Wahnsinnige Braut

London Philharmonic Orchestra, Alain Altinoglu, Patricia Kopatchinskaja,  Konzerthaus Freiburg

Foto © Marco Borggreve
Patricia Kopatchinskajas Geigenspiel offenbart eine Mischung aus Wehmut und Zorn

Konzerthaus Freiburg, 12. November 2017
London Philharmonic Orchestra
Dirigent Alain Altinoglu
Violine Patricia Kopatchinskaja
Maurice Ravel, Le Tombeau de Couperin
Robert Schumann, Violinkonzert d-Moll WoO 1
Peter Iljitsch Tschaikowsky, Symphonie Nr.6 h-Moll op.74 „Pathétique“

von Leah Biebert

Hoher Besuch von der Insel im Konzerthaus Freiburg: Das London Philharmonic Orchestra, das zu den zukunftsorientiertesten und wagemutigsten britischen Orchestern zählt, spielte unter der Leitung des französischen Dirigenten Alain Altinoglu Werke von Maurice Ravel, Robert Schumann und Peter Tschaikowsky. Solistin war die moldawische Violinistin Patricia Kopatchinskaja.

Für Ravels Le Tombeau de Couperin ist das Orchester im Streicherapparat nur klein besetzt. Die Briten, gerade auf Europa-Tournee und am Samstag noch im renommierten Wiener Konzerthaus, bestechen an diesem Sonntag in der Trauerkomposition des französischen Komponisten mit einer zarten Eleganz. Alain Altinoglu, der in Londons Royal Festival Hall erst vor wenigen Tagen sein Debüt mit dem London Philharmonic Orchestra gegeben hatte, führt erst auf sanfte Art, dann beschwingt durch das Prélude.

In der Forlane ist ihm der Spaß an seiner Arbeit regelrecht anzusehen. Er arbeitet die unterschiedlichen Instrumentenstimmen und –Stimmungen sowie die dadurch entstehenden Ambivalenzen in Ravels Musik säuberlich heraus – vom anmutigen Flötensolo bis zum aufbrausenden Streichersatz. Schwermut und Trauer des Stücks machen sich vor allem im Menuet bemerkbar: Die Wehklage der Holzbläser wird von den Streichern in aller Feinheit übernommen. Nach einer Steigerung im Mittelteil lässt Altinoglu den Satz sanft ausklingen – um den nächsten mit einem kräftigen und schwungvollen Einsatz des Orchesters zu beginnen. Der muntere Rigaudon lebt von den zupfenden Streichern, vor deren Hintergrund die Oboe eine zarte, aber intensive Melodie spielt. Die Spannung wird vom Einsatz des Orchesters effektvoll zerschlagen; das Stück endet mit einem metaphorischen Paukenschlag.

Von dem neoklassizistischen Gründungswerk Ravels geht es zeitlich rückwärts in die Epoche der Romantik und zu Schumanns Violinkonzert in d-Moll, in dem Solostimme und Orchester blockhaft gegenübergestellt sind.

Den ersten Satz des Violinkonzertes führt das Orchester solide ein. Das Spiel ist im Sinne Schumanns „kräftig“. Pauke und Blechbläser sorgen für Herrlichkeit und Pracht. Die Solistin Patricia Kopatchinskaja geht schon vor ihrem Einsatz sichtbar mit der Musik mit.

Ihr Solospiel vor dem eher zurückhaltenden Weltklasse-Orchester ist temperamentvoll. Als Tutti führt es das barock anklingende Hauptthema in seiner ganzen Pracht vor und löst mit seinen glänzenden Einsätzen die spannungsreichen Figurationen des Solos. Altinoglu weiß die einzelnen Instrumentengruppen sicher im Einklang zu Kopatchinskajas Solostimme zu führen. Die solistisch auftretenden Holzbläser wirken im Dialog mit der Violine umso bezaubernder.

In ihrem weißen Gewand und mit wehenden Haaren wirkt Kopatchinskaja wie eine wahnsinnige Braut, ihr Geigenspiel offenbart eine Mischung aus Wehmut und Zorn. Für ihre mutigen und eigenwilligen Interpretationen bekannt, erscheint das Solo der Violinistin an einigen Stellen unsauber, die tiefen Töne verschluckt sie in den Läufen meist.

Der dritte Satz schließt wie in allen dreisätzigen Konzerten Schumanns ohne Unterbrechung an den zweiten Satz an. Zu mitfühlender Streicherbegleitung in ungewöhnlich langsamem Tempo breitet sich die Geige zart und zerbrechlich in tiefen Lagen aus. Kopatchinskaja ist auch hier vollkommen eins mit der Musik: Mit ihrem Körper ahmt sie die Sprünge ihrer Solostimme nach. Ihr Spiel kontrastiert die solide Einheit des Orchesters und findet sich auch sehr gut in diesem ein, wenn sie ihm die schnellen Läufe trotzig entgegensetzt.

Nach der Pause steht Peter Tschaikowkys Pathétique auf dem Programm – der russische Komponist bezeichnete sie als eine „Programmsinfonie“, „deren Programm aber für alle ein Rätsel bleiben soll“. Das London Philharmonic Orchestra inszeniert die Pathétique als ein Seelendrama der musikalischen Art. Die Atmosphäre des Schönen, hervorgerufen durch schmachtende Streicher und die süße Wehklage der Holzbläser, durchbrechen die wuchtigen Blechbläser; das gesamte Orchester schwingt sich ergreifend empor, bevor die Melodiereste der Soloinstrumente in der Luft zu schweben scheinen und dann allmählich verklingen.

Mit einem lauten Knall setzt das Orchester ein, die Aufwallungen sind nach der Sinnlichkeit mitreißend und aufwühlend. Vor allem die Blechbläser, teilweise mit hochrotem Kopf, tragen zur akustischen Fülle und zur Überzeugungskraft bei. Die bei den Werken Schumanns und Ravels eingesetzte Harfe hat hier nun definitiv nichts mehr zu suchen: Die Dramatik der Musik gleicht einem stürmischen Gewitter. Die Blechbläser schließen den Satz versöhnend zum pizzicato der Streicher ab.

Der Walzer ist anmutig, „con grazia“, wie Tschaikowsky den Satz betitelte. Altinoglu weiß das Orchester an den richtigen Stellen zu fordern und wieder zurückzunehmen, er selbst schwelgt sichtbar lächelnd in der träumerischen Lieblichkeit der Musik.

Zu Beginn jedes Satzes fordert der Dirigent die volle Aufmerksamkeit von den Instrumentalisten. Die Flötisten sorgen im dritten Satz für einen herausragenden Moment und glänzen mit Trillern und staccato in hoher Lage. Das Orchester strotzt vor Lebendigkeit und die Freude daran steht Altinoglu ins Gesicht geschrieben. Es entfaltet eine überwältigende Energie, die bereits am Ende des vorletzten Satzes vereinzeltes Klatschen im Publikum auslöst.

Klagend und schmerzlich dann der letzte Satz. Die Blechbläser inszenieren sich effektvoll vor der Generalpause. Alain Altinoglu und das London Philharmonic Orchestra nutzen die Dynamiken effektiv und demonstrieren: dies war ein Konzerterlebnis der Extraklasse.

Leah Biebert, 14. November 2017, für
klassik-begeistert.de

Foto: Marina Saanishvili

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