Crédits photographiques © J. Berger / ORW-Liège
Die Inszenierung von Massenets „Werther“ – vom begeisterten Publikum zu Recht mit großem Jubel bedacht – bot in einer hinreißenden Inszenierung (Fabrice Murgia) musikalische Höhepunkte (Dirigat: Giampaolo Bisanti) von Weltniveau.
Jules Massenet
Werther
Musikalische Leitung: Giampaolo Bisanti
Inszenierung: Fabrice Murgia
Bühne: Rudy Sabounghi
Video: Giacinto Caponio
Kostüme: Marie-Hélène Balau
Opéra Royal de Wallonie-Liège, 19. April 2025
von Dr. Charles E. Ritterband
Das Königliche Opernhaus der Wallonie in Liège/Lüttich aus dem Jahr 1820 ist unbestreitbar das Juwel inmitten dieser knapp 200 000 Einwohner zählenden, sonst leider ziemlich heruntergekommenen Stadt im französischsprachigen Teil Belgiens.
Die Stadt, deren Bauten und Parkanlagen noch von einstiger Größe und vom Reichtum vergangener Zeiten zeugen, beklagt eine hohe Arbeitslosenrate und nachts sind die Strassen eher gefährlich. Dennoch – Kulturschätze weist die Stadt weiterhin auf, sie ist stolz auf die Königliche Philharmonie und ihren spektakulären Hauptbahnhof – ein Werk des spanischen Star-Architekten Santiago Calatrava.
Doch in dem über 200 Jahre alten Opernhaus erinnert nichts mehr an den Tiefpunkt des Ersten Weltkriegs, als die deutschen Besatzer im historischen Prachtbau Pferdestall und Truppenunterkunft eingerichtet hatten. Und die Inszenierung von Massenets „Werther“ – vom begeisterten Publikum zu Recht mit großem Jubel bedacht – bot in einer hinreißenden Inszenierung (Fabrice Murgia) musikalische Höhepunkte (Dirigat: Giampaolo Bisanti) von Weltniveau.
Mit subtil eingesetzten Live-Videoprojektionen (Giacinto Caponio; inspiriert von den pionierhaften Inszenierungen des deutschen Regisseurs Frank Castorf), welche in Schwarzweiß der Handlung und vor allem den Interaktionen der Darsteller eine zusätzliche Dimension verliehen, umschiffte der Regisseur Fabrice Murgia die im „Werther“ stets drohenden Klippen von Pathos und Sentimentalität.
Er setzte auf Schlichtheit (Bühne: Rudy Sabounghi) – die kahlen, Todesahnung verheißenden Bäume, Holztische für die Trinkszenen, die gemütliche Stube des Wohnhauses von Charlotte, ihrem verwitweten Vater und ihren zahlreichen noch jungen Geschwistern, Schneeflocken in der finalen Dezember-Szene.
Am Anfang des dritten Aktes ist die Bühne nur von Kerzen erleuchtet – die Kammer wird gleichsam zur Abdankungshalle. Alles sehr werkgetreu und ohne falsche Regietheater-Ambitionen und Aktualisierungsgelüste.

Und doch wundert man sich, denn die Trinkszene soll doch eigentlich bei Tageslicht stattfinden, stattdessen herrscht tiefe Nacht. Auch dies Todesahnung verheißend? Augenscheinlich blitzt Humor auf, wenn die Trinker Bacchus und den Wein preisen und dabei ihre Biergläser leeren: eine Hommage ans belgische Nationalgetränk?
Der Dirigent Giampaolo Bisanti schöpft aus dem Vollen: ein präzis intonierendes Orchester lässt aus dem Orchestergraben herrliche Klangwolken aufsteigen – die perfekte Akustik des zweihundertjährigen Opernhauses unterstützt das wahrhaft königliche Klangerlebnis.

Unbestreitbar musikalischer Höhepunkt von Weltniveau bot das tragische Liebespaare: Der mexikanische Tenor Arturo Chacón-Cruz brachte einzigartigen tenoralen Schmelz und ungebremste Leidenschaft auf die Bühne und lief, wie zu erwarten war, in der Schlüsselarie „Pourquoi me réveiller“ zu Höchstform auf. Jonas Kaufmann glänzte einst an der Pariser Opéra Bastille in dieser Rolle – Chacón-Cruz stand Jonas Kaufmann in nichts nach…
Die französische Mezzosopranistin Clémentine Margaine war diesem Werther eine kongeniale Partnerin als Charlotte, verzweifelt hin- und hergerissen zwischen ihrer eigenen Leidenschaft und ihrem absoluten Gehorsam gegenüber der verstorbenen Mutter betreffend ihrer Entscheidung, den (von Massenet musikalisch farblos und unerotisch gezeichneten) Albert zu ehelichen. Stimmlich überragend, mit satter fraulicher Tiefe verkörperte Margaine den unlösbaren Konflikt zwischen ihrer abgrundtiefen Liebe zu Werther und der vom Gewissen erzwungenen Loyalität zum ungeliebten Ehemann Albert, der vom belgischen Bariton Ivan Thirion verkörpert wurde.

Charlottes jüngere Schwester Sophie, dargeboten von der entzückenden russischen Sopranistin Elena Galitskaya, erklimmt mit müheloser Leichtigkeit und glockenheller Stimme die Koloraturen, welche dieser Part erfordert – das musikalische und psychologische Gegenstück zur tragisch liebenden älteren Schwester.

Im prunkvollen Empfangs- und Pausenraum des Opernhauses wird zwei Stunden vor jeder Vorstellung ein Opernmenü des Star-Küchenchefs Agron Billa angeboten, das sich thematisch auf Thema und Titel der Oper des jeweiligen Abends ausgerichtet ist. Unerfüllte Leidenschaft und Selbstmord – wie ist das kulinarisch umzusetzen? Dies bleibe der Fantasie des Lesers überlassen…
Charles E. Ritterband, 22. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Werther: Arturo Chacón-Cruz
Charlotte: Clémentine Margaine
Sophie: Elena Galitskaya
Albert: Ivan Thirion
Amtmann: Ugo Rabec
Jules Massenet, „Werther“ Staatstheater Stuttgart, 13. Juli 2021
Jules Massenet, Werther, Piotr Beczala, Gaëlle Arquez Wiener Staatsoper, 10. Dezember 2020
Jules Massenet, Werther, Royal Opera House London, 17. September 2019