Marc-André Hamelin © Hamelin Sim+Cannety-Clarke, 2018
Ob die Familie im Saal die Einzigartigkeit dieses Abends denn überhaupt begreift? Ich gebe mein Äußerstes, es der One-Kid-only-Family klarzumachen… umsonst, ach, umsonst. Denn leider knackt seine Tochter, sie mag kaum 12 sein, ausgerechnet zu Hamelins zartvollsten Passagen deutlich hörbar mit den Fingern. Bald dreht sie schnell mit den Däumchen, mal zieht sie sich Strähnen aus dem Haar, mal massiert sie ihre nackten Knöchel kurz überm weißen Sneaker, aus mir unerklärlicher Langeweile – man merkt halt auch immer, wenn eine Göre im Raum ist, man ist ja auch Gören im Hohen Haus gewohnt, aber dies ist nun schon eine Über-Göre ganz offensichtlich – nun alles egal, denn dort, keinen Weitsprung weit entfernt, musiziert eben ein Weltstar, was sag ich, ein wahres Wunder.
Marc-André Hamelin Klavier
Ludwig van Beethoven
Sonate für Klavier B-Dur op. 106 »Hammerklaviersonate«
– Pause –
Robert Schumann
Waldszenen op. 82
Maurice Ravel
Gaspard de la nuit / Drei Gedichte für Klavier nach Aloysius Bertrand
Elbphilharmonie, 12. November 2023
Ultra! Unerhört! Unspielbar! Unerreicht! Unglaublich! Unvergleichlich! Unvergesslich! Unfassbar! Marc-André Hamelin: Das Stupor Mundi — ein Wunder und Staunen der Welt!
Man merkt ja immer, wenn ein Genie im Raum ist – man ist Genies im Hohen Hause ja schon fast gewohnt – aber dieses absolut unschlagbare Über-Genie ist nun wirklich eine Seltenheit: Marc-André Hamelin.
Dieser Ausnahme-Pianist sprengt alles, was ich bisher erleben und erfahren durfte, und so whatsappe ich noch in der Nacht an alle, die noch nicht schlafen, wie meine alte Freundin Kathryn Millan in Austin, Texas: „Never heard, will I ever again?“. Nach New York City geht die Nachricht raus, an meinen Schwarm Ted Shields, „I am reborn!“ Und nach Kanada an Thibault Guasné, dito: „Un miracle – sans pareil!!!“ Schließlich dann an die, die schon im Bett sind: „Solches habe ich noch NIE gehört!“ Am frühen Morgen, ich bin noch ganz beseelt, treffen die besorgten Stimmen ein, aus Texas „Have you finally got mad?“ Aus Vancouver „Are you alright?“, aus Berlin, aus Düsseldorf und Hamburg: „Hast Du Deine Pillen genommen?“ – „Hast Du was geraucht?“- und schließlich: „Lässt sich Deine Euphorie denn überhaupt noch steigern?“
Heute Abend, in einer Elphi, die mir unerklärlicherweise nur zu einem Drittel besucht ist: Nein. Und nochmal, für alle: NO, NON, NEIN! (Gut, die Pillen, ja). Ich bin also, wie nicht immer, zugegeben, aber, wie erwiesenermaßen IMMER in der Philharmonie, noch im VOLLBESITZE meiner geistigen Kräfte. Nun gut, nach dieser Ultra-Performance, nicht mehr ganz so.
Und so soll es ja auch sein.
Nicht nur, dass ich – ob der Güte der Konzertagentur (oder auch meiner Kritikerbedeutung? Schön wäre es) – in erster Reihe sitzen darf, der Herr neben mir sagt noch vor der Pause, „das war ja wirklich prima“ – und auch, wenn ich das für die laienhafte Untertreibung des ganzen Jahres halte, in all deren Bescheidenheit, im Sinne des Wortes, er hat ja recht. „Ich habe meiner Frau das Konzert zum Geburtstag geschenkt! Sie liebt Beethoven.“, und ich sage noch, „Ich kann Sie nur beglückwünschen. Da haben Sie ja einen Volltreffer hingelegt!“
Ob die Familie im Saal die Einzigartigkeit dieses Abends denn überhaupt begreift? Ich gebe mein Äußerstes, es der One-Kid-only-Family klarzumachen… umsonst, ach, umsonst. Denn leider knackt seine Tochter, sie mag kaum 12 sein, ausgerechnet zu Hamelins zartvollsten Passagen deutlich hörbar mit den Fingern. Bald dreht sie schnell mit den Däumchen, mal zieht sie sich Strähnen aus dem Haar, mal massiert sie ihre nackten Knöchel kurz überm weißen Sneaker, aus mir unerklärlicher Langeweile – man merkt halt auch immer, wenn eine Göre im Raum ist, man ist ja auch Gören im Hohen Haus gewohnt, aber dies ist nun schon eine Über-Göre ganz offensichtlich – nun alles egal, denn dort, keinen Weitsprung weit entfernt, musiziert eben ein Weltstar, was sag ich, ein wahres Wunder.
Denn die Finger des Hamelins, auch so nah an der Bühne, sieht man gar nicht, beziehungsweise, man hält nicht für möglich, dass ein Sterblicher sie so gebrauchen kann, was sage ich – ein Unsterblicher. Manchmal bewegt sich vor lauter Ergriffenheit fast unmerklich sein Haupt kaum merklich hin und her. Ob der Mann weiß, wie unfassbar er ist?
Da kann man schon süchtig werden.
Unerhört, ja, ganz selten die „Hammerklaviersonate“ des Ludwig van Beethoven. Warum? Weil’s weltweit, stupor mundi, fast niemand kann, geschweige denn beherrscht. „Die Sonate ist in drangvollen Umständen geschrieben; denn es ist hart, beinahe um des Brotes zu schreiben; soweit habe ich es nun gebracht.“ schreibt Beethoven in einem Brief an Ferdinand Ries, da ist er, kaum 47, schon taub und in schwersten Nöten.
„Schockschwerenot“, denke ich noch, kein Wunder, dass die vier Sätze „noch zu Lebzeiten des Komponisten als unspielbar galten“ – hier nun jemand kann es, im unscheinbaren grauen Anzug vor dem Grand Piano, ganz bescheiden, auch in den Verbeugungen vorab, ein Unscheinbarer, der schon in den ersten Anschlägen so aufleuchtet, dass man fast, nein wirklich, visuell wie auditiv geblendet ist.
Wie soll man in Worten beschreiben, was man da hört? Als Antwort Gustav Mahler: „Wenn Komponisten, das, was man in Worten ausdrücken könnte, schreiben könnten, würden sie es nicht in Musik können“.
Schreiberschicksal also. Und ich „lose“ total ab.
Noch einmal, schwerst-nicht endende Erkenntnis: Solch Übergeniales, so einen Abend werde ich wohl nicht noch einmal erleben.
Ravels ,,Gaspard de la nuit“ etwa gehört zum Schwersten, Schönsten, das er je hervorbrachte, und gilt mit als sein Bedeutendstes. Mir sofort auch. Der erste Satz, „Ondine“ die Beschreibung einer Meerjungfrau, der zweite, die eines am Galgen Hängenden, der dritte eines Geistes, der in unruhigen Träumen erscheint – da sind Läufe, die mit Recht bis heute als unspielbar gelten. Und heute Abend, nun, da sind sie spielbar. Genie gegen Göre, wer gewinnt?
Ach, da ist ja auch noch der geradezu entspannende Robert Schumann, die Waldszenen, obschon so irr, wie ich?
Und ich kann sagen, ja!
Harald Nicolas Stazol, 12. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieber Herr Stazol,
das Erste, was ich heute las, war Ihre Rezension. Ich muss bekennen, mir war der Pianist nicht bekannt.
Ihre überschäumende Begeisterung, Ihr (durchaus erfolgreiches) Ringen um die passenden Worte, die Ihre Ergriffenheit, Begeisterung und die Einmaligkeit des Dargebotenen ausdrücken konnten, fand ich beeindruckend; Ihren Text oft amüsant. Sie haben mich neugierig gemacht und vielleicht kommt „Der, der Unspielbares spielbar macht“ ja mal in den Südwesten Deutschlands. Ich werde aufmerksam sein. Herzliche Grüße,
Kathrin Beyer
„Ein Unscheinbarer“. Das erinnert mich an meinen verstorbenen Konzertfreund Uli, der über Monsieur Hamelin sagte: „Er sieht aus wie ein Postbote!“ Und damit lediglich das Geheimnis des Marc-André Hamelin zu ergründen versuchte, der ihn am Vorabend im Rezital so überwältigt hatte. Ich glaube, Uli fügte noch die Worte „Und er spielt wie ein junger Gott!“ an.
Danke für die schöne Rezension, und an Regina für die Verlinkung eines grandiosen Mitschnitts des op. 83 von Brahms. Was für eine Entdeckung! Und ich höre es gerade nur über den Laptop in mieser Tonqualität!
Dr. Brian Cooper