KU’DAMM 59: Kann ein modernes Musical der inhaltsreichen Vorlage eines Fernseh-Dreiteilers genügen?

KU’DAMM 59 Musical von Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Joshua Lange  Theater des Westens, 10. August 2024

Fotos © Jörn Hartmann

Noch bitten sie zum Tanz. Caterina Schöllack mit ihren Töchtern Monika, Eva und Helga. Doch die heile Welt ihrer Tanzschule an Berlins Prachtboulevard bröckelt vor sich hin. Die späten fünfziger Jahre bescheren enorme Veränderungen. Neue Umgangsformen ersetzen alte „Benimm“-Regeln. Und die Musik wird rockiger und lauter.

KU’DAMM 59
Musical von Peter Plate, Ulf Leo Sommer und Joshua Lange

Buch: Annette Hess

Choreographie: Jonathan Huor
Regie: Christoph Drewitz

Es spielt die Kapelle „The Monikas“

Uraufführung am 5. Mai 2024 in Berlin

Theater des Westens, 10. August 2024

von Ralf Krüger 

Monika Schöllack und der Tagträumer Freddy haben eine gemeinsame Tochter. Unehelich geboren, also unerhört, wie Caterina findet. Sie, die alle Probleme in der Familie löst, findet auch hier eine Lösung. Das Kind wird im Haushalt von Helga und Wolfgang aufgezogen. Ein Adoptionsantrag ist gestellt, gut bürgerliche Verhältnisse sind garantiert, denn der Mann ist Staatsanwalt. Doch seine Homosexualität kann er bald nicht mehr verbergen. Eva will eine emanzipierte Frau sein, will selbst Geld verdienen und die Fahrprüfung bestehen. Doch damit ist sie völlig aus der Zeit gefallen. Im Jahre 1959 hat noch der Ehemann das Sagen. Nur er entscheidet, was gut und richtig ist.

Ausgestattet mit diesem Knäuel an beginnenden Handlungssträngen, betreten wir die Tanzschule der Schöllack-Frauen. Auf dem Parkett tobt eine Castingshow fürs Fernsehen und bald auch für einen Kinofilm. Frau Moser, selbst ernannte Star-Regisseurin in braunen Vorzeiten („… ich habe mit Gründgens gearbeitet…“), begibt sich in die Niederungen des deutschen Heimatfilms und castet Monika und Freddy für Allotria am Wolfgangsee.

Foto © Jörn Hartmann

Diese sehr starke Rolle der Christa Moser irritiert den Teil der Zuschauer, die Ku’damm 59 als ZDF-Produktion kennen. Die Heimatfilm-Geschichte war dort nur ein kleines Puzzle vom Ganzen, hier dominiert sie fast den gesamten ersten Teil. „Was auch kommt, was auch geschieht, nichts stoppt den Showbetrieb“, singt Steffi Irmen in der Rolle der Moser und der Song wird einer der ersten Hits dieses Programms. Frau Irmen spielt in diesen Momenten mit ihrer Bühnenpräsenz fast die gesamte Schöllak-Familie an die Wand.

Kurz vor der Pause bricht Eva aus. Ihr ehrenwerter Gatte, ärztlicher Professor einer Klinik, hatte den heimlich erworbenen Führerschein verbrannt. Das zu ertragen, ist ihr unmöglich. „Wenn die Schwalbe in den Himmel schaut“ ist ein einziger Schrei nach Freiheit und eine Ballade, die so nur das Musical kennt. Wir erleben Lucille-Mareen Mayr auf der Bühne und fragen uns mit ihr, wo will sie hin, als verheiratete Frau, in diesen Zeiten?

Foto © Jörn Hartmann

„… zu problembehaftet für ein Musical“, sagt meine Frau, als wir in der Pause durch das wunderschöne Foyer des Theaters flanieren. Ja, die Macher des Musicals haben sich wirklich alle Mühe gegeben: Kurze prägnante Dialoge werden in Einzel-Songs, auch in Duette und Chöre gebettet, doch die Themen-Vielfalt der Handlung erdrückt einen.

Das Ost-West-Thema, das Unvermeidliche, gelingt besser als ich annahm. Für jemanden, wie mich, der den Mauerfall in Berlin live erlebt hat, berühren Momente wie diese, wenn sich der schwule Staatsanwalt aus West-Berlin mit dem schwulen Rechtsanwalt aus Ost-Berlin im Niemandsland trifft. „Zwischen Ost und West“ heißt dieses feine Lied, das Philipp Nowicki und Alexander Auler heute gestalten. Doch merke: wir haben 1959, die Mauer wird erst in zwei Jahren gebaut und das Schlimmste kommt somit noch…

Foto © Jörn Hartmann

Wie wird die Rolle der Mutter Schöllack angelegt? Die wunderbare Claudia Michelsen spielte sie im Fernsehen. Auf der Bühne erleben wir sie mit Karolin Konert. Eine Rolle, die erst klein am Rande plänkelt, doch als der Heimatfilm mit ihrer Tochter Monika floppt und die Star-Regisseurin am Boden liegt, castet sich Caterina selbst und empfiehlt sich als „Belinda Hochreiter“, als Hotelchefin und Mutter zugleich, die bei Vollmond anfängt zu tanzen, „denn der Vollmond macht mich so fragil“. Dieser Auftritt ist derart umwerfend und macht wohl auch dem letztem im Publikum klar, dass man Ku’damm 59 doch als Musical betrachten muss und nicht als dramatischen Fernsehfilm in Bühnenfassung.

Foto © Jörn Hartmann

Das Ende ist dann auch anders als im Film, gemäßigter und fröhlicher. Wem ist nur dieses grandiose Finale eingefallen, dieses Wohn-Ensemble da mitten auf der Bühne? Ich will erst gar nicht versuchen, es zu beschreiben, man muss es gesehen haben. Als der Vorhang fällt, kurz vor 18 Uhr, scheint noch die Augustsonne auf Berlin. Wir überqueren die Kantstraße und sind in zwei Minuten am Ku’damm. Es ist laut. Autos, Busse, Touristen, teure Geschäfte mit Wachschutz, Steakhäuser und Baustellen. Normalität. 65 Jahre sind seit der Handlung des Musicals vergangen. So vieles hat sich verändert. Der Ku’damm ist geblieben, als ein Teil Berlins. Ich bin zufrieden.

Ralf Krüger, 11. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Das Musical KU’DAMM 59 ist immer von dienstags bis sonntags um 19:30 Uhr zu erleben, an den Wochenenden zusätzlich auch um 15:00 Uhr.

Stage Theater des Westens, Berlin, Kantstraße 12, nur wenige Gehminuten entfernt vom Bahnhof Zoologischer Garten. Ein Parkhaus grenzt unmittelbar ans Theater.

Ebb/Fosse/Kander, Chicago, Ein Musical Vaudeville Komische Oper im Schillertheater, 17. November 2023

Stephen Sondheims Musical „Sweeney Todd“ Theater Lübeck, 14. Oktober 2023, PREMIERE

Sing mich um den Verstand! Operetten- und Musical-Revue Theater Lübeck, 29. Oktober 2022

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert