Lohengrin, Richard Wagner
Hamburgische Staatsoper, 18. November 2016
Stellen Sie sich vor, um 11.35 Uhr klingelt Ihr Telefon in Paris, und Ihr bester Freund sagt: „Ab zum Flughafen, heute Abend um 18 Uhr singst Du bitte in der Oper ‚Lohengrin’ von Richard Wagner in Hamburg!“ Dieses Vergnügen hatte der Weltklassebariton Thomas Johannes Mayer am Freitag in der französischen Millionenmetropole. Er sagte seiner Agentin am Telefon sofort zu. Landete um 17.10 Uhr am Hamburg Airport – Helmut Schmidt in HH-Fuhlsbüttel. Traf um 17.40 Uhr in der Hamburgischen Staatsoper in HH-Neustadt ein. Und gab 20 Minuten später einen Weltklasse-Abend als brabantischer Graf Friedrich von Telramund.
Es war ein magischer Auftritt im Haus an der Dammtorstraße, den Thomas J. Mayer zelebrierte. Da er mit Verspätung in HH gelandet war, es kein Kostüm für ihn gab und er die Partie in Hamburg vor zehn Jahren zuletzt geprobt hatte, entschieden sich Mayer und die Opern-Verantwortlichen, dass der Bariton seine Partie an der Seite, im schwarzen Anzug stehend, singen und der Regisseur und Spielleiter Heiko Hentschel die Rolle spielen sollte.
Es war eine grandiose Entscheidung. Mayer sang mit allergrößtem Engagement und Hentschel spielte und sprach lautlos mit allergrößtem Engagement. Das war eine Sternstunde für die Hamburger Opernwelt – zwei Tage nachdem bereits die Sopranistin Allison Oakes eine Sternstunde als Salome in Richard Strauss’ gleichnamiger Oper gegeben hatte.
So bekamen beide, Mayer und Hentschel, zu Recht den größten Beifall und viele „Bravo!“ des wieder einmal insgesamt sehr reserviert und hanseatisch applaudierenden Publikums. Zum einen waren nur vier Fünftel der Plätze verkauft worden. Und zum anderen sind die Hamburger keine Berliner und schon gar keine Wiener, die bei so einer Performance aller Beteiligten vor Begeisterung fast ausgeflippt wären.
Ja, der Thomas J. Mayer… Ein lockerer Mann ist er im Gespräch mit klassik-begeistert.de nach Ende der Aufführung. Und genauso locker und konzentriert singt er seine Partie des Telramund. Erst voll konzentriert, den Blick regelmäßig noch in die Noten gerichtet. Dann ganz frei, stark, umwerfend schön und mit Bewegung hinter dem Geländer über dem Orchestergraben.
Thomas J. Mayer hat eine väterliche, eine nuancenreiche, volle und auch vokalklare Stimme. Als Holländer in Richard Wagners „Fliegender Holländer“ bei den Bayreuther Festspielen war er in diesem Sommer ein echter Kerl. Als Amfortas in Wagners „Parsifal“ hatte er im Oktober an der Seite von Klaus Florian Vogt an den richtigen Stellen den richtigen Wumms im Bariton.
An diesem Abend, bei Wagners Romantischer Oper Lohengrin, zeigt er als Friedrich von Telramund, dass er sehr einfühlsam, sehr lyrisch singen kann und dann wieder hoch dramatisch und packend. Da sitzt jeder Ton, da ist Emotion und Leidenschaft in der Stimme. Dieser Bariton ist ein echter Wagner-Bariton, ein wahrer Opern-Sänger. Dieser Thomas J. Mayer macht glücklich. Er erhebt. Er hat die seltene Gabe, die Zeit in den Ohren der Zuhörer verfliegen zu lassen.
Der Namensgeber der Oper, Lohengrin, wurde an diesem Abend von Roberto Saccà, 55, Sohn eines Italieners und einer Deutschen dargeboten. Auch das war fast immer sehr gut! Da war Energie und Strahlkraft in der Stimme. Da war Leidenschaft und Glut im Vortrag. Nun, da blieb im dritten Aufzug einmal kurz die Stimme weg, aber das kann passieren bei so einer langen Partie. Aber es war bewegend und deutlich über dem Niveau vieler Tenöre, die an der Hamburgischen Staatsoper singen dürfen. Es war aber auch nicht ganz auf dem Level eines Klaus Florian Vogt aus Dithmarschen (Schleswig-Holstein), der zur Zeit den besten Lohengrin der Welt zu bieten hat. Im April 2017 können sich die Hamburger wieder auf Roberto Saccà freuen: Dann singt er den Kaiser in „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss – eine Premierenproduktion an der Dammtorstraße.
Das Ensemblemitglied Wilhelm Schwinghammer als König Heinrich der Vogler bot mit seinem profunden Bass wie fast immer eine souveräne Vorstellung mit großer Resonanz in der Stimme.
Und dann die Frauen: Die eine sehr gut, die andere gut: Die sehr gute, ja meist herausragende, war Tanja Ariane Baumgartner als Ortrud. Der Mezzosopran, Ensemblemitglied der Oper Frankfurt, hat eine klare, bestechende Höhe und eine sehr angenehme Stimmlage im tieferen Register. Kein Wunder, dass die Sängerin im Oktober die Fricka in Wagners „Das Rheingold“ an der Lyric Opera of Chicago gesungen hat. Und im kommenden Sommer auf den „Grünen Hügel“ fährt. Dort singt sie bei den Bayreuther Festspielen ebenfalls Fricka in „Das Rheingold“ und „Die Walküre“.
Gut performte die Sopranistin Ann Petersen als Elsa von Brabant. Sie hat, wenn sie vollkommen eingesungen ist, auch eine wunderbare Höhe. Allerdings ist ihr Vibrato für viele Ohren zu ausgeprägt und nicht uneingeschränkt angenehm im Klang. Daran könnte die dänische Wagner-Sopranistin noch arbeiten. Sie gefiel klassik-begeistert.de sehr gut im Juli als 2. Norn und Gutrune in Wagners „Götterdämmerung“ an der Staatsoper im Schiller Theater in Berlin. Das Ensemblemitglied der Royal Danish Opera in Kopenhagen hat tolle Partien drauf: die Feldmarschallin in Richard Strauss’ „Der Rosenkavalier“ an der Wiener Staatsoper im Dezember 2015 und im März 2017 an der Opéra de Lyon die Isolde in Wagners „Tristan und Isolde“.
Blendend durch den Abend führte der Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters Kent Nagano, 64. Der US-Amerikaner aus Kalifornien liebt Wagner und dirigierte zwei Tage zuvor Richard Strauss (Salome). Er kennt den „Lohengrin“ wie kaum ein anderer und holte alles aus den Noten heraus. Dass die Blechbläser ihm leider manchmal nicht folgen konnten und Noten und Einsätze versemmelten, war nicht seine Schuld. Auch nicht, dass viele im Saal während der unsterblich schönen Ouvertüre und Vorspiele zum großen Hustenkonzert starteten. Dass man mit Husten im November nicht in die Oper geht, vergessen diese egoistischen (durchweg älteren) Zuschauer leider in ihrer Opernbegeisterung.
Und dass man während der Oper nicht zu reden hat, hat sich auch auf den teureren Plätzen in HH noch nicht herumgesprochen, vor allem nicht bei der Dame in Reihe 14, Platz 18. Sie fand vieles am Abend einfach „lustig“ und musste dies ihrem Gatten auf Platz 19 penibel mitteilen. Danke, liebe Dame, für ihren Frohsinn, aber ihr Gequatsche ging den Mitmenschen um sie herum auf den Geist!
Zum Glück waren Hustenanfälle nicht zu hören, als die großartig aufgelegten Sängerinnen und Sänger des Chores der Staatsoper die umwerfenden Chorstellen sangen. Der Schlusschor des ersten Aufzuges gefiel dem Hamburger Bernd Crummenerl, 73, so gut, dass ihm die Tränen kamen. „Es kam so einfach heraus“, sagte der Tenor des Bergedorfer Pop- und Gospel-Chores Schall & Rauch. „Diese Musik ist wirklich unbeschreiblich schön.“
Als Richard Wagners Oper „Lohengrin“ 1850 in Weimar unter Stabführung von Franz Liszt erstmals auf die Bühne gelangte, hielt sich der Komponist gerade im Schweizer Exil versteckt. Er wurde wegen aktiver Beteiligung an den Unruhen in Dresden 1849 steckbrieflich gesucht, als „politisch gefährliches Individuum“. Obwohl in der hoffnungsvollen Aufbruchsstimmung der Märzrevolution entstanden, bezeichnet man dieses Werk oft als Wagners „pessimistischstes“, vielleicht weil es die Unvereinbarkeit von Realität und Utopie thematisiert.
Der Komponist fasste den Kern der Handlung mit folgenden Worten zusammen: „Als Symbol der Fabel kann ich nur festhalten: die Berührung einer übersinnlichen Erscheinung mit der menschlichen Natur und die Unmöglichkeit der Dauer derselben.“
Für Wagner war dieses Sujet kein Märchen aus dem fernen ritterlichen Mittelalter, sondern er wollte mit der Geschichte politische und philosophische Fragen stellen, die kurz vor Ausbruch der Märzunruhen von brennendem Interesse waren. Der Hauptakzent der Geschichte liegt auch für Regisseur Peter Konwitschny auf dem Problem der Einbindung des Utopischen in die reale Welt. Er sieht in den handelnden Personen unreife, noch orientierungslose Jugendliche, „die große Sehnsucht nach etwas haben, aber nicht wissen, wie sie das leben sollen – da kommt dann so ein Lohengrin daher, der verkörpert all das, wovon die anderen ungebärdigen und emotionalen ‚Kinder‘ von Brabant noch träumen“.
Lohengrin, der einzige Erwachsene, der sich nach der Bewahrung des Kindlichen im Erwachsenensein sehnt, trifft auf die Kinder von Brabant, die sich wiederum danach sehnen, erwachsen zu werden. Es ist die Geschichte eines Traums, die Richard Wagner erzählt, die Geschichte einer großen Liebe und auch die der enttäuschten Hoffnungen.
Zwei Menschen treffen aufeinander, die eine Sehnsucht verbindet: „Elsa hat Sehnsucht nach dem ‚Höheren‘, dem Heiligen, das aus ihrer Welt verschwunden ist“, sagt Peter Konwitschny. „Lohengrin wiederum hat Sehnsucht nach dem ‚Irdischen‘, der Wärme des Lebens unter Menschen. Die Ähnlichkeit des musikalisch-thematischen Materials, mit dem die beiden Figuren ausgestattet sind, macht deutlich, dass sie zusammengehören, sie können aber doch nicht zueinander finden, da die Erfüllung der Sehnsucht unabdingbar auch das Ende des Traums ist.“
Die Hamburger „Lohengrin“-Inszenierung ist eine der aufsehenerregendsten der letzten Jahrzehnte, preisgekrönt (Bayerischer Theaterpreis) und auch im mediterranen Ausland (in Barcelona) stürmisch bejubelt. Sie ist geprägt von tiefem Humanismus und einer großen Liebe zu Figuren und Stück. Und: Es darf sogar gelacht werden im Klassenzimmer, wo der Heerrufer auch nur ein Schüler ist und der König sich auch mit Stöckchen und Pappkrone keine Autorität verschaffen kann.
Denn die Komik ist keine unfreiwillige mehr, wie so oft beim ‚Lohengrin‘, bei dem hehr und Heer nahe beieinanderliegen, bei dem nicht nur Schwanenfedern geschwungen werden, sondern auch Schwerter. Sie gehört zur Sache selbst. Das bedeutet keineswegs, dass in Hamburg nur Posen als Posse zu sehen wären. Dafür sorgt schon das wilhelminische Ambiente. Die aggressiven Kriegsspielchen vom ‚Deutschen Reich‘ und ‚deutschen Schwert‘ gewinnen im Vorfeld von zwei Weltkriegen ganz anderes Gewicht als im Bühnenmittelalter von Brabant.
Seit dem französischen Jahrhundert-Regisseur Patrice Chéreau hat niemand Wagners Figuren so selbstverständlich, so detailreich und menschlich vom Podest geholt wie Peter Konwitschny. Er versteht Sänger, auch den Chor, nicht als ausführende Organe eines aufdiktierten Konzeptes, sondern umschwärmt sie mit seinen Ideen. Er entwickelt aus ihrem Bewegungshabitus die natürlichste Personenregie der Welt“, schrieb Stephan Mösch in der Opernwelt.
Die Handlung: Elsa von Brabant wird verdächtigt, ihren jüngeren Bruder Gottfried im Wald ermordet zu haben. Dies unterstellt ihr der brabantische Graf Friedrich von Telramund, dessen Frau Ortrud im Hintergrund gegen Elsa intrigiert. Als König Heinrich Elsa zu ihrer Verteidigung auffordert, fleht sie einen imaginären Ritter um Hilfe an. König Heinrich ruft daraufhin die Männer auf, zum Kampfe für die Ehre der Elsa von Brabant hervorzutreten, doch niemand in der Menge reagiert. Plötzlich erscheint der Schwanenritter Lohengrin: Er will für Elsa kämpfen, nimmt ihr jedoch vorher das Versprechen ab, ihn niemals nach seiner Herkunft zu befragen. Doch trotz aller Warnungen stellt Elsa schließlich die verhängnisvolle Frage. Telramund dringt mit gezücktem Schwert ein – der unbekannte Ritter tötet ihn. Gezwungen, sein Geheimnis preiszugeben – er ist Lohengrin, der Sohn des Gralskönigs Parzival, nähert sich der Schwan, um ihn zurückzubringen. Ortrud, Telramunds Gattin, triumphiert und offenbart, sie selbst habe Elsas Bruder in den Schwan verwandelt. Lohengrin befreit ihren Bruder Gottfried aus der fremden Gestalt und ernennt ihn zum Führer des Heeres.
Andreas Schmidt, 19. November 201
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Der Bericht beginnt wie ein Krimi, ist mit Witz und Tempo geschrieben und begeistert auch weniger Klassik-Erfahrene! Dr. med. C. Dörffling