»...eine absolute musikalische Schizophrenie«: Candide an der Komischen Oper Berlin

Leonard Bernstein, Candide,  Komische Oper Berlin

Foto:  © Monika Rittershaus
Komische Oper Berlin
, 12. Dezember 2018
Leonard Bernstein, Candide

von Gabriel Pech

Es ist leicht, über eine Candide-Inszenierung zu schimpfen. Seit ihrer Uraufführung umschwebt diese Musical-Operette von Leonard Bernstein eine kontroverse Diskussion. Das Stück passt in keine Schublade: Mal zeigt es berührende Szenen wie in »West Side Story«, im nächsten Moment fühlt man sich eher an Brechts »Dreigroschen-Oper« erinnert. Die Handlung gleicht einer Philosophiestunde im Nihilismus, einem Gedankenexperiment ohne Anspruch auf Plausibilität.

Doch genau das ist der Punkt: Es handelt sich eben um ein Bühnenwerk, das andere Ziele verfolgt, als »bloß« emotional zu unterhalten. Die frühe Musical-Schule um Leonard Bernstein und Stephen Sondheim ist voll von diesen Brechungen, die das Theater im Theater thematisieren. Barry Kosky traut sich, ein bisschen Broadway-Zauber nach Berlin zu bringen.

Er reizt jede Szene bis zur Absurdität aus: Ja, es gibt Sombreros auf der Bühne, ja, es gibt auch eine Reihe von in Federboas gehüllten Showgirls und -boys und ja, es gibt zehn Minuten Goldregen. Doch grade das ist notwendig, um das Stück in seiner Seltsamkeit verständlich und witzig zu machen. Für Kostüm und Bühnenbild zeichnen sich Klaus Bruns  und Rebecca Ringst verantwortlich, wobei letztere in Sachen Bühnenbild eher weniger zu tun hatte: Die Bühne füllt sich die meiste Zeit allein durch die aufwendigen Kostüme, die keine Form von Kolorit scheuen, Lokal- oder anderweitig.

An diesem Abend steht die Zweitbesetzung auf dem Plan. Leider überträgt sich an vielen Stellen der intelligente Witz nicht, was vor allem an der Sprachbarriere liegt. Die deutsche Übersetzung von Martin G. Berger ist im Grunde sehr gut und hinreißend komisch, spielt aber genau wie die Originalfassung mit Worten und schnellen Gags. Gags, die einfach nicht rüberkommen, wenn man sie nicht auf Anhieb versteht. Manchmal denkt man sich, sie hätten doch lieber auf Englisch spielen sollen.

Sehr zu loben ist in dieser Hinsicht allerdings Paul Curievici, dem man den charmanten, gutgläubigen Candide bis ins Detail abnimmt, vielleicht auch, weil der gestelzte Sprachduktus gut zu diesem Charakter passt. Auf der anderen Seite gelingt es Meechot Marrero nicht, den Prozess von dem naiven Jungfräulein Kunigunde zur mit allen Wassern gewaschenen Lebenskünstlerin glaubhaft zu vermitteln. Auch bei Fredrika Brillembourgs Darstellung der alten Frau braucht man sehr viel Gutmütigkeit, um sie zu mögen und mit ihr / über sie lachen zu können.

Gott sei Dank ist Franz Hawlata (Erst- und einzige Besetzung!) zur Stelle, um den Abend als Voltaire/Dr. Pangloss zusammenzuhalten. In der Rolle des Erzählers seiner eigenen Geschichte füllt Hawlata diese endlos langen Prosa-Passagen mit Leben und Humor. Auch als Dr. Pangloss hört man ihm gerne zu, wenn er die (stark verkürzte) Philosophie Leibnitz‘ vorträgt: »Wir leben in der besten aller möglichen Welten.« Zusätzlich zu seiner schauspielerischen Brillianz hat Hawlata auch stimmlich solide baritonale Anlagen, mit denen er seine Songs überzeugend verkaufen kann.

Paul Curievici versöhnt uns mit seinem wunderschön weichen Tenor. Er besitzt eine schlanke Klangfarbe, die von einer stabilen Kontinuität geprägt ist. Dazu kommt noch, dass ihm die Lederhosen ganz fabelhaft stehen.

Neben ihrer sprachlichen Einschränkung hat auch Meechot Marrero eine gute Stimme vorzuweisen. Mit ihrem feinen Vibrato eignet sich ihr Sopran ausgezeichnet für diese delikate Rolle. Vor allem ihre klaren, durchdringenden Höhen passen hervorragend zu ihrer Paradenummer: Die hier präsentierte Version von dem Showstopper »Glitter And Be Gay« findet an einer Pole-Dancing-Stange statt und ist anders, als alles, was man von diesem Song gewohnt ist. Marrero gelingt es, die nötige Leichtigkeit aufzubringen, um die beeindruckenden herausgestellten Hochtöne und die fulminanten Koloraturen genauso zu meistern wie den abstrusen, sarkastischen Humor.

Fredrika Brillembourg als alte Frau besticht mit ihrem soliden Schauspiel, welches das Publikum trotz ihren Sprachproblemen emotional mitnimmt. Leider ist ihre hohe Lage etwas weniger ausgeprägt im Vergleich zu dem Rest ihres Mezzosoprans wodurch auch der Übergang vom Belten zum belcanto nicht nahtlos verläuft.

Aus den zahlreichen Nebenrollen sticht Tom Erik Lie heraus, der eine Straßenfegerin namens Martin spielt. Diese pessimistische Travestie gelingt ihm mit einem sympathischen, bitterkalten Humor, der die ganze Bühne füllt. Sein Bariton ist von einer kernigen, sprechenden Qualität, was hervorragend zu dieser Interpretation der Rolle passt. Auch er ist als Erstbesetzung gecastet.

Von der Zweitbesetzung kann sich also vor allem der Hauptdarsteller sehen lassen und überzeugt durch die Bank hinweg. Es ist trotz allen Abzügen ein sehr unterhaltsamer Abend, der für alle etwas bereithält. Wer das ganze als billige Revue abtut und dem Stück am Ende Kitsch vorwirft, hat etwas grundlegendes nicht verstanden: Eben in dieser billigen Absurdität und dem Ausreizen von Klischees liegt die Qualität dieses Stückes und muss auch der Fokus einer Inszenierung liegen. Der Nihilismus wird erst durch den Exzess verständlich.

Gabriel Pech, 13. Dezember 2018, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Musikalische Leitung: Jordan de Souza
Inszenierung: Barrie Kosky
Bühnenbild: Rebecca Ringst
Kostüme: Klaus Bruns
Choreographie: Otto Pichler
Dramaturgie: Maximilian Hagemeyer
Chöre: David Cavelius
Licht: Alessandro Carletti

Voltaire/Dr. Pangloss: Franz Hawlata
Candide: Paul Curievici
Kunigunde: Meechot Marrero
Die alte Frau: Fredrika Brillembourg
Maximilian: Dominik Köninger
Paquette: Maria Fiselier
Cacambo: Emil Ławecki
Vanderdendur: Ivan Turšić
Gouverneur: Adrian Strooper
Martin: Tom Erik Lie
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin
Tänzer*innen: Meri Ahmaniemi, Alessandra Bizzarri, Martina Borroni, Damian Czarnecki, Michael Fernandez, Paul Gerritsen, Claudia Greco, Hunter Jaques, Christoph Jonas, Sara Pamploni, Lorenzo Soragni, Mariana Souza

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