„Verderben über euch alle! Verräter, Mörder!“

Lear, Oper von Aribert Reimann  Staatsoper Hannover, 10. Februar 2024 PREMIERE

Lear © Sandra Then

Aribert Reimanns Lear feiert am 10. Februar 2024 eine
umjubelte Premiere an der Staatsoper Hannover.

Lear
Oper von Aribert Reimann
Libretto von Claus H. Henneberg

nach William Shakespeare

Musikalische Leitung   Stephan Zilias
Inszenierung   Joe Hill-Gibbins

Besetzung:

König Lear   Michael Kupfer-Radecky
König von Frankreich   Yannick Spanier / Richard Walshe
Herzog von Albany   Darwin Prakash
Herzog von Cornwall   Pawel Brozek
Graf von Kent   Marco Lee
Graf von Gloster   Frank Schneiders
Edgar, Glosters Sohn   Nils Wanderer / Andrew Watts
Edmund, Bastard Glosters   Robert Künzli
Goneril   Angela Denoke
Regan   Kiandra Howarth
Cordelia   Meredith Wohlgemuth
Narr   Nico Holonics
Bedienter   Fabio Dorizzi
Ritter   Ingolf Kumbrink

Chor der Staatsoper Hannover, Statisterie der Staatsoper Hannover
Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

 Staatsoper Hannover, 10. Februar 2024

 von Axel Wuttke

Wenn sich der Vorhang hebt, sehen wir in der Mitte der ansonsten leeren Bühne einen Turm aus Pappkartons, Symbol für Macht und Sicherheit.

König Lear tritt mit Gefolge auf. Er trägt einen weißen Pelzmantel und eine große goldene Krone, seine Töchter weiße Kleider. Es darf royal gelächelt werden. Eine Familienidylle? Bei weitem nicht.

Lear © Sandra Then

Was so schön aussieht, ist der Beginn einer Katastrophe, die für fast alle tödlich endet. In die Wege geleitet von König Lear, der nach Anerkennung und Dank verlangt, aber in Wirklichkeit Liebe meint.
Die empfindet nur seine jüngste Tochter für ihn, das erkennt er aber erst am Ende, wenn nichts mehr zu retten ist. Intrigen, Gewalt und Wahnsinn begleiten seinen schmerzhaften Weg zu dieser Erkenntnis.

Lear © Sandra Then

Genial der Einfall von Bühnenbildner Tom Scutt, mithilfe der Kartons das Bühnengeschehen zu kommentieren und zu unterstützen. Der Karton-Turm, der schon am Ende der ersten Szene teilweise zusammenstürzt, symbolisiert den beginnenden Verfall König Lears und der Menschen in seinem Umfeld. Hin und her geschoben oder geworfen, können die Kartons sowohl als Gefängnis als auch als Grenze oder Waffe fungieren.

In der Sturmszene stürzten dann alle Kartons ein, es ergeben sich neue Perspektiven und Spielräume. Auf einer Empore im Hintergrund sitzen die 7 Musikerinnen und Musiker, die das umfangreiche Schlagwerk bedienen, als wären sie jetzt ein Teil der Inszenierung, für alle sichtbar. Die von ihnen ausgehende rhythmische und klangliche Kraft wird, besonders in der Blendungs-Szene von Gloster und der Schlussszene, so auch physisch erlebbar. Ein wunderbarer Einfall, der aus der Not eine Tugend macht, da das Schlagwerk nicht in den voll besetzten Orchestergraben gepasst hätte.

Außerdem hat dies den Vorteil, dass die klangliche Dimension homogener wirkt und das Schlagwerk in den Orchesterklang eingebettet ist. Bei den Klanggewalten dieser Oper ein großer Vorteil.

Lear © Sandra Then

GMD Stephan Zilias und sein in allen Instrumentengruppen hervorragend spielendes Staatsorchester meistern die Herausforderungen dieser gewiss nicht leicht zu spielenden Musik beispielhaft. Der Dirigent strahlt eine große Ruhe und Kennerschaft aus, alles wirkt unaufgeregt und klar strukturiert.

Die Klang-Eruptionen, Ton-Schichtungen, sowie die Lyrismen dieser noch immer außergewöhnlichen Komposition kostet er mit seinem Orchester voll aus.  Zusammen schaffen sie eine erschütternde, aufrüttelnde Atmosphäre, die bei Lears Auftritt am Ende kaum zu ertragen ist.

Dies ist auch ein Verdienst der ganz auf die Personen zugeschnittenen Regie von Joe Hill-Gibbins. Mit einfachen Bewegungsabläufen zeichnet er klare Figuren und lässt sie durch ihre Gestik die inneren Gedanken mit ausspielen. Alles ist aus der Musik heraus erarbeitet und entwickelt sich mit den Personen.

Das Gleiche gilt für die Kostüme von Evie Gurney. Auch sie folgen der Dramaturgie und unterstützen optisch den Wandel der Charaktere.

„Weint, weint“ beginnt König Lear seinen Klagegesang in der letzten Szene. Er steht, nur in Hose und Socken, auf dem Arm seine tote Tochter Cordelia, unter einem großen Scheinwerfer. Ein Schreckensbild.

Wenn Michael Kupfer-Radecky diese Worte singt, begleitet von unendlich schmerzlichen Orchesterklängen, ist man ganz bei ihm. Es ist der Augenblick der Erkenntnis, der nochmal zum großen Ausbruch führt. Mit seinem klaren, durch ein unverwechselbares Timbre ausgestatteten Bariton, hat er uns bis zu dieser Szene alle Facetten des König Lear auf phänomenale Weise vorgeführt. Arroganz, Wut, Hass, Verzweiflung, er hat gewütet, gebettelt, gefleht, deliriert. Mit nie nachlassender Stimmqualität und einer exquisiten Textverständlichkeit, scheint ihm die Rolle wie auf den Leib geschneidert. Eine beeindruckende Ausnahme-Leistung.

Lear © Sandra Then

Ihm zur Seite ein in allen Rollen erstklassig besetztes Sängerensemble. Allen voran die Sängerinnen seiner drei Töchter. Goneril wird von Angela Denoke mit kühlem, unnahbarem Ausdruck und großer Stimm-Attacke gesungen. Kiandra Howarth gibt dem hysterischen Charakter der Regan durch klare Koloraturen Kontur. Das lyrische Gegengewicht bildet die jüngste Tochter, Cordelia, von Meredith Wohlgemuth mit klarem, in der Höhe wunderbar aufblühendem Sopran gesungen.

Überhaupt ist auffällig, dass alle Rollen optimal besetzt sind und dass so textverständlich gesungen wird. Ein großes Lob an das Einstudierungs-Team.

Robert Künzli gestaltet mit seinem Tristan-erprobtem, strahlenden Tenor einen herrischen, auftrumpfenden, trotz größter Dramatik immer klangschön gesungenen Edmund. Sein Halbbruder Edgar wird von Nils Wanderer mit rundem, voluminösem, nie forciertem Countertenor gesungen.

Frank Schneiders verleiht dem zuerst herrischen, später bemitleidenswerten Graf von Gloster ein starkes Profil.

Ein großes Lob auch für Yannick Spanier, Darwin Prakash, Pawel Brozek, Marco Lee und für Nico Holonics als Narr, die alle mit großem Einsatz ihren Anteil zum Gelingen dieses großartigen Abends beigetragen haben.

Alle, die an dieser Produktion beteiligt waren, vor, auf und hinter der Bühne, kann man nur für Ihren Einsatz bewundern, der diesen Opernabend ermöglicht hat.

Starker, lang anhaltender Applaus und viele Bravorufe für alle Beteiligten. Dieses Erlebnis klingt lange nach.

Axel Wuttke, 13. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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