Le Grand Macabre 2024 © Wilfried Hoesl
Mit gespitzten Ohren erfreue ich mich äußerst aufmerksam an der sicher folgenden nächsten Klangüberraschung Ligetis. Krzysztof Warlikowski mit seinem Team erschafft eine eindrückliche überzeugende Atmosphäre. Ich fühle mich dem im Stück gezeigten gar nicht so Absurden unangenehm nah. Le Grand Macabre ist in diese Zeit gefallen, aktuell! Dafür erhält die gesamte Künstlerschaft auf der Bühne von mir und wie ich hoffe aus Gründen, die wie bei mir weit über das Gefallen hinausgehen, einen warmen starken Schlussapplaus.
Le Grand Macabre (1978 / rev. F. 1996)
Komponist György Ligeti
Libretto von György Ligeti und Michael Meschke
Musikalische Leitung Kent Nagano
Inszenierung Krzysztof Warlikowski
Nationaltheater, München, 28. Juni 2024
von Frank Heublein
An diesem Abend wird György Ligetis Le Grand Macabre zum ersten Mal in München und als erste Premiere der Münchner Opernfestspiele 2024 auf die Bühne des Nationaltheaters gebracht.
Ich schaffe an diesem Abend, dem Filmzitat aus L.A. Story „Lass deinen Verstand fallen und dein Körper wird folgen“ gerecht zu werden.
Entsprechend zieht mich die Musik in ihren Bann. Mit gespitzten Ohren erfreue ich mich äußerst aufmerksam an der sicher folgenden nächsten Klangüberraschung Ligetis. Diese serviert überzeugend das Bayerische Staatsorchester mit Kent Nagano am Pult. Etwa wenn am Ende des dritten Bildes ein Marschthema überlagert, verfremdet wird, ein anderes musikalisches Zitat abrupt hineingeworfen wird. Ein Blick in die Orchesterbesetzung – ich habe diese angehängt – verrät, dass instrumentale und stimmliche Klänge mit Geräuschen durchsetzt werden. Die Komposition bricht sich permanent selbst. Ligeti nennt seine Komposition eine „Anti Anti Oper“.
Ich bin mir in Einem sicher: „alles“ habe ich an diesem Abend aus der Musik sicher nicht „heraus“-gehört. Doch ist im Absurden „alles“ eine relevante Messlatte? Ich glaube nicht. Das Programmbuch informiert, dass fünf Kategorien des Absurden im Stück herausgearbeitet werden:
das Widersinnige / Verrückte / Paradoxe; das Doppelbödige; das Tragikomische; das Groteske; die Ironisierung. Für mich ist das 1976 Widersinnige / Verrückte / Paradoxe, das Groteske, die Ironisierung jedenfalls nah dran an der von mir wahrgenommen Realität. Ist die heutige Welt also absurd(er) geworden, frage ich mich?
Etwa die Szene der beiden Minister, eindrucksvoll gesungen von Bass Bálint Szabó und Tenor Kevin Conners im dritten Bild. Hätte man dafür einen Ausschnitt des ersten US-Präsidentenwahl-TV-Duells 2024 eingespielt: keiner hätte einen inhaltlichen Unterschied entdeckt. Vollkommen irre, dass dies für mich funktioniert. Habe wohl zu viel Deutschlandfunk am Morgen dieses Abends gehört. So werden in mir weitere Doppelböden geöffnet, mit denen Ligeti nicht planen konnte. Der absurde Ansatz macht’s möglich.
Eine hiesige weltliche Normalität (I), die ich wahrnehme und im Stück gespiegelt sehe: „bitte mich retten, die anderen sind egal“. So wird Nekrotzar angebettelt von der Menge im dritten Bild, in dem er mitteilt, dass der Weltuntergang – jetzt! – stattfindet. Haben die Menschen der Bankenwerbung vielleicht Le Grand Macabre zitiert? „Meine Sense. Meine Trompete. Mein Pferd. Mein Komet.“ singt Nekrotzar im Stück. Wenn’s um die Welt geht, klappt selbst der Untergang nicht. Bariton Michael Nagy verkörpert Nekrotzar stark. Wuchtig singt in der Vorhersage des Untergangs im dritten Bild, kleinlaut die Feststellung im vierten: ihr seid am Leben. Ich höre das ungesungen-mitgedachte Schimpfwort laut in meinem Kopf. Eine große stimmliche wie schauspielerische Leistung.
Le Grand Macabre 2024, J. Holiday, S. Aristidou © Wilfried Hoesl
Hiesige weltliche Normalität (II): Worthülsen ohne Inhalt. Dafür steht der Chef der Geheimen Politischen Polizei (Gepopo) gesungen von Sopranistin Sarah Aristidou im dritten Bild. Sie wird auf einen Tisch? Ein Pferd? Egal! gehoben. Sie darf gesanglich die obersten Register ziehen. Bewusst forcieren. Diese Arie meistert Aristidou mit Bravour. Doch ob jetzt der Komet kommt oder nicht, die Welt untergeht oder nicht – kein Wort davon. Spielt auch keine Rolle, weil:
Hiesige weltliche Normalität (III): Weltuntergang (ich assoziiere: Klimawandel)? Ohne mich! Amanda gesungen von Sopranistin Seonwoo Lee und Amando verkörpert durch Altistin Avery Amereau. Schönheitsoperiert. Gierig der Lust frönend – so singen die beiden, oh ja – ein stilles Plätzchen suchend, ist ihnen die Welt außerhalb der beiden Körper gänzlich Wurst. Der beiden langes Duett im ersten Bild finde ich großartig. Mein Körper folgt dem fallenden Verstand. Ein musikalisch wie spielerisch toller Moment des Abends, den die Inszenierung mit einer Übertragung der Handykamera auf einen Teil der Hinterbühnenwand gut verstärkt.
Wenn es nicht anders geht, dann geht doch immer Alkohol. Die mit sprechendem Namen ausgestattete Figur Piet vom Fass singt Tenor Benjamin Bruns. Er singt mich super zum Teil schluckaufend ins Stück hinein im ersten Bild. Zusammen mit Bass-Bariton Sam Carl als Astradamors singt Bruns im vierten Bild das „im Jenseits ist es ganz okay“ Duett auf rollenden, unorthopädischen, kunstledern-kackbraunen Bürostühlen. Coole Choreografie. In einem langen harmonischen warmen entspannten Moment rollen die beiden singend um sich drehend auf der Bühne. Musikalisch außergewöhnlich zart im Stück. Die beiden bringen das stimmlich anrührend und zugleich mit „iss halt so“ Attitüde rüber. Ich bin beeindruckt.
Regisseur Krzysztof Warlikowski mit seinem Team erschafft eine eindrückliche überzeugende Atmosphäre durch Videoaufnahmen, Lichtgestaltung und einem Raum-in-Raum Konzept, etwa einen stachelbedrahteten Geflüchtetenabschiebehof, so interpretiere ich diesen Raum. Warlikowski intensiviert damit die Wirkung des Stücks erheblich.
Ich fühle mich dem im Stück gezeigten gar nicht so Absurden unangenehm nah. Le Grand Macabre ist in diese Zeit gefallen, aktuell! Dafür erhält die gesamte Künstlerschaft auf der Bühne von mir und wie ich hoffe aus Gründen, die wie bei mir weit über das Gefallen hinausgehen, einen warmen starken Schlussapplaus.
Frank Heublein, 29. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Le Grand Macabre
Komponist György Ligeti (1923-2006). Libretto von György Ligeti und Michael Meschke nach dem Schauspiel La balade du Grand Macabre von Michel de Ghelderode.
Oper in englischer Sprache in vier Bildern (1978, revidierte Fassung von 1996)
Besetzung
Musikalische Leitung Kent Nagano
Inszenierung Krzysztof Warlikowski
Bühne und Kostüme Małgorzata Szczęśniak
Licht Felice Ross
Video Kamil Polak
Choreographie Claude Bardouil
Chor Christoph Heil
Dramaturgie Christian Longchamp, Olaf Roth
Chef der Geheimen Politischen Polizei (Gepopo) Sarah Aristidou
Venus Sarah Aristidou
Amanda Seonwoo Lee
Amando Avery Amereau
Fürst Go-Go John Holiday
Astradamors Sam Carl
Mescalina Lindsay Ammann
Piet vom Fass Benjamin Bruns
Nekrotzar Michael Nagy
Ruffiack Andrew Hamilton
Schobiack Thomas Mole
Schabernack Nikita Volkov
Weißer Minister Kevin Conners
Schwarzer Minister Bálint Szabó
Refugees (Chorsoli) Isabel Becker, Sabine Heckmann, Saeyong Park, Sang-Eun Shim
Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor
Orchesterbesetzung:
3 Flöten (2. und 3. auch Piccolo), 3 Oboen (2. auch Oboe d’amore, 3. auch Englischhorn), 3 Klarinetten in B (2. auch Klarinette in Es und Altsaxophon in Es, 3. auch Bassklarinette in B), 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott) – 4 Hörner in F, 4 Trompeten in C (1. und 2. ad lib. – Kleine Trompete in D), Basstrompete in C, 3 Posaunen (Tenor – Tenor / Bass – Kontrabass), Kontrabasstuba, Pauken, Schlagzeug (3 Spieler, u.a. Xylophon, Vibraphon, Marimbaphon, 12 mechanische Autohupen, 6 elektrische Türklingeln, 4 Tomtoms, 2 Gueros, 2 große Holzhämmer sowie diverse Objekte zur Geräuscherzeugung wie Zeitungspapier oder ein Kochtopf) – 3 chromatische Mundharmonikas – Cembalo (auch Celesta), Konzertflügel (auch elektrisches Klavier), elektrische Orgel (auch Regal) – Harfe – Mandoline – Streicher