Foto: A. Kursanov, C. Daniels © W. Hösl
An diesem Abend wird im Cuvilliés-Theater die zweite Premiere des Ja, Mai Festivals der Bayerischen Staatsoper Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens Zur Aufführung gebracht. Der Abend ist eine Fusion von Claudio Monteverdis Oper Il ritorno d’Ulisse in patria und dem Schauspiel Das Jahr des magischen Denkens, welches auf den Memoiren der Autorin Joan Didions basiert.
IL RITORNO / DAS JAHR DES MAGISCHEN DENKENS
Oper von Claudio Monteverdi (1640).
Schauspiel von Joan Didion basierend auf ihren Memoiren (2005).
Cuvilliés-Theater, München, 7. Mai 2023
von Frank Heublein
Ich finde kein passendes Wort, das beschreibt, was diese Mischung aus Oper und Schauspiel auf der Bühne darstellt. Das Verbindende der beiden Geschichten ist das verzweifelte Aufhalten-Wollen von Veränderung. Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir die andauernde Veränderung hervorragend ignorieren können. Das Gehirn klammert sich ans Gewohnte, Ungewohntes zu verarbeiten kostet viel zu viel Energie. Wenn es passiert, kann es umso mehr schmerzen. Das ist an diesem Abend bei mir nicht so. Viel Ungewohntes, dass ich bereitwillig aufsauge, mit offenen Augen und Ohren umfange.
Der Abend beginnt mit einem Ausschnitt, dem Beginn von „Das Jahr des magischen Denkens“ von Joan Didion basierend auf ihre Memoiren. Dem Moment, in dem der Ehepartner Joan Didions plötzlich am Abendbrottisch an einem Herzinfarkt stirbt. Die Person Joan Didions ist getrippelt. Ich frage mich nicht, warum das so ist. Es fühlt sich für mich vollkommen natürlich an in diesem Augenblick. Sibylle Canonica, Wiebke Mollenhauer und Damian Rebgetz sind drei fabelhafte großartig bühnenpräsente Joan Didions.
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Sie geben sich das laut ausformulierte Denken wie die Klinke in die Hand. Die innere Unwirklichkeit des Moments. Die Vernebelung der Tatsache. Die Wahrnehmung und das gleichzeitige Negieren von „Mein Mann ist tot“. Joan Didions Mann spielt als stumme Rolle Charles Daniels, der Ulisse aus Il ritorno. Der bericht Joan Didions zieht mich hinein ihre Gedankenwelt. Dem arbeitenden Daran-Herumdenken.
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In diesen Auftritt hinein wandelt Penelope mit Trauerflor über dem Kopf. Ein eiserner Blick. Den sehe ich zuweilen sehr gut, denn ab und an wird ihr eine Kamera vor die Nase gehalten und das Bild auf die 5×5 Meter groß in der Mitte der Bühne stehende Leinwand projiziert. Gesanglich erstrahlt zuerst Opernstudiomitglied Sopranistin Xenia Puskarz Thomas als Melanto.
Sie strahlt und singt eine Lebensfreude aus, den ehrlichen Versuch, als die treue Dienerin ihrer Herrin Penelope ein Gefühl der Freude zurückzubringen. Mir gefällt ihre pralle Lebendigkeit der Stimme immens, dazu kommt ihr natürlich völlig zwanglose Schauspiel, das mich in engen Kontakt zu Figur und Szene bringt. Tenor Liam Bonthrone singt den Geliebten Melantos Eurimaco. Dieser Beziehung scheint ein großes Energiedepot Melantos innezuwohnen. Geschmeidig leicht und klar ist seine Stimme. Außer Ulisse und Penelope sind die eine Sängerin und fünf Sänger Mitglieder des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper. Formal ist diese Premiere die Jährliche in der Spielzeit des Opernstudios.
Die Bühne arrangiert Jonathan Mertz klug mit Schablonen, die schnell die Verortung, die Umgebung der Handlung organisieren. Also eine Schablone rauf und eine runter, schon bin ich am Strand – die Videoleinwand zeigt den Strand Ithakas. Ulisse, Odysseus, wird von Minerva (antik griechisch heißt sie Athene) im Aussehen verändert. Xenia Puskarz Thomas übernimmt eine zweite Rolle, für mich unsichtbar von irgendwo hinten oben strahlt dieses Mal Minervas Stimme voller Energie zur Bühne. Ulisse bekommt ein anderes Aussehen. An einigen Stellen entwickelt die Inszenierung Humor. Real ist es ein Graucho Marx Brillen-Nasen-Schnauzer, den Ulisse aufzieht und der mich innerlich wegschmunzeln lässt. Dafür wird Ulisse in den Bühnenhimmel hinaufgezogen und wieder herabgelassen eben mit Graucho Marx Brillen-Nasen-Schnauzer. Lacher im Publikum.
Hirte Eumete erkennt Ulisse nicht, Sohn Telemaco dagegen schon. Gesanglich ist das sehr erbaulich. Die Stimmen der beiden Tenore Aleksey Kursanov als Eumete und Granit Musliu als Telemaco sind von höchster Qualität. Stark, rein und klar. Tenor Charles Daniels singt die formal als Bariton angelegte Stimme des Ulisse ebenso warm wie erhaben.
Schwärmen darf ich von der außerordentlichen Präsenz der Mitglieder des Orchester Bayerischen Staatsorchesters, die wie gewohnt bei barocken Opern vom Monteverdi Continuo Ensemble unterstützt werden. Christopher Moulds erzeugt einen großartigen präzisen und zugleich vollen raumfüllenden Klang, der sich doch stets unter die Stimmen legt.
Bühnenschablonen auf und ab, bin ich im Palast zurück. Drei Freier bedrängen Penelope. Das zieht sich etwas, Penelope bleibt lange beinhart. Inszenatorisch vollziehe ich das nach, denn genau das macht Penelopes Nicht-Anerkennen offensichtlich, dass Ulisse tot sein soll. Auch nach zwanzig Jahren besteht sie auf der Vorstellung, dass ihr Mann zurückkehrt. Punkt. Sie bestimmt das für sich. Ein eiserner Blick. Dazu Kristina Hammarströms Sopran, der stimmlich klar, geradezu chirurgisch präzise ist. All das geschieht unter der teilweisen Beobachtung der drei stummen Joan Didions.
Intervention Joan Didions, hier Damian Rebgetz. „Er ist tot“ schreit er erst im Publikum sitzend, dann auf die Bühne schreitend mehrmals laut Penelope ins Gesicht. Kein unmittelbarer Effekt. Doch die Freier kochen Penelope weich. Ihr Auftreten hat auch etwas Humoristisches: nicht stimmlich, von der bunten Kleidung, dem lockeren Gang haben die drei ein bisschen was von „Die drei von der Tankstelle“. Stimmlich ergänzen sich Tenor Liam Bonthrone als Pisandro, Bass Roman Chabaranok als Antinoo und Counter Cameron Shahbazi als Anfinomo wunderbar. Jede Stimme für sich direkt und klar, wie ich es im barocken Gesang liebe.
Die Sache mit dem Bogen von Ulisse geht böse aus für die drei. Penelope verspricht, denjenigen zu freien, der den Bogen spannen kann. Nur Ulisse kann ihn spannen und befreit Penelope von den drei Plage-nunmehr-Geistern. Zwar dankbar für diese Befreiung mag Penelope nicht wahrhaben, dass vor ihr tatsächlich ihr Gatte steht. Intimes Wissen um eine Stickerei erst weicht ihren Blick und ihr Herz.
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Die drei Joan Didions beobachten die Szene. In Videogroßaufnahme zugleich auf die Leinwand projiziert. Joan Didion Wiebke Mollenhauer laufen die Tränen übers Gesicht. Wie fies ist das denn? Wie verzweifelt fühlt sie sich? Penelope bekommt den Mann zurück und sie? Sie weiß um die Unmöglichkeit, die Veränderung aufzuhalten. So gern möchte sie erst das Leben mit dem Mann, dann die unmittelbare Erinnerung an den Mann festhalten. Umklammern. Keine Chance. Die Zeit, das Leben, der Geist, die Wahrnehmung, einfach alles in ihrem Leben verändert das, was sie nicht verändert haben will. Die Bühne wird dunkel.
Das Publikum zeigt sich mit mir zusammen begeistert. Großer Applaus. Für ein Ding, für das ich keinen Namen finde. Ich aber zu wissen glaube, dass ich heute an einer für mich sehr positiven Veränderung der Form von Musiktheater teilhaben durfte. Diese Produktion verfolgt das Ziel des Ja, Mai Festivals aufs Beste. Ein Band mit Opernerfinder Monteverdi knüpfen und zugleich einen Ausblick geben, wie Oper zeitgemäß gestaltet werden könnte. Das Verweben zweier Kunstformen, zweier Werke, die aufeinander reagieren, miteinander zu tun bekommen, sich ineinander verstricken. Christopher Rüpings Inszenierung schafft eine spannungsgeladene dichte Atmosphäre, die Brüche und Übergänge intelligent für die jeweilige andere Handlung nutzt.
Mit der zweiten Ja Mai Festivalpremiere Hanjo verbindet diese Produktion das Thema des Wartens. Doch während sich Hanako in Hanjo ins Warten geradezu hineinkuschelt, zeigt sich das Warten Penelopes als stählerner Panzer. Joan Didion dagegen versucht durch magisches Denken, ihren geliebter Partner zurückzuer-warten, die Zeit auszubremsen und auszutricksen.
Frank Heublein, 7. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung
Musikalische Leitung Christopher Moulds
Inszenierung Christopher Rüping
Bühne Jonathan Mertz
Kostüme Lene Schwind
Video Susanne Steinmassl
Sounddesign Thomas Wegner
Licht Lukas Kaschube
Dramaturgie Malte Ubenauf, Christopher Warmuth
Il ritorno
Orchester Bayerisches Staatsorchester
Monteverdi Continuo Ensemble
Das Jahr des magischen Denkens
Sibylle Canonica, Wiebke Mollenhauer, Damian Rebgetz
Penelope Kristina Hammarström Mezzo
Ulisse Charles Daniels Ausgewiesen als Bariton – er ist Tenor
Melanto / Minerva Xenia Puskarz Thomas Mezzo
Eurimaco / Pisandro Liam Bonthrone Tenor
Telemaco Granit Musliu Tenor
Eumete Aleksey Kursanov Tenor
Antinoo Roman Chabaranok Bass
Anfinomo Cameron Shahbazi Counter
Was für eine schöne Kritik. Danke dafür! Ich habe alles ganz genauso empfunden und möchte jetzt noch das Werk von Joan Didion lesen.
Julia
Vielen Dank für das Lob, liebe Julia.
Zu jeder nachfolgenden Vorstellung Il ritorno/Das Jahr des magischen Denkens finden Nachgespräche mit einer Impulsfragestellung mit einigen Mitwirkenden statt. Gestern waren nicht nur die angekündigten zwei, sondern alle vier beteiligten Opernstudio-Sänger und -Sängerinnen da.
Für mich war es ein spannender Austausch. Meine Einblicke in die Produktion haben sich dadurch vertieft. Ich versuche die folgenden Nachbesprechungen zu besuchen. Für alle, die an diesen Veranstaltungen Interesse haben, hier der digitale Weg zu den Infos darüber: https://www.staatsoper.de/ja-mai/nachgespraeche
Frank Heublein