Lübeck, Candide © Jochen Quast
„Inquisitoren stehen vor Rätsel“, titelten die „Lübecker Nachrichten“ am 14. November 2025; in dem Artikel wird gefragt, weshalb trotz zahlreicher Ketzer-Hinrichtungen immer noch so viele Krankheiten und Naturkatastrophen die Menschheit plagen.
Wie bitte? Nein, es ist natürlich eine Spaßausgabe des Traditionsblattes, die das Programmheft ersetzt. Und es ergänzt ganz wunderbar eine völlig ungewöhnliche Aufführung von Bernsteins „Candide“, die am Erscheinungstag Premiere im Theater Lübeck feierte.
Leonard Bernstein, Candide
Eine komische Oper in zwei Akten
Nathan Bas, Dirigent
Robert Nippoldt und Lotta Stein, Live-Illustration
Steffen Kubach, Erzähler
Noah Schaul, Tenor
Sophie Naubert, Sopran
Gerard Quinn, Bariton
Gabriella Guilfoil, Mezzosopran
Jacob Scharfman, Bariton
Andrea Stadel, Sopran
Chor des Theaters Lübeck
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Ronny Scholz, Konzept
Musiktheater Lübeck, 14. November 2025 PREMIERE
von Dr. Andreas Ströbl
Man kann kaum beschreiben, was da passiert
„Unglaublich!“, „Wahnsinn!“, „Was für ein Ideen-Feuerwerk!“ – solche begeisterten Kommentare konnte man in der Pause und auf der Premierenfeier vom Publikum im Jugendstiltheater der Hansestadt hören. Und tatsächlich: Dass sich das Bühnenbild teils im Sekundentakt durch Live-Zeichnungen und -Aktionen ändert, ist absolut ungewöhnlich und neuartig.
Nach einem Konzept von Ronny Scholz malt mit dem Tuschpinsel, arrangiert mit Textkarten, kombiniert mit lustigen Bildchen, kurz gesagt, zaubert Robert Nippoldt, assistiert von Lotta Stein (Vorarbeiten von Florian Toperngpong), auf einem Tisch im hochgesetzten Orchestergraben das, was auf einer großen Projektionswand einfach nur staunen macht.

Was da in rasender Geschwindigkeit entsteht, sich verändert und absolut punktgenau zu Musik, Gesang, Solistenbewegungen und Choreographie passt, ist nicht nur künstlerisch meisterhaft, sondern grandios humorvoll und voller liebevoller Querverweise zur Stadt Lübeck umgesetzt. Der durch die historischen Speicher geisternde Nosferatu, der als „Lübecks reichster Junggeselle“ sein bleiches Glück sucht, ist nur ein Beispiel; man kann kaum treffend in Worte kleiden, was da geschieht, noch auf einmal alles erfassen, was diese Produktion ausmacht. Ein Besuch allein genügt nicht, das ist allen, die das Glück haben, die Premiere zu erleben, sofort klar.
Ein Ensemble, das sich erneut selbst übertrifft
Bis auf eine Gaststimme bestreitet das Theater Lübeck diese Mischung aus Oper, Operette und Musical durchweg mit dem Hausensemble. In der Titelpartie ist der junge Tenor Noah Schaul zu erleben; sein Rollendebut meistert er mit größter Selbstverständlichkeit und jugendlichem Charme. Gerade die Liebesszenen sind trotz der ironischen Brechungen von sanftem Schmelz geprägt. Bravo!
Seine Angebetete, die schöne Kunigunde (im Original „Cunegonde“), ist Sophie Naubert, noch relativ neu und hoffentlich sehr lang am Haus. Mit eleganter Frische und stimmlicher Strahlkraft gestaltet die Sopranistin die junge, moralisch nicht immer zuverlässige junge Dame. Wunderbar, wie sie mit dem Text spielt und manche Passagen kratzbürstig kräht oder im heulenden Elend schluchzt!
Der etwas schräge Hauslehrer Dr. Pangloss ist Gerard Quinn, der dem nicht wirklich ernstzunehmenden Idealisten füllige Stimme und lebhafte Gestalt verleiht.

Andrea Stadel gibt das Dienstmädchen Paquette; sie spielt und singt mit starkem Sopran unter anderem köstlich die Entrüstete ob der ihr angetragenen erotischen „Experimente“.
Mit seinen zackigen Beinschwüngen könnte Jacob Scharfman ohne Weiteres in Monty Pythons „Ministry of Silly Walks“ einen leitenden Posten bekommen. Der Bariton überzeugt zu seinen komödiantischen Leistungen erneut durch vollen und warmen Klang.
Die überhaupt nicht ältliche „Old Lady“ ist die Gastsängerin Gabriella Guilfoil mit ausgesprochen schönem, sehr weiblichem Timbre. Es ist bereits ihr zweiter Gastauftritt in Lübeck.
Wonjun Kim und Robin Frindt aus dem Opernstudio sind in verschiedenen Rollen zu sehen; GMD Stefan Vladar betont auf der Premierenfeier absolut zu Recht, dass die Solisten dieser kleinen Rollen zwar weniger zu singen haben, aber ebenso hervorragende Leitungen abliefern.

Abräumer des Abends ist aber der großartige Steffen Kubach, als Erzähler gewissermaßen das strukturierende Herz des Ganzen. Loriot ist der Vater dieses humorigen Texts, der die verworrene, inkonsequente und dadurch alberne Handlung zugleich verständlich und sie unübertrefflich komisch in den ironischen Brechungen erst wirklich genießbar macht. Kubach beherrscht souverän den trockenen Humor Loriots, der vor wenigen Tagen 102 geworden wäre, gewürzt durch karikaturartige Einlagen mit schriller Kostümierung.
Wer spielt hier eigentlich die Hauptrolle?
Ungewöhnlich und mitreißend sind die Aktionen des Chors des Theaters Lübeck unter Leitung von Jan-Michael Krüger. Die angekündigte konzertante Aufführung wird, abgesehen von der bewährt starken Stimmkraft der Mitwirkenden, durch die mannigfachen, lebhaften Bewegungs- und Tanzeinlagen gesprengt – da wird geschunkelt, gewirbelt, gejohlt! Das hat man so in Lübeck tatsächlich noch nicht erlebt.

Das musikalische Bett für das Liebespaar bereitet das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter dem Zweiten Kapellmeister Nathan Bas. Nun hört man die Candide-Ouvertüre ja fast täglich auf den einschlägigen Kultursendern (oder die sich als solche verkaufen) und hat sich daran eigentlich sattgehört. Nathan Bas aber verleiht der Einleitungsmusik und in Folge der gesamten Partitur eine melodische Sinnlichkeit mit großer Sensibilität für Details in der Orchestrierung; es ist, als hörte man das Stück zum ersten Mal.

Nach Verklingen der letzten Noten erhebt sich bald das ganze Publikum zum stehenden Beifall – begeisterten Szenenapplaus hat es bereits vielfach gegeben.
Ehrlich gesagt – auch wortreichen Theaterbesuchern verschlägt es nach dem Verlassen des Saales fast die Sprache. Da gibt’s nur eins: Hingehen! Lachen! Staunen! Das ist wirklich ein Gesamtkunstwerk für alle und sei auch denjenigen empfohlen, die bislang Opern-Berührungsängste hatten.
Die nächsten Aufführungen sind am 21. und 28. November sowie am 5. und 31. Dezember.
Diese sensationelle Produktion sollte man sich keinesfalls entgehen lassen!
Dr. Andreas Ströbl, 15. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Strauss, Der Rosenkavalier Theater Lübeck, Premiere am 18. Oktober 2025
»Der Rosenkavalier«– Die Lesung Theater Lübeck, Salon, 28. September 2025