Foto: Maximilian Haberstock © Michael Herdlein
„Stars & Rising Stars“ nennt sich jener Münchner Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, junge aufsteigende Sterne am Himmel des Musikfirnaments mit großen Künstlern auf Münchner Bühnen zusammenzubringen. Einer dieser „Rising Stars“ ist Maximilian Haberstock. Der junge Dirigent, auch als Pianist und Komponist tätig, stellte sich nun dem Münchner Publikum mit seinem von ihm neugegründeten Jungen Philharmonischen Orchester. Mit dem Star-Cellisten Alban Gerhardt und den beiden „Rising Stars“ Tassilo Probst und Naz İrem Türkmen gelang ein großartiges Debüt für Haberstock und sein neues Orchester. Und dennoch: Jung, frisch und affektvoll pointiert musiziert Haberstock nicht, vielmehr warm und erdig, ja sehr deutsch eben. Kann diese „Rückwärtsgewandtheit“ eine Zukunft sein?
Maximilian Haberstock, Dirigent
Junges Philharmonisches Orchester München
Alban Gerhardt, Violoncello
Tassilo Probst, Violine
Naz İrem Türkmen, Violine
Carl-Orff-Saal, Gasteig München, 19. Mai 2023
von Willi Patzelt
„Es klang so alt und war doch so neu“. So beschreibt Hans Sachs in seinem „Fliedermonolog“ am Beginn des zweiten Aufzugs von Wagners Meistersingern seinen Eindruck von Stolzings Probegesang. Mit diesem zunächst so widersprüchlich klingenden Wort lässt sich auch das Debüt-Konzert des Jungen Philharmonischen Orchesters München und seines künstlerischen Leiters Maximilian Haberstock beschreiben:
Schon im Beginn von Beethovens Coriolan-Ouvertüre hört man, dass der junge Münchner weniger auf Dramatik durch abrupt abgerissene Tutti-Schläge setzt, sondern vielmehr auf dunklen Existentialismus. Die Darstellung der Unruhe in den tiefen Streichern ist nicht etwa unruhig und spitz, sondern vielmehr mystisch. Auch das von Beethoven so lyrisch eindrückliche Flehen der Frauen um Frieden ist kaum auf Melodiösität poliert; Haberstock stellt vielmehr auf Klangtiefe als auf oberflächliche Affekte ab.
Die Grenzen romantisierender Interpretation
Die interpretatorische Richtung, die Haberstock anstrebt, wird schnell deutlich. Furtwängler, Knappertsbusch, Thielemann sind musikalische Vorbilder. Haare nach hinten pomadisiert und klassisch im Frack, begleitet er die Solisten des Abends dienend – oder, wie Christian Thielemann sagen würde: kapellmeisterlich. Dass mit Alban Gerhart einer der großen Cellisten unserer Zeit mit jungen Künstlern konzertiert und sie so fördert, zeugt vom gesellschaftlichen Bewusstsein eines großen Künstlers. Mit Tschaikowskis Rokoko-Variationen op. 33 wird Haberstocks Drang zum Tiefen, Gedeckten und Dunklen freilich in Versuchung geführt. Man merkt: Die Vorstellungen hinsichtlich des Werkes klaffen zwischen Gerhardt und Haberstock zuweilen deutlich auseinander. Dies muss nicht wundern, ist doch das Werk selbst in seiner Anlage höchst missverständlich: Es ist weder Rokoko noch so wirklich süffiger Tschaikowski.
In absoluter technischer Perfektion, mit viel Witz und enormer Interaktivität zeigt Gerhardt das verspielte Werk von einer ungemein elegant-melodiösen Seite. Über Haberstocks Dirigat kann man das, ohne es negativ zu meinen, weniger sagen. Die Schwerpunktsetzung liegt wieder mehr im vollen, dunklen Register. Ob diese Herangehensweise nicht das Werk missversteht, mag dahingestellt bleiben. Die unterschiedlichen Auffassungen stehen aber einer schlüssigen und farbenreichen Interpretation nicht im Wege: So gelingt – ohne, dass etwa Dirigent und Solist völlig unabhängig voneinander musizierten – eine weiterhin gelungene Interpretation, die freilich dennoch so widersprüchlich ist wie das Werk selbst.
„Rising Stars“ voller Interpretationslust
Die beiden Geiger Tassilo Probst und Naz İrem Türkmen machen große Lust auf mehr. Ersterer zeigt in Henryk Wieniawskis Légende op. 17 den Drang zum zu großen musikalischen Bogen. In dichtem, herrlichem Legato spielt er nie fett, sondern vielmehr elegant und innig. Womöglich wirkt dafür das Rondo capriccioso in Camille Saint-Saëns’ op. 28 etwas zu ernst und unironisch. Die Interpretationstiefe des Einundzwanzigjährigen ist dennoch beachtlich. Nichts wirkt gleichgültig; dem Mann – man merkt es in jedem Takt – geht es um große Kunst.
Gleiches kann über Naz İrem Türkmen festhalten. Augenscheinlich sehr aufgeregt, ist freilich das Vibrato in Max Bruchs zu selten gespielter Romanze op. 42 anfangs deutlich zu dick. Einige Unsauberkeiten außer Acht lassend, ist die Musikalität der jungen Türkin, ebenso wie bei Tassilo Probst, umso atemberaubender. Voller Ernsthaftigkeit träumend ist ihr Geigenspiel herrlich gesanglich. Kammermusikalisch feinfühlig musizierend, ist ihr Blick die meiste Zeit wie verliebt anmutend auf Maximilian Haberstock gerichtet. Glücklich, wer einen Menschen findet, der einen so anschaut wie Naz İrem Türkmen Maximilian Haberstock!
Es hätte dieser musikalisch anregende Abend sicherlich mehr Zuschauer verdient. Der Carl-Orff-Saal war zu schätzungsweise einem Drittel ausverkauft; einige Zuhörer kamen freilich noch über die erste Hälfte peu à peu dazu. Das Münchner Publikum wusste sich auch sonst – wie so oft – über weite Strecken nicht zu benehmen. Ein Feingeist in der Mitte des Saals bemerkte während des zweiten Satzes von Maurice Ravels Sonate für Violine und Violoncello, von Tassilo Probst und Alban Gerhardt als Zugabe dargeboten, trocken: „Das ist nun wirklich schlecht!“. Nur zur Klarstellung: War es nicht!
Neugegründetes Orchester hat sich gefunden
Dass dieses Orchester gerade einmal eine Woche gemeinsames Probieren hinter sich hatte, war nicht zu hören. Wunderbar zusammengespielt, wurde Mendelssohns „Schottische“ zum Erfolg; mit dem Schlussakkord brachen Standing Ovations und Beifall aus. Man könnte meinen, nach einer „Schottischen“ und ihrem apotheotischen Schluss in A-Dur müsste es einen fast in Begeisterung aus dem Sitz schleudern.
Eine Apotheose fand bei Haberstock jedoch kaum statt. Der junge Münchner zeigte das Werk von einer ungeahnt dramatischen Seite. In absoluten „Legatissimo“ beginnt das Werk dunkel, wie aus dem Nichts. Selbst das eigentlich fröhliche erste Thema des Kopfsatzes nimmt er langsam und düster; nicht unbeschwert ist diese Musik, sondern vielmehr schwer melancholisch. Die darauffolgende Steigerung in Tempo und Intensität mutet nach einem verzweifelten Hilfeschrei an. Insgesamt gelingt Haberstock eine Darstellung menschlicher Verzweiflung changierend zwischen Melancholie und Aussichtslosigkeit. Selbst die eigentlich so fröhlich-choralartige Coda in A-Dur klingt bei Haberstock nicht nach unbändigem Triumph. Vielmehr hat man das Gefühl im vollen Schluss findet das dargestellte Gefühlsleben, anders als beispielsweise in Beethovens Fünfter, keine Erlösung im Sieg, sondern nur einen scheinbaren Ausweg in einer ratlosen und verzweifelt gezwungenen Freude.
Mutiger Aufbruch zu neuen Ufern
Dass sich ein junger Dirigent wieder weg von Originalklang und Partitur-Positivismus hin zum romantisierend deutschen Klang bewegt, ist äußerst erfrischend. Das Resultat ist nicht etwa verstaubt. Vielmehr zeigt Haberstock jenen Mut zur Interpretation, der vielen leider im immer mehr akademisierten Musizieren verloren gegangen ist. Es liegt die Zukunft nicht etwa in der Abkehr vom Alten, sondern gerade in Wahrung und Weiterführung unserer Tradition.
Wenn, im Übrigen, die über siebzigjährige Sitznachbarin während dem langsamen Satz der „Schottischen“ (welcher streckenweise nach Bruckner klingt) ihr Handy herausnimmt, um ihrer nicht wesentlich jüngeren Begleitung ein „Instagram-Reel“ zu zeigen, müssen wir das Thema „Jung und Alt“ womöglich sowieso neu diskutieren. Vom jungen Maximilian Haberstock wird sicherlich noch viel zu hören sein!
Willi Patzelt, 22. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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