Christian Thielemann © Sächsische Staatskapelle Dresden / Matthias Creutziger
Extrem laute Bässe wummern, man hört Polizeidurchsagen, hier und dort explodiert ein Böller. Der Weg durch die Altstadt zur Semperoper ist am 13. Februar in Dresden jedes Jahr aufs Neue ein durchaus stressiges Unterfangen – ist dieser Tag doch der gesellschaftlich in seiner Deutung am stärksten umkämpfte Tag der sächsischen Elbmetropole. Den politischen Grabenkämpfen Kunst entgegenzusetzen, hat sich die Staatskapelle neben vielen weiteren Dresdner Kulturinstitutionen zur Aufgabe gemacht. Mit dem Brahms’schen Requiem gelingt der Sächsischen Staatskapelle unter Christian Thielemann ein vorzüglicher Abend, der in seiner interpretatorischen Deutung jedoch nicht konsequent zu überzeugen vermag.
Johannes Brahms
Ein deutsches Requiem
Christian Thielemann, Dirigent
Sächsische Staatskapelle Dresden
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Semperoper Dresden, 13. Februar 2024
von Willi Patzelt
Die Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 hat Dresden und seine Bürgerschaft wohl wesentlicher geprägt als jede andere – bis zum heutigen Tage. In vier Angriffswellen britischer und amerikanischer Luftstreitkräfte wurde das Zentrum der Barockstadt an der Elbe, die sich dort bis dato seit den Tagen Augusts des Starken kaum bis gar nicht verändert hatte, als Folge der deutschen Angriffskriege auf das Heftigste zerbombt und kostete damit circa 25.000 Dresdner das Leben.
Musik als Trösterin, Mahnerin und Heilerin
Die Form des Gedenkens ist seitdem eine heftig umstrittene; der Tag des Gedenkens Dreh- und Angelpunkt von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einer immer noch in ihrer Identität verwundeten Bürgerschaft. Rechts- und linksextreme Gewaltausschreitungen zeichnen jedes Jahr noch das Bild des 13. Februars. Und nun wird sogar die ab 2010 jährlich von der Stadt ins Leben gerufene Menschenkette – mit der es gelang, das Gedenken vermehrt in die Mitte der Bürgerschaft zurückzuholen – seitens der Dresdner Grünen Jugend abzuschaffen gefordert.
Somit kommt in Dresden gerade den Gedenkkonzerten an diesem denkwürdigen Abend eine wichtige Aufgabe zu: Die Kunst hat hierbei die Aufgabe Trösterin, Mahnerin und auch Heilerin zu sein. Die Staatsskapelle Dresden stellt bereits seit 1951 mit Gedenkkonzerten hierfür einen Rahmen zur Verfügung und setzte in diesem Jahr Musik als Trösterin mit Brahms’ Deutschem Requiem auf das Programm.
Tröster Brahms
Das Brahms’sche Meisterwerk – kein Requiem als Totenmesse im liturgischen Sinne – ist in seiner eigentlich dramatischen Anlage um die Kernaussage „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jesaja 66, 13) herum aufgebaut. Der von Brahms eingeschlagene große theologische Bogen von der zweiten Seligpreisung der Bergpredigt über Vergänglichkeitserkenntis, paradiesisches Sehnen, Sieg über Tod durch Verwandlung der Toten hin zu derer Seligpreisung ist ein dramatischer Geniestreich.
Aus diesem theologischen Verständnis ergibt sich die Brahms’sche Kernaussage „Ich will euch trösten!“. Denn die Frage – ganz naiv weitergedacht – die sich aus dieser Ankündigung ergibt: Womit will man mich hier trösten? Diese Frage hat der Interpret in seiner musikalischen Ausdeutung des Textes zu erkunden. Wenn man an diesem Abend – und das fällt nicht ganz leicht – das Haar in der Suppe suchen wollte, dann fände man es womöglich hier.
Denn in aller Ehrlichkeit: Wo „Thielemann“ auf dem Programmzettel steht, weiß man nun eigentlich vorher, was man bekommt – wohldimensionierte Proportionen und klangliche Perfektion. So auch an diesem Abend! Die Staatskapelle musiziert mit Thielemann wie immer auf höchstem Niveau; und der – natürlich – erneut großartige Staatsopernchor spielt ebenfalls seine ganze Klasse aus. Was soll man da noch sagen?
Thielemann und seine Dresdner – das ist eine Traumkombination. Und, wie der designierte GMD der Lindenoper nicht müde wird zu betonen, hat man tatsächlich den Eindruck, dass diese Symbiose kurz vor seinem Weggang noch einmal ganz neue süße Früchte ausgetrieben hat.
Überzeugende Solisten
Markus Eiche, der an diesem Abend dem Publikum dessen Vergänglichkeit und Auferstehung prophetisch zu verkünden hat, ist am 13. Februar in Dresden in dieser Rolle kein Unbekannter: 2020 sang er bereits im Brahms-Requiem beim Gedenkkonzert der Dresdner Philharmonie unter Marek Janowski im Kulturpalast. Sein Interpretationsdrang wird bereits in den ersten beiden Sätzen deutlich. Voller innerlichem Drang rutscht er bereits – vor „Herr, lehre doch mich…“ – ständig auf seinem Stuhl herum, schaut spannungsgeladenen Blickes fesselnd in den Saal. Man merkt fortwährend: Hier hat jemand etwas zu sagen. Eiche ist im dritten wie im sechsten Satz jedoch womöglich dann etwas zu sehr im Angriffsmodus und stimmlich zu scharf unterwegs. Jedoch nimmt der helle Bariton seine Berufung ernst und das ist, was zählt. Er ist kein altkluger Akademiker-Prophet, sondern gleichsam ein junger Idealist, der selbst ganz begeistert von seiner Botschaft zu sein scheint. Das tut dem Abend wirklich gut!
Ihm zur Seite scheint die großartige Julia Kleiter an diesem Abend jedoch nicht ganz vollständig auf stimmlicher Höhe zu sein. Zu Beginn von „Ihr habt nun Traurigkeit“ bricht ihr kurz die Stimme weg, und auch ansonsten kommt ihr so wunderbarer lyrisch-warmer Sopran nicht in jener Größe zur Geltung wie beispielsweise in selber Rolle bei den letztjährigen Salzburger Osterfestspielen. Jedoch – so großartig die Stimme Kleiters auch an diesem Abend immer noch ist – ihre ganz ungeheure Stärke ist ihr Ausdruck. Leider wird dieser fünfte Satz nicht selten in einem Ausdruck vorgetragen, in dem die Vortragende primär selbst trostbedürftig erscheint. Kleiter singt im Ausdruck einer tröstenden Mutter – und lässt damit jenen Satz, der anlässlich des Todes von Johannes Brahms’ eigener Mutter erst nachträglich in das Werk eingefügt wurde (dennoch aber eigentlich bereits vorher inhaltlich Vorhandenes „lediglich“ unterstreicht) zur inneren Kulmination der hier ausgebreiteten Trostbotschaft werden.
Übersehener revolutionärer Inhalt?
Und dennoch ist die Trostbotschaft des Christentums und ganz speziell auch der von Brahms ausgewählten und zusammengesetzten Bibelstellen eine fortwährend revolutionäre! Dies in seiner Drastik zu unterstreichen, gelingt Thielemann an diesem Abend nicht – oder wohl richtiger: er entscheidet sich bewusst dagegen. Wenn Brahms gleichsam gegen den Tod diesen provozierend anfahren lässt („Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“) nimmt Thielemann die Schärfe heraus und ersetzt sie – auch gestisch – durch größtmögliche Weichheit. Oder wenn zuvor nach der allegorischen Beschreibung des Lebens durch Fleisch, welches wie Gras sei und Blumen, die die Herrlichkeit des Menschen bedeuteten und dann abfielen der Chor zum riesigeren homophonen „Aber:“ ansetzt, folgt diesem in der Fuge „Die Erlöseten des Herrn werden wieder kommen…“ keine vollendet dargebrachte Überzeugung. Die fortwährend revolutionäre Aussage wird von Thielemann nicht betont.
Und das mag suboptimal sein. Denn womit werden wir hier denn eigentlich getröstet? Großartige Musik kann als solche nicht tröstend alleinstehen. Trost braucht die Aussicht auf ein besseres Morgen. Die kann Musik aus sich heraus nicht geben, ihre Botschaft hingegen schon. Eigentlich müsste man bei „Selig sind die Toten“ zufrieden lächeln können. Unter Thielemann klingt es dunkel und wenig befriedigt – und passt damit freilich auch zur ganzen Atmosphäre des 13. Februars in Dresden.
Willi Patzelt, 15. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Johannes Brahms, Ein deutsches Requiem, op. 45, Goldener Saal des Musikvereins, 4. April 2022