Foto: Kristiina Poska © Kaupo Kikkas
Concertgebouw Brügge, 3.10.2019
Kristiina Poska, Dirigentin
Lorenzo Gatto, Violine
Pieter Wispelwey, Cello
Sinfonieorchester Flandern
Wilhelm Stenhammar – Intermezzo aus „Sången“
Johannes Brahms – Doppelkonzert a-Moll für Violine, Violoncello und Orchester op. 102
Johannes Brahms – Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 73
von Daniel Janz
Mit Kristiina Poska (41) übernimmt in Flandern zum ersten Mal eine Frau das Orchester als Chefdirigentin. Insgesamt hatte sich das Sinfonieorchester eineinhalb Jahre Zeit gelassen, bevor man in der Estin schließlich im Jahr des 60-jährigen Bestehens fündig wurde. Beweisen muss sie sich dabei zu ihrem Einstand in einem nicht einfachen Programm inklusive Brahms‘ Doppelkonzert.
Der Umstand, dass dieses Programm im Vorfeld bereits vorgegeben worden war, macht diese Aufgabe nicht leichter. Ihrer eigenen Aussage zufolge ist es aber ideal auf sie zugeschnitten worden. Tatsächlich gab sie gegenüber klassik-begeistert.de zu, dass Brahms einer der Komponisten ist, mit dem sie am meisten verbindet – besonders seine zweite Sinfonie hätte durch ihre 15 Jahre Studienzeit in Deutschland auch eine persönliche Bedeutung für sie gewonnen.
Zum Einstieg gibt es jedoch einen Komponisten, der eher selten zu hören ist. Wilhelm Stenhammar, schwedischer Komponist (1871 – 1927), ist vor allem durch seine Sinfonien bekannt. Am heutigen Abend erklingt das Intermezzo aus seiner finalen Kantate Sången. In dieser klassizistischen Einleitung herrscht vor allem Tonartenfunktionalität vor. Die Musik schwebt eher, als sich zu bewegen, ruhig ebben die einzelnen Orchestergruppen – unter präziser Anleitung von Poska – auf und ab. Ein Stück, das zur Einstimmung und Entspannung einlädt, aber nicht viel Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Insofern ein Achtungserfolg für das Ensemble, dass sie dies trotzdem mit Spannung und Einfühlsamkeit zu Gehör bringen.
Das Doppelkonzert von Johannes Brahms – seine letzte Komposition, 1887 – stellt dagegen nicht nur einen dramaturgischen, sondern auch einen kompositorischen Kontrast dar. Dieses Werk ist nicht nur schwer zu spielen, sondern war lange Zeit auch noch höchstumstritten. Während Zeitgenossen wie Hans von Bülow oder Clara Schumann es als „höchst interessant“ oder „famos“ bezeichneten, sprach Theodor Billroth beispielsweise von einer „trostlos, langweiligen, reinen Greisenproduktion“.
Der letztere Negativeindruck entsteht am heutigen Abend überhaupt nicht. Nicht nur Poska wirkt durch ihre selbstsichere Haltung vollentschlossen. Hervorragende Unterstützung erhält sie dabei auch von den beiden Solisten Lorenzo Gatto (32), Violine, aus Belgien und Pieter Wispelwey (57), Cello, aus den Niederlanden.
Beide können bereits vom ersten Ton an mitreißen. Wispelwey entzückt durch einen sehr energischen und vollen Klang, während Gattos filigrane Passagen ab und an etwas schulmeisterlich daher kommen. Im Duett verzaubern die beiden jedoch gleichermaßen – in lauten, dramatischen Stellen brillieren sie selbst gegen das ganze Orchester, in den einfühlsamen laden sie zum Träumen ein. Es ist höchster Genuss, ihnen im Wechsel- oder Parallelspiel zuzuhören. Hier ragen sie beide in gleicher Weise heraus.
Aber auch die Leistung des Orchesters darf nicht vergessen werden. Auch hier ist es wieder Poskas klarer Führung zu verdanken, dass sich ein auf die Millisekunde genaues Spiel einstellt, das die Grundlage für diese solistischen Meisterleistungen bildet. So können der erste und dritte Satz begeistern, während der zweite zum Träumen einlädt.
Dafür ernten auch alle Akteure – insbesondere die beiden starken Solisten – furiosen Applaus, einige Zuschauer quittieren diese Leistung sogar mit Stehenden Ovationen. Schade nur, dass der einstimmige Wunsch nach Zugaben unerfüllt bleibt.
Auch wenn sie in den beiden vorausgegangenen Werken schon überzeugende Akzente setzen konnte, so schlägt die eigentliche Sternstunde der Dirigentin dann doch im Hauptwerk des Abends. Brahms zweite Sinfonie aus dem Jahr 1877 gilt auch heute als eine der populärsten Kompositionen des Komponisten, ist jedoch nicht ohne Schwächen. Dies fiel auch schon Zeitgenossen auf, die beispielsweise davon sprachen, dass diese Sinfonie „nicht sinfonisch gedacht“ wäre oder zu „klaviermäßig“ erscheinen würde.
Dieser Eindruck bestätigt sich vor allem im zweiten Satz mit dessen oft ziellos vor sich hinfließenden Passagen, die einem Orchester nur allzu leicht entgleiten oder gar Langeweile hervorrufen können. Das passiert nach einem guten ersten Satz heute Abend auch beinahe dem Sinfonieorchester Flandern. Der Dirigentin Poska gelingt es gerade noch, diese Aufführung durch ihre geordnete Leitung und ihre bis aufs Feinste abgestimmte Akzentuierung zu retten. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass man nicht erst 60 und männlich sein muss, um Brahms verstehen und aufführen zu können.
Dadurch überzeugen auch der kurze – insbesondere durch die herausragende erste Oboe getragene – dritte Satz und das im Wechsel furios/lyrische Finale. Die feine Abwägung zwischen Behutsamkeit und Expression, die man auch schon im ersten Satz und im Doppelkonzert miterleben durfte, begegnet einem hier wieder. Bis zum Schluss können Poska und alle Musikergruppen bezaubern. Die Krönung ist ein regelrecht zelebriertes Finale, das gar keine Zweifel mehr lässt, dass man hier vieles richtig gemacht hat.
Dem kraftvollen Schluss folgen anschließend tosender Applaus und etliche Bravorufe. Mit Kristiina Poska hat hier eine Dirigentin die Arbeit aufgenommen, die weiß, was aus diesem Orchester herauszuholen ist und wie man große Musik zur Aufführung bringt. Ein deutlicher Einstand, der Lust auf mehr macht. Für einen zukünftigen Belgienbesuch sollte man sich diesen Namen und dieses Orchester merken.
Daniel Janz, 5. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de