Chorals “Es ist genug” (aus BWV 60) in Bergs Violinkonzert. Ich habe übrigens vergessen zu erwähnen, dass im Studium am Moskauer Konservatorium auch die Violinkonzerte von Tschaikowski, Brahms und Beethoven obligat waren, und zwar in dieser Reihenfolge! Nur ein Genie könnte mit siebzehn Jahren Beethoven tatsächlich erfassen, und ich habe noch keines getroffen.
klassik-begeistert: Das Konzert von Mendelssohn steht nicht in dieser Reihe?
Elena Denisova: Nein, Mendelssohn ist wie Wienawski und Spohr Schulrepertoire. Gerade das Konzert von Mendelssohn ist technisch ziemlich einfach – es ist für mich allerdings ein Geheimnis, zu welcher Wirkung Heifetz, und nur er, es bringen konnte.
klassik-begeistert: Du hast die Aufnahmen an sechs verschiedenen Orten in Wien gemacht. Wie hat sich das ergeben?
Elena Denisova: Ich wollte mich wie gesagt einfach austoben. Und da die Sonaten stilistisch recht verschieden sind, erfordern sie auch keine einheitliche Akustik. Eine CD zu hören ist schließlich etwas anderes als ein Konzertbesuch – von der CD kann ich mir ein Stück aussuchen, das mir besonders gefällt oder eines weglassen, mit dem ich weniger anfangen kann. Im Konzert kann ich nur aufstehen und gehen, was ich natürlich niemals tun würde, oder einschlafen, was mir wie schon erwähnt wirklich passiert ist.
klassik-begeistert: In Wiener Konzertsälen sind die Sonaten von Ysaÿe nicht allzu oft zu hören. Woran kann das liegen?
Elena Denisova: Einerseits an einer gewissen Trägheit der Interpreten, andererseits an den strikten Vorgaben der Veranstalter, die das Risiko scheuen. Für mich wäre ein guter Kompromiss, Ysaÿe mit Bach zu kombinieren, etwa so: Bachs Sonate I in g-Moll, dann Nr. 1 von Ysaÿe, Bachs Partita III in E-Dur, dann Nr. 4 von Ysaÿe, Bachs Partita I in h-moll, dann Nr. 4 von Ysaÿe.
Als Zugabe würde ich Kreislers op. 6 spielen, Rezitativ und Scherzo für Violine solo. Wenn jetzt die Veranstalter sich bei Dir melden und fragen, ob sie meine Telefonnummer haben können, gib sie ihnen bitte – aber vergiss nicht, Prozente zu verlangen (lacht)!
klassik-begeistert: Apropos Zugabe: ich habe mich schon öfter gefragt, ob man nach einem Werk wie Bachs Chaconne überhaupt eine Zugabe spielen kann.
Elena Denisova: Nein, außer noch einmal die Chaconne…
klassik-begeistert: …wenn man die Kraft dazu hat…
Elena Denisova: Die hätte ich schon. Vor der Zugabe ist ja aller Druck weggefallen.
klassik-begeistert: Eine letzte Frage: Welchen Rat würdest Du jungen Geigerinnen und Geigern geben, die Ysaÿes Sonaten studieren und aufführen wollen?
Elena Denisova: Wenn sie wirklich jung sind, also vielleicht siebzehn bis achtzehn Jahre alt, ist mein Rat: Finger weg! Bis achtzehn kann und muss man vor allem die Geläufigkeit trainieren, nach achtzehn wird man kaum mehr schneller. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt. Und erst dann sollte man sich an die schwierigsten Werke wagen, die eine komplette Geigerin beherrschen muss.
klassik-begeistert: Liebe Elena, ich danke herzlich für das Gespräch!
Dr. Rudi Frühwirth, 28. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Anmerkung: Die höchst hörens- und auch sehenswerte Videoaufnahme der ersten Sonate im Wiener Leopold Museum ist auf YouTube verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=LsZU5224RYQ
Liv Migdal, Violine und Mario Häring, Klavier Sendesaal Bremen, 23. April 2024