Photo IMAGO Dirk Jacobs
Wacken Open Air – da herrscht ein rauher Ton, entsprechend dem martialischen Auftreten vieler Bands mit Anleihen aus der altnordischen Mythologie. Wer auf der Bühne versagt, wird gnadenlos ausgebuht und in den einschlägigen Fachmagazinen „Metal Hammer“, „Rock Hard“ oder „Stormbringer“ verdienterweise an den Pranger gestellt. Schlimm, aber zu erwarten, oder?
von Dr. Andreas Ströbl
Nur: Kein Wort davon ist wahr! So etwas erlebt man nicht in Wacken, sondern in Bayreuth. „Hart, aber herzlich“ – so lassen sich die Liebhaber von Hard Rock und Heavy Metal-Musik treffend beschreiben und Recherchen im schwermetallischen Milieu ergaben folgendes Bild:
Überzeugt eine Gruppe mal nicht wie gewohnt, dann geht man eben einfach weg von der Bühne, kauft sich ein T-Shirt mit Gott Donner/Thor oder einem grimmigen Totenkopf, isst eine Bratwurst und vor allem: Man enthält sich einfach des Applauses. Als dem selbsternannten Bürgerschreck Marilyn Manson vor kurzem mal der Beifall zu mau war und er sich darüber beschwerte, gab es tatsächlich Gegenwind. Buh-Rufe allerdings sind in der Szene verpönt.
Die Schnittpunkte der so unterschiedlichen Musikfeste bestehen witzigerweise einerseits in Teilen des Personals, wie den Göttern Wotan oder dem bereits genannten Donner, dessen Hammer Mjölnir viele Hälse der Wacken-Pilger schmückt. Das „Asenblut“, wie eine der Bands heißt, fließt ja auch durch die Adern der meisten Götter im „Ring“. Andererseits verbindet beide Veranstaltungen der echte Enthusiasmus derer, die wegen der Musik zum jeweiligen Sehnsuchtsort fahren und nicht, um sich selbst darzustellen.
Als im Frühjahr 2020 Corona-bedingt die Sitzplätze in den Cafés auch draußen karg geworden waren, ergab sich in Lübeck die Szene, dass eine Gruppe von (durch entsprechende T-Shirts erkennbaren) Wackenianern und der Rezensent mit ein paar Freunden vor dem letzten verfügbaren Tisch standen. Jeder wollte dem anderen den Vortritt lassen und es entfuhr dem Wagnerianer: „Ja, so sind sie, die Wackenianer – hart, aber herzlich!“ Den Tränen nahe, seufzte der massige, bärtige Metal-Mann: „Und diesmal fällt es aus!“ – „Bayreuth auch!“, so die Replik und wenn die Pandemie-Bestimmungen dem nicht gewehrt hätten, wäre man sich schluchzend in die Arme gefallen.
Es wurde in den Besprechungen ja schon mit berechtigtem Ärger über das Verhalten des Bayreuther Publikums berichtet. Handy-Gebimmel, zumal in Generalpausen, das ständige Glotzen auf die Geräte, Filmen und Photographieren während der Vorstellungen und nervige Störungen durch blinkende Protz-Uhren störten für die Umsitzenden bzw. alle im Saal den Kunstgenuss; das Geklingele war sogar auf der Bühne und im Orchestergraben hörbar, wie Mitwirkende bestätigten. Dass man sich da als Verursacher nicht schamhaft entschuldigt, sondern mit Kraftausdrücken auch noch diejenigen beleidigt, die angemessen auf die Störungen hinweisen, gehört mittlerweile zum üblichen schlechten und auch in anderen Häusern wahrgenommenen Ton.
Die Buherei allerdings hat sich zu so etwas wie einer Art von Sport einer Gruppe von Bayreuth-Besuchern entwickelt, die offenbar die selbstgefällige Art der Miesmacher von Mailand oder des Pariser Jockey-Clubs imitieren, um sich wichtig zu tun. Zwar wurde auch darüber schon berichtet, aber man kann das offenbar – leider – nicht oft genug wiederholen: Wer beim Schlussapplaus der „Götterdämmerung“ beim Erscheinen der gesamten Riege aus Dirigentin, Solisten und eben auch das Regieteam um Valentin Schwarz die Geräusche einer aufgeschreckten Rinderherde anstimmt, der buht eben auch alle Mitwirkenden aus. „Alberich“ Ólafur Sigurdarson klopfte Schwarz beim gemeinsamen Hinausgehen für alle sichtbar und bewusst solidarisch auf die Schultern und teilte damit allen mit: „Du bist einer von uns!“ Man kann vom Schwarz-Ring halten, was man will, aber – auch das wurde schon ausgesprochen – wer nach drei Jahren Laufzeit immer noch erstaunt tut, was einem denn da geboten wird und sich lautstark abreagiert, der benimmt sich einfach nur kindisch und peinlich.
Geradezu erstaunlich ist, dass der zuerst geprügelte „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer mittlerweile zum umjubelten Publikumsliebling geworden ist. Nach der Aufführung am 4. August brandete der Beifall ohne auch nur einen Buh-Ruf auf und hielt sehr lange an.
Das war 2019 noch völlig anders, denn, wie sich Dragqueen „Le Gateau Chocolat“ erinnert, bekam das Regieteam „eine Kakophonie an Buhs“ zu hören, einige galten dem schillernden Begleiter der Venus selbst, für ihn völlig unverständlich: „Es ist nicht ungewöhnlich, dass das Regie-Team Buhs abbekommt. Wenn es aber mich als Darsteller trifft, ist das vielsagend. Denn ich singe in der Show ja gar nicht. Ich singe in der Pause am Teich, was in der 107-jährigen Geschichte nicht passiert ist – allein das ist auch schon bemerkenswert. Aber in der Show singe ich nicht. Ich kann also gar nicht dem Dirigenten nicht folgen oder die Töne nicht treffen. Ich repräsentiere lediglich eine Alternative, die ihnen nicht so geläufig ist.
Meine Frage an sie ist also: Was buht Ihr da konkret aus? […] Ich habe nur gezeigt, dass es Menschen wie mich gibt. Menschen wie mich, die Eure Ideen von Sexualität und Geschlecht infrage stellen. Oder schwarze Menschen. Ich bin viele Dinge gleichzeitig. Und wenn man dann anfängt, ergründen zu wollen, warum sie buhen – dann ist es nicht schön“.
Soweit „Le Gateau Chocolat“ und damit die Frage, was hier eigentlich kaputtgeblökt werden soll. Wiederum fliegt der unfair knapp übers Netz geschmetterte Ball zurück, denn wer andere runtermacht, muss sich die Frage gefallen lassen, was in der eigenen Kinderstube falsch gelaufen ist.
Offenbar halten die Blöker ihr Verhalten für eine Art von Tradition, denn das Gebuhe hat ja allein in Bayreuth schon Produktionen begleitet, die echte Operngeschichte geschrieben haben: Wieland Wagner (Meistersinger 1956 und Tristan 1962), Götz Friedrich (Tannhäuser 1972), Patrice Chéreau (Ring 1976), Heiner Müller (Tristan 1993) oder Frank Castorf (Ring 2013) – all das sind große Regisseure, die Buh-Gewitter über sich haben ergehen lassen, aber zumindest einige Produktionen der aufgezählten gelten in der Retrospektive als Meisterwerke der Regiekunst.
Umsonst gebuht also bzw. falsch eingeschätzt. Was bleibt als Abschlussfrage? Müssen die zwar schick gekleideten, aber rüpelhaften Bayreuth-Buher sich von zauselbärtigen, schlammverschmierten Schwermetallern erzählen lassen, wie man sich bei einem Konzert benimmt?
Eine abschließende Betrachtung sei an die Kolleginnen und Kollegen gerichtet, mit denen sich in den Pausen teils konstruktive Gespräche ergaben, die aber auch in mitunter apodiktischer Arroganz den Solisten Provinzialität (O-Ton 1: „Stadttheater-Niveau!“), Dirigentinnen und Dirigenten Versagen (O-Ton 2: „Man erkennt ja gar keine Leitmotive. Ich bin offenbar in der falschen Oper“) sowie dem Orchester Stümperhaftigkeit (O-Ton 3: „Wissen die überhaupt, wo die sind?“), attestierten. Diese nicht ganz unbekannten Künstler geben auf dem Hügel alles, wochenlang und an den Abenden, wie wir alle wissen, teils stundenlang am Stück!
Lassen wir die alten Quellen sprechen. Zu Zeiten, als Wotans Wort den Menschen noch wert war und Donners dröhnender Hammer den Dummen den Schädel zerschlug, rieten die Runen dies: „Der Armselige, Übelgesinnte hohnlacht über alles und weiß doch selbst nicht, was er wissen sollte – dass er nicht fehlerfrei ist“ (Havamal – Des Hohen Lied 21, Lieder-Edda).
Dr. Andreas Ströbl, 19. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Pathys Stehplatz (51): Die Unart des Bayreuther Publikums klassik-begeistert.de, 27. Juli 2024
Herzlichen Glückwunsch, lieber Andi, zu diesem ebenso anregenden wie lesenswerten Beitrag. Er enthält so viel Wahres; mitunter Formulierungen, die mich zum Lachen brachten; auch Dinge, die mich nachdenklich stimmten.
Viele Menschen legen schlechtes Benehmen an den Tag, in welcher Form auch immer. Mir ist wichtig: Das hat selbstverständlich nichts mit Alter, Aussehen, Kleidung, sozialer Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Musikgeschmack oder gar Nationalität zu tun. Sondern zuallererst mit Erziehung. Kinderstube, wie Du schreibst. Dem Kind beibringen, dass es nicht allein auf der Welt ist. Grenzen setzen. Vorbild sein. Respekt zeigen und auch einfordern. Zuhören, ausreden lassen, nicht unterbrechen. Und schließlich die so quälend oft bemühten „Werte“ vermitteln, die übrigens, wenn sie „westlich“ sind, nicht deshalb automatisch besser sind.
Dass all dies nur unzureichend geschieht, und zwar quer durch die sozialen Milieus, liegt auf der Hand. Bei manchen älteren Leuten kann und muss man ebenso von schlechter Erziehung sprechen wie bei manchen Kindern. Verhalten sich die Bayreuther Buh-Rufer nicht wie große, überhebliche, verzogene Kinder? Leider gibt es das unsägliche Vorurteil, dass bürgerliche Menschen, die schon mal ein Buch gelesen oder eine Oper besucht haben, deshalb bessere Menschen sind.
Vielen Kindern wird in ihrer Kinderstube nicht mehr viel mitgegeben, weil ihre Eltern – dezidiert auch gutsituierte, zu zweit erziehende – aus verschiedenen Gründen mit ihrem zweiten Vollzeitjob objektiv vollkommen überfordert sind. Vor einigen Jahren besuchte ich Freunde und überreichte dem etwa fünfjährigen Sohn ein Geschenk, das er brüsk mit den Worten „Brauch’ ich nicht“ wegstieß. Die Eltern saßen mit am Tisch; niemand der beiden hat das Kind zurechtgewiesen.
Schlechtes Benehmen beginnt also im Kleinen und perpetuiert sich, wenn nichts dagegen unternommen, nicht dagegen aufbegehrt, wird. Am unteren Ende der Skala nenne ich als weitere Beispiele etwa das Nichtreagieren auf einen freundlichen Gruß oder eine Einladung, das Vordrängeln – die Menschen in Deutschland können ja viel, aber Schlangestehen zählt nicht zur Kernkompetenz dieser Nation – sowie unsolidarisches bis rüpelhaftes Verhalten im Straßenverkehr. Oder im Konzertsaal.
Die Smartphone-Revolution hat in vielerlei Hinsicht dazu beigetragen, schlechtes Benehmen zu beschleunigen. Die tumbe Fetischisierung alles Digitalen ist ein fetter Sargnagel für die Gesprächs- und Debattenkultur. Ich hoffe inständig, dass die unhöflichen, schlecht erzogenen Menschen, die auf niemanden Rücksicht nehmen und ständig andere Leute behindern, „dissen“ oder verletzen, noch in der Minderheit sind, auch wenn ihre Zahl gefühlt höher zu werden scheint.
Ansonsten liegt nämlich das schlechte Benehmen im Großen – die Gewalt, das Verbrechen – auch nicht mehr so irre weit weg; das alles könnte in Faschismus und Autokratie enden, was erstaunlicherweise von nicht gerade wenigen Leuten als erstrebenswert empfunden wird. Wer sich nicht um Andere schert, weil er oder sie sich einredet, selber irgendwie „abgehängt“ zu sein, macht dann unter Umständen in der Wahlkabine das Kreuz bei den Faschos und Nazis. Das mag vielleicht als gewagte These bewertet werden, aber ich sehe schon eine sehr reale Gefahr, dass schlechte Umgangsformen – rohe Sitten im Kleinen – zu Schlimmerem führen können. Der Firnis der Zivilisation ist sehr dünn.
Dr. Brian Cooper
Guten Morgen,
was für eine Grundsatzdiskussion, besser gesagt, was für ein Grundsatzkommentar!
Ich arbeite seit Jahrzehnten in der frühkindlichen Bildung und kann Ihre Gedanken nicht nur sehr gut nachvollziehen, sondern auch bestätigen. Die Gründe, warum Eltern ihren Kindern nicht mehr „viel mitgeben“, wie Sie es nennen, sind vielschichtig. Sicher sind berufstätige Eltern sehr eingespannt und auf Grund der prekären Situation in unseren Kindergärten auch recht angespannt. Dennoch beschleicht mich von Zeit zu Zeit der Gedanke, dass Eltern sich in der Verantwortung für die eigenen Kinder sehr zurücknehmen. Es werden Forderungen gestellt, die aus den Kindern, aus pädagogischer Sicht, nicht zuträglich sind, z.B. Einrichtungen, die rund um die Uhr geöffnet haben. Ich verstehe beruflichen Druck, aber ich denke auch, dass die größte Verantwortung für die eigenen Kinder bei den Eltern liegen muss. Ich werde immer wieder mit Vorwürfen seitens der Eltern konfrontiert, dass ihr Kind dieses oder jenes noch nicht gelernt habe. Ja, wo steht denn geschrieben, dass es allein den Einrichtungen vorbehalten ist, Kindern Fähigkeiten und Fertigkeiten und Wissen beizubringen? Kindererziehung ist eigentlich nicht schwierig, durch Vorbildhaltung seitens Erwachsener ist das Meiste getan. Doch sollte dieses Vorbild positiv sein und da gruselt es mich; Ihre Beispiele sind da sehr eindrücklich. Da sitzen Menschen mit Hunderten anderen in einem Konzertsaal und sind der Meinung, sie müssten ihren (sehr subjektiven) Unmut lautstark kundtun. Warum? Weil sie Geld bezahlt haben und dafür schließlich etwas erwarten dürfen? Da schaffen es Erwachsene nicht, einfach in einer Schlange anzustehen. Warum? Weil ihre Zeit Geld ist und da sie so wichtige Menschen sind, ist ihre Zeit viel Geld? Woher sollen Kinder Höflichkeit, Geduld, Toleranz und Empathie lernen? Im (durchaus richtigen) Bestreben, die Persönlichkeit der Kinder zu achten und ihr Entfaltungsmöglichkeit zu geben, wird vergessen, dass es dazu unbedingt Regeln und Grenzen braucht. In der Kombination mit fehlenden positiven Vorbildern, erziehen wir eine Generation kleiner Tyrannen, die gelernt haben, dass die eigenen Bedürfnisse oberste Priorität haben. Ich schrieb es schon einmal in einem Kommentar: Hoffnung geben mir jene jungen Menschen, die innehalten und darüber nachdenken, was wirklich wichtig ist, im Leben. Und all jene Eltern, die die Werte, von denen ich sprach, an ihre Kindern weitergeben möchten. Ich kann mit den gleichen Worten wie in meinem früheren Kommentar schließen: Mögen sie nicht scheitern!
Kathrin Beyer