Besonders hervorzuheben sind dabei die Nuancen, die Lisiecki verstand dem Pianoklang des Steinway-Flügels zu entlocken, mit denen er eine Intimität im Großen Saal kreierte, die einem zeitweilig das Gefühl gab, nicht im Wien des 21. Jahrhunderts, sondern einem kleinen Pariser Salon des 19. Jahrhunderts zu sein.
Es war ein wohltuender Abend mit vielen leisen Klängen, die tragender und eindringlicher nicht hätten sein können.
Wiener Konzerthaus, 5. November 2021
Jan Lisiecki, Klavier
Werke von Frédéric Chopin
von Kathrin Schuhmann
Es war ein reiner Chopin-Abend, zu dem Jan Lisiecki am 5. November in den Großen Saal des Wiener Konzerthauses geladen hatte. Das Interesse war riesig: weder im Parkett noch in den Rängen blieben mehr als ein paar wenige Restplätze unbesetzt. Kein Wunder, gibt es doch wohl kaum einen Komponisten, der sich unter den Freunden romantischer Klaviermusik einer größeren Beliebtheit erfreuen dürfte als der „französische“ Pole Chopin. Egal ob es sich um monumentale Gattungen wie die des Klavierkonzertes oder der Sonate handelt oder doch um kleinere Gattungen wie die der Mazurka oder des Préludes: Chopin gefällt, berührt, umhüllt, belebt.
Es waren zwei dieser kleineren Gattungen, die Lisiecki in seiner Klavier-Soirée an diesem Konzertabend auf sein Programm stellte: Die Nocturne und die Étude. Kann das gut gehen? Zwei derartig unterschiedlich anmutende Gattungen miteinander zu verbinden? Auf der einen Seite das lyrisch-charakteristische Nachtstück und auf der anderen Seite das technisch-akzentuierte Bravourstück? Lisiecki ließ keinen Zweifel, die Antwort auf diese Frage lautet: „ja“, es kann gut gehen – sogar mehr als das.
Direkt die erste Étude, mit der der Kanadier die erste Hälfte seines zweiteiligen Konzertprogramms eröffnete, bewies nicht nur die unvergleichliche technische Fertigkeit, über die Lisiecki am Klavier verfügt, sondern ebenfalls seine Gabe, aus einem pianistischen Übungsstück, dessen Material in der rechten Hand ausschließlich aus Akkordbrechungen besteht, wahre Kunst zu machen. Die unzähligen Farbschattierungen, die der Preisträger des Young Artist Award mit einer anmutenden Spontaneität aus dem Instrument lockte, die den Anschein erweckte, er würde nicht ein eingeübtes Repertoire präsentieren, sondern dieses gleichsam improvisierend in diesem Moment selbst erst schaffen, ließen diese Étude wie auch die Vielzahl der weiteren am Abend dargebotenen Werke in selten zuvor erlebter Unmittelbarkeit erscheinen.
Besonders hervorzuheben sind dabei die Nuancen, die Lisiecki verstand dem Pianoklang des Steinway-Flügels zu entlocken, mit denen er eine Intimität im Großen Saal kreierte, die einem zeitweilig das Gefühl gab, nicht im Wien des 21. Jahrhunderts, sondern einem kleinen Pariser Salon des 19. Jahrhunderts zu sein.
Sein Habitus blieb während alldem stets erfrischend authentisch und natürlich. Der 28-jährige Pianist spielte zwar fürs Publikum, doch ganz ohne Allüren. Zwar ging er auch körperlich mit der Musik mit, doch wirkten seine Regungen nie aufgesetzt – sie waren künstlerisch, nicht künstlich.
Das Publikum wusste ihm zu danken. Bereits der Pausenapplaus sollte nicht abklingen, ehe Lisiecki mehrfach erschienen war, um die Begeisterung der Hörerschaft entgegenzunehmen, ganz zu schweigen vom Schlussapplaus, der erst verebbte, nachdem das Publikum ihn auch für seine Zugabe, eine Nocturne von Paderewski, applaudierend beglückwünschen konnte.
Es war ein wohltuender Abend mit vielen leisen Klängen, die tragender und eindringlicher nicht hätten sein können.
Kathrin Schuhmann, 10. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Frédéric Chopin
Étude C-Dur op. 10/1 (1830)
Nocturne c-moll op. posth. BI 108 (1837)
Étude a-moll op. 10/2 (1832)
Nocturne E-Dur op. 62/2 (1846)
Étude E-Dur op. 10/3 (1832)
Étude cis-moll op. 10/4 (1832)
Nocturne cis-moll op. 27/1 (1835)
Nocturne Des-Dur op. 27/2 (1835)
Étude Ges-Dur op. 10/5 (1830)
Étude es-moll op. 10/6 (1830)
Nocturne Es-Dur op. 9/2 (1830–1831)
Nocturne c-moll op. 48/1 (1841)
***
Nocturne g-moll op. 15/3 (1833)
Étude C-Dur op. 10/7 (1832)
Nocturne F-Dur op. 15/1 (1830–1831)
Étude F-Dur op. 10/8 (1829)
Étude f-moll op. 10/9 (1829)
Nocturne b-moll op. 9/1 (1830–1831)
Étude As-Dur op. 10/10 (1829)
Nocturne As-Dur op. 32/2 (1836–1837)
Étude Es-Dur op. 10/11 (1829)
Nocturne cis-moll op. posth. BI 49 (1830)
Étude c-moll op. 10/12 »Revolutionsetüde« (1830)
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Zugabe:
Ignaz Jan Paderewski
Nocturne B-Dur op. 16/4 (Miscellanea) (1888 ca.)