Foto: Jan Lisiecki © Holger Hage
Man verlässt das Konzert ruhig und seltsam erhoben, Gardner gibt einem „a lot to think about“ – wahrhaft tiefe Gedanken, die noch lange – so steht zu hoffen – sehr lange nachwirken werden.
Elbphilharmonie, Grosser Saal, 20. November 2021
Jan Lisiecki, Klavier
Edward Gardner, Dirigent
London Philharmonic Orchestra
Ludwig van Beethoven
Ouvertüre zu »Egmont« op. 84
Robert Schumann
Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54
Jean Sibelius
Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43
von Harald Nicolas Stazol
Eines steht fest: Ich werde sie wohl nie wieder so schön hören, und die Zuhörer jenes so grandiosen wie präzisen Orchesters, des London Philharmonics Orchestra, unter Edward Gardner, der vor lauter Verve die vielleicht anderthalb Quadratmeter seines Pultes bis auf den letzten Quadratzentimeter vor lauter Verve nutzt: Die 2. Symphonie von Jean Sibelius in D-Dur op. 43, seines vielleicht größten Erfolges. Wird sie doch schon bei der Uraufführung am für den Komponisten so schicksalshaften 8. März 1902 mit den Philharmonikern Helsinki unter dessen Leitung vor lauter Begeisterung des Publikums zweimal wiederholt, was man sich heute Abend geradezu herbeisehnt. Schließt man doch die Augen vor diesem Machtklang, obschon man auf meinem Platz, Rang 13 i, Reihe 2, Platz 22, gleich schräg hinter dem Orchester, auch ohne das natürlich füglichst mitgeführten Opernglases die Notenblätter der dritten Geigen sogar mitlesen kann – ungeahntes Privileg -, auch wenn die ersten Reihen coronabedingt zum Schutz der Musiker ebenso natürlich unbesetzt bleiben müssen.
Dann, wenn man die Augen während des dritten Satzes wieder öffnet und in die Weite dieses ja so einzigartigen Saales die Ränge hinaufblickt, bemerkt man die Hingerissenheit aller, bis ganz hinauf unter die Kuppel, und zweifelt nicht mehr an der Einzigartigkeit dieses grandios-faszinierenden Abends, der mit der Egmont Ouvertüre beginnt und dann von dem um kein Quäntchen weniger fulminanten Klavierkonzert Robert Schumanns mit dem blutjungen Superstar Jan Lisiecki am Steinway fortgeführt wird. Jener ganz zärtlich, undramatisch, einfühlsam, doch manchmal, wenn er mit dem Kopf fast mitrockt, immer im Blickkontakt mit dem Dirigenten, hebt er vom Klaviersessel geradezu ab. Extraklasse, kein Zweifel, der erste Jubel des Abends brandet auf.
Nun also nach der Pause Silbelius. „Ich liebe diese Zweite!“ sagt der nette Herr im taubenblauen Sakko gerade noch in der Schlange an der Bar, und ich stammele voller Vorfreude „Ich auch“, habe ich doch eine Deutung dieses finnischen Opus Imperium schon enthusiastisch den im Sicherheitsabstande sitzenden Nachbarn voller, schierer Hingerissenheit erklärt. Als tonale, in schwerem, einsamen Kampfe errungene Überwindung einer schweren Depression, ist doch Jean Sibelius Opfer einer sein Leben bestimmenden Melancholie – seine Schwester wird wegen Bipolarität, untherapierbar Anfang des vorletzten Jahrhunderts, in ein Sanatorium eingewiesen – eines tiefen Dunkels, das Sibelius zeitlebens immer wieder übermannt.
Dieses Dunkel scheint schon bei den Blechbäsern und den Kontrabässen im ersten Satz auf, der noch ganz lebensfroh beginnt. Doch dieses noch Schwungvolle wechselt bald ins moll, wird immer schleppender, bis es in den Trompetern fanfarenhaft nur noch vereinzelt aufglänzt. Noch einmal hell und freudvoll die Piccoli und Querflöten, dann ein aufstrebendes Pizzicato, doch ein Triumph zeichnet sich nicht mehr ab, der Satz endet in einem trauervollen Ritardando, leise ersterbend. Und wieder: so schön hat es noch nicht einmal Leonard Bernstein hinbekommen, Esa-Pekka Salonen schon eher, wirklich heran reicht nur Susanna Mälkki mit dem Symphonie Orchester des Hessischen Rundfunks, aber selbst diese wesensgleichen Finnen werden heute Abend von den Londonern mit Leichtigkeit überflügelt! Die Streicher herausragend, ja glanzvoll, die Feinabstimmung des gesamten Ensembles dank Gardner überragend. Das ganze Konzert über sitzt jede Note.
Dann mit Paukenwirbel der zweite Satz – überhaupt hat der Paukist mit vieren der Instrumente einiges zu tun, und nun wird es im „Andante sostenuto“ nach dem „Tempo andante, ma rubato“ eben sehr melancholisch-dramatisch, man wird vor Trauer geradezu hinabgerissen.
Doch im dritten Satze bricht sich endlich die Hoffnung Bahn, bis im Finale die Sonne wieder aufgeht, bis sie triumphiert und alles überstrahlt, eines der mitreißendsten Happy Ends der Musikgeschichte vielleicht, selten hingebungsvoller zu hören als bei den Briten, hin- und hinwegreissend, geradezu optimistisch.
Und dann die Zugabe, nach dreimaligen, teils stehenden Ovationen: Das zweitberühmteste Werk des Sibelius, sein „Valse triste“, ja der Tanz mit dem Gespenst einer verstorbenen Geliebten, als Encore passend wie selten.
Man verlässt das Konzert ruhig und seltsam erhoben, Gardner gibt einem „a lot to think about“ – wahrhaft tiefe Gedanken, die noch lange – so steht zu hoffen -, sehr lange nachwirken werden.
Harald Nicolas Stazol, 20. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schade nicht dabei gewesen zu sein, so mitreißend beschrieben! Glückwunsch 😘
Michael Stazol