Goldberg Baroque Ensemble, Andrzej Szadejko, Dirigent © Jerzy Bratkowski
Der Danziger Barockkomponist Johann Daniel Pucklitz ist zu Unrecht vergessen. Doch seit 2022 die vom Goldberg Baroque Ensemble vorgelegte Weltersteinspielung des Pucklitz’schen „Oratorio Secondo“ mit einem Opus Klassik prämiert wurde, ist in Polen – und in interessierten Kreisen darüber hinaus – ein gewisses Interesse an dem lange völlig unbeachteten Pucklitz entstanden. Dass in Danzig nun jenes Oratorium mit dem heute sehr sperrig klingenden, für das 18. Jahrhundert freilich sehr typischen Titel „Der sehr unterschiedliche Wandel und Tod der Gottlosen und Gottsfürchtigen“ erstmalig live aufgeführt wurde, macht Hoffnung auf mehr. Pucklitz’ Musik ist nämlich hochgradig interessant und erfüllt keineswegs jene altbekannten Klischees über die oftmals despektierlich besprochenen „barocken Kleinmeister“.
Johann Daniel Pucklitz (1705-1774)
Oratorio Secondo: Der sehr unterschiedliche Wandel und Tod der Gottlosen und Gottsfürchtigen
Andrzej Szadejko, Dirigent
Goldberg Baroque Ensemble
Shakespeare Theater Danzig, 18. November 2023
von Willi Patzelt
Über das Leben von Johann Daniel Pucklitz ist wenig bekannt. Aus einer Danziger Familie stammend, verbrachte er wohl sein ganzes Leben in der Ostseemetropole. Wo er seine musikalische Ausbildung genoss, ist unklar. Jedenfalls schaffte es Pucklitz, entgegen dem damals zu Danzig offiziell bestehenden Komponier-Monopol des Kapellmeisters Freislich – und gegen dessen heftigen Widerstand – in von der Stadt genehmigten Privatkonzerten immer wieder eigene Kompositionen aufzuführen. Somit erfuhr die Musik von Pucklitz durchaus eine gewisse Bekanntheit im Danzig des 18. Jahrhunderts. Doch ebbte diese mit dem Untergang Polen-Litauens und der Annexion der ehemaligen Hansestadt durch Preußen wieder ab.
Dass Pucklitz nun 250 Jahre später eine kleine Wiedergeburt erlebt, ist dem Danziger Organisten und Dirigenten Andrzej Szadejko zu verdanken. Sein 2008 gegründetes Goldberg Baroque Ensemble ist auf die frühe Musik des Baltikums spezialisiert und arbeitet seit einigen Jahren, in den Aufnahmereihen Das musikalische Erbe der Stadt Danzig und musica baltica, die reiche kulturelle Vergangenheit Danzigs, auf. So entstanden bereits in den letzten Jahren einige Aufnahmen kleinerer Werke von Pucklitz. Dass Der sehr unterschiedliche Wandel und Tod der Gottlosen und Gottsfürchtigen nun im Danziger Shakespeare-Theater erstmals live zu erleben war, stellt wohl den vorläufigen Höhepunkt der Wiederentdeckung des Danziger Meisters dar. Zumal eine wirklich famose Aufführung gelang.
Inhaltlich hält das Werk, was der Titel verspricht: protestantisch-moralisierende Belehrungen. Das Oratorium, das eigentlich mehr ein Zusammenschluss zweier Kantaten (die erste beschreibt den Wandel und Tod des Gottlosen, die zweite die des Gottesfürchtigen) mit vorangestellter dreiteiliger Sinfonia ist, stellt individuelle metaphysische Lebenskonzeption – oder biblischer: Gottesfurcht – in den Zusammenhang mit der christlichen Vorstellung vom endzeitlichem Weltgericht samt anschließender messianischer Herrschaft: Der Geist der Gottlosen fährt in Furcht und Zagen zur Hölle, an den Ort der Plagen, während der Gottesfürchtige in das himmlische Jerusalem einzieht.
In Ermangelung einer konkreten Handlung und dadurch, dass sich die Zahl allegorisch handelnder Personen auf zwei Monologe beschränkt, wird das Oratorium zum gleichsam gehobenen Zeigefinger; unterwirft man sich ihm als Hörer (und wer tat das zu Pucklitz’ Zeiten nicht?), entfaltet es kathartische Wirkung. Als Hilfestellung dafür werden ausdeutend gestaltete Bildanimationen gezeigt: Bildausschnitte aus Hans Memlings (1430-1494) farbenreichem Triptychon „Das Jüngste Gericht“ werden auf drei tryptichal angeordneten Leinwänden klug in Kontrast zu schwarz-weiß-Porträts und -Profilen der Musiker gesetzt. Die Verschmelzung beider Bildmotive jeweils zum Ende der beiden Teile entzieht freilich die Chance zur individuell-persönlichen Deutung, ist dabei aber dennoch sehr überzeugend: Sind wir Zuhörer nun Gottesfürchtige oder Gottlose? Gewissermaßen sind wir alle beides.
Diese Einladung zur Selbstreflexion ist in großartige Musik gegossen. Während die einleitende Sinfonia musikalisch noch eher klischeehaft kleinmeisterlich anmutet, sind die darauffolgenden zwei Stunden gefüllt mit außerordentlich feingeistiger Tonmalerei, die nicht selten auf ihre die Zeit durchaus überraschende harmonische Experimente zurückgreift. Allgemein ist die Musik auf das Engste an den Text geknüpft.
Mit anabatischer Chromatik wird der Untergang des Gottlosen greifbar, mit Trompeten, Harfen und Zimbeln die Erlösung des Gottesfürchtigen manifestiert. Zu „erwünschten Todesstunden“ erklingt sanft eine Glasharfe, dazu Pizzicati in den Streichern – Klangmalerei vom Allerfeinsten. Die musikalische Gestaltung ist kühn, köstlich und klug zugleich. Kurz: Das ist verdammt gute Musik.
Dass sich das Goldberg Baroque Ensemble mit diesem Werk intensiv auseinandergesetzt hat, merkt man in jedem Takt. Das Musizieren ist nicht nur technisch absolut überzeugend, sondern auch in gestaltender Phrasierung und phrasierender Gestaltung hochgradig sinnfällig. Lediglich im zweiten Teil drängt sich zuweilen der Eindruck auf, dass nicht wenige der Musiker jener freudigen Verheißung, die da verkündet wird, doch eher skeptisch gegenüberzustehen scheinen – eine noch freudigere Ausstrahlung hätte manchem routinierten Spiel nicht geschadet.
Zumal Dirigent Andrzej Szadejko in seinem – ansonsten doch sehr auf die Taktgebung konzentrierten – Dirigat den großen musikalischen Bogen trotz genauester feingliedrig-logischer Phrasierung nicht verliert, sondern stets auf eine intensive Ausgestaltung der Partitur bedacht ist. Zusammen mit dem Goldberg Vocal Ensemble, dem singenden Pendant, gelingt ein wunderbarer Gesamtklang, der vor allem im Schlusschor, einer Choralfantasie über die dritte Strophe von Philipp Nicolais „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ („Gloria sei Dir gesungen“), zum unbändigen Klangfest wird.
Jenes Klangfest wird vervollständigt durch ein großartiges Solisten-Ensemble, bestehend aus Gudrun Sidonie Otto (Sopran), Elvira Bill (Alt), Georg Poplutz (Tenor) und Thilo Dahlman (Bass). Während alle durch glasklare Textverständlichkeit überzeugen, die nie auf Kosten musikalischer Linienführung geht, ist es vor allem Georg Poplutz, der den Maßstab in kluger, detailreicher Ausdeutung des Textes setzt. Sein Gesang ist wirklich – wie es einst Nikolaus Harnoncourt als Buchtitel formulierte – Musik als Klangrede. Dieses maximale Ausschöpfen musikalischer Inhalte, dieses Bekenntnis zum Gesungenen ist es, was zuweilen bei den anderen Solisten ein klein wenig fehlt. Trotzdem: Eine wirklich erstklassige Besetzung!
Dass Pucklitz nun also wiederentdeckt wird, ist sicherlich ein lohnender Beitrag nicht nur zur historischen Aufarbeitung Danziger Kulturgeschichte, sondern auch zur musikalischen Weiterentdeckung des Barock-Zeitalters. Man darf auf weitere Einspielungen aus Danzig gespannt bleiben. Das Oratorio Secondo macht in jedem Falle Lust auf mehr.
Willi Patzelt, 24. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Bayreuth Baroque Opera Festival, Claudio Monteverdi: L’Orfeo Bayreuth, 13. September 2023
Beethoven, Fidelio, Konieczny, Apokalypse, Opera Baltycka, Danzig, 12. März 2022