Mirko Roschkowski (Fausto), Foto © Forster
Französischer Frauenpower in Nordrhein-Westfalen zweiter Teil: Vierzehn Tage nach der Aufführung an der Oper Dortmund von “La montagne noire” der französischen Komponistin Augusta Holmès, zeigt das Aalto Musiktheater in Essen mit “Fausto” eine Oper von Louise Bertin, einer weiteren, heute vergessenen, französischen Komponistin des 19. Jahrhunderts. Nachdem das Théâtre des Champs-Elysées in Paris im letzten Juni die noch nie aufgeführte Ur-Fassung mit Mezzosopran in der Titelrolle gezeigt hatte, spielt Essen jetzt die 1831 am Théâtre-Italien in Paris zur Aufführung gelangte Version mit Tenor in der Titelrolle. Diese singt in Essen Mirko Roschkowki mit seiner klaren, gewohnt sicheren Tenorstimme.
Louise-Angélique Bertin (1805-1877)
FAUSTO
Opera semi-seria in vier Akten
(Libretto von der Komponistin selbst verfasst, ins Italienische übersetzt von Luigi Balocchi)
Musikalische Leitung Andreas Spering
Inszenierung Tatjana Gürbaca
Bühne Marc Weeger
Kostüme Silke Willrett
Fausto Mirko Roschkowski
Margarita Netta Or (musikalisch) / Tatjana Gürbaca (szenisch)
Mefistofele Almas Svilpa
Valentino George Vîrban
Catarina Nataliia Kukhar
Opernchor des Aalto-Theaters
Essener Philharmoniker
Essen, Aalto-Theater, 27. Januar 2024
von Jean-Nico Schambourg
So kam das Werk ein Jahr später am 7. März 1831 mit veränderter Stimmbesetzung zur Uraufführung. Die Titelrolle wurde vom Tenor Domenico Donzelli gesungen, die berühmte Sopranistin Henriette Méric-Lalande sang die Margarita. Trotz positiver Kritiken verschwand das Werk nach nur drei Aufführungen aus dem Programm und wurde nie mehr aufgeführt. Schuld daran war auch die unglückliche Planung der Oper am Ende der Saison. Für weitere Aufführungen, bzw. Wiederaufnahmen in der nächsten Saison, standen die Sänger nicht mehr zur Verfügung.
In jenen Tagen war es aber auch nicht von Vorteil eine weibliche Komponistin, und dazu noch körperlich behindert, zu sein. Das waren Probleme, gegen die Louise Bertin seit Anfang an anzukämpfen hatte.
Sie wurde 1805 in gutbürgerliche Verhältnisse geboren. Ihr Vater, ein einflussreicher Zeitungsdirektor, unterstützte ihre musikalische Karriere vollends, genauso wie ihre Mutter, die selbst Pianistin war. Aufgrund einer Kinderlähmung konnte sie sich nur auf Krücken weiterbewegen. Als Frau durfte sie im damaligen Frankreich zwar komponieren, das weitere Studium von Kontrapunkt, Fuge und Harmonielehre war ihr aber untersagt. So erhielt sie ihre musikalische Ausbildung in Privatkursen bei François-Joseph Fétis, einem belgischen Komponisten und Musikkritiker, sowie bei dem bekannten französischen Komponisten und Musiklehrer Antoine Reicha.
Auch der enge Kontakt zu führenden Kunstschaffenden wie Victor Hugo, Gioachino Rossini, Meyerbeer oder Berlioz war durch die gesellschaftliche Position des Vaters begünstigt. Berlioz Wertschätzung Louise Bertin gegenüber sieht man daran, dass er ihr seine erste Fassung für Gesang und Klavier seines Liederzyklus “Les Nuits d’été op. 7”, im Jahr 1841, widmete.
Bertin ließ sich in ihrem Vorhaben zu komponieren nicht beirren. Neben “Fausto” verfasste sie noch drei andere Opern: “Guy Mannering” (1825), “Le Loup-Garou” (1827), sowie “Esmeralda” (1836), ihre heute bekannteste Oper.
Einen ersten Entwurf zu der Figur von Faust hatte Bertin schon 1826 fertiggestellt mit ihrem Werk “Ultima Scena di Fausto“ (Letzte Szene von Faust) für Sopran, Alt und Bass mit Klavierbegleitung. Es handelte sich somit um die erste lyrische Vertonung von Goethes Faust, da die Werke von Berlioz, Gounod, Schumann und Boito alle erst später zur Aufführung kamen. Dieses Werk hatte Bertin während einer privaten Aufführung vorgestellt, die viel Lob von den Rezensenten bekam.
Schon 1827 stand fest, dass Bertin eine Oper auf dem Thema von Faust für das Théâtre-Italien komponieren sollte. Auf der Basis von Goethes “Faust” verfasste Bertin das Libretto zu ihrer Oper selbst in französischer Sprache. Da am Théâtre-Italien nur nicht-französische Werke gespielt wurden, wurde eine Übersetzung vom “Hauslibrettisten” des Opernhauses ins Italienische vorgenommen. Am Théâtre-Italien war sie der direkten Konkurrenz großer und berühmter Meister italienischer Musik wie Rossini, Mayr, Pacini, Mozart, usw. ausgesetzt.
Das Schicksal der Oper wurde schon eingangs erzählt. Allerdings schaffte Bertin sich mit dieser Oper ein gewisses Renommee, die ihr die Gunst von Victor Hugo einbrachte, der ihr das Tor zur Opéra de Paris öffnete, wo 1836 ihre letzte Oper “Esmeralda” (nach Victor Hugos Roman “Notre-Dame de Paris”) zur Aufführung kam. Diese stieß aber auf Ablehnung bei Kritik und Teilen des Publikums, wegen der Position ihres Vaters, wie Berlioz berichtete und Bertin gab das Komponieren von Opern auf. Sie widmete sich daraufhin der Poesie und veröffentlichte zwei Sammlungen, die von der “Académie Française” ausgezeichnet wurden. Ihr Gedicht “Si la mort est le but” (Wenn der Tod das Ziel ist) wurde von Gounod vertont.
Das Libretto von “Fausto” ist geschrieben im Genre semi-seria. Wie später bei Gounod konzentriert die Handlung sich dabei hauptsächlich auf die Geschichte der Margarita.
Der alte Doktor Fausto will mittels Gifttrank aus dem Leben scheiden, wird davon aber von einem religiösen Chorgesang abgehalten. Die junge Margarita kommt zu ihm und bittet ihn um eine Medizin für ihre kranke Tante Catarina. Fausto verliebt sich sofort in das junge Mädchen und ruft den Teufel an, ihm die Jugend wiederzuschenken. Mefistofele erscheint und bietet ihm seine Hilfe an, wenn er sich ihm im Gegenzug verschreibt. Fausto nimmt den Pakt an.
Hier gibt es bei Bertin zwei wichtige Änderungen gegenüber dem Goethe-Original: erstens begegnen sich Faust und Margarete gleich am Anfang, ehe, zweitens, Faust den Teufel zur Hilfe ruft, in einer Art “Geisterbeschwörung”.
Der zweite Akt spielt im Garten von Margarita, wo diese sich in den jungen Fausto verliebt, ihre Tante Catarina in dessen Begleiter, Mefistofele.
Im dritten Akt erleben wir Margarita, die, von Fausto geschwängert und verlassen, Gewissensbisse hat und in die Kirche geht um zu beten. Ihre Nachbarinnen verhöhnen sie. Da kommt Valentino, ihr Bruder, von der Armee zurück. Er erfährt von der unseligen Verbindung seiner Schwester zu Fausto und fordert diesen zum Duell heraus, in dessen Verlauf er von Fausto, mit Hilfe von Mefistofele, niedergestochen wird.
Der letzte Akt zeigt Margarita, die wegen des Mordes an ihrem Kind ins Gefängnis gesperrt wurde und, in geistiger Benebelung, ihr Urteil erwartet. Fausto verflucht Mefistofele für seine Intrigen und will den Vertrag zerreissen. Da erfährt er, dass Margarita zum Tode verurteilt wurde. Verzweifelt bittet er Mefistofele noch einmal um Hilfe, auch wenn dies seinen eigenen Untergang bedeutet. Beide dringen ins Gefängnis ein. Margarita lehnt es jedoch ab mit Fausto zu flüchten. Dieser ist endgültig den Qualen der Hölle ausgeliefert, während ein Engelchor die Erlösung von Margarita verkündet.
Das Essener Regieteam versetzt die Aktion Ende der fünfziger / Angang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, vor Einführung der Anti-Baby-Pille, in eine Zeit vor der Emanzipation der Frau.
In ihrer Auffassung zeigt die Geschichte den egoistische Umgang der Menschen miteinander. Fausto läuft einem Schönheitsideal der Frau hinterher, beschwört hierzu die Hilfe des Teufels. Nachdem er Margarita erobert hat, langweilt es ihn aber und er verlässt sie. Wenn er im letzten Akt ins Gefängnis zu ihr kommt, tut er dies hauptsächlich, weil er sein eigenes schlechtes Gewissen beruhigen will. Mefisto ist an sich ein Teil von Fausto selbst.
Dieses “falsche Miteinander” findet man auch in den Figuren der Freundinnen von Margarita, die sie bei erster Gelegenheit fallen lassen, und bei ihrem Bruder Valentin, der sich, durch die Situation seiner Schwester, in seiner eigenen Ehre gekränkt sieht. Margarita selbst ist gemäß der Regie ein Opfer, aber kein rein unschuldiges, das versucht, durch die Liebe in der Gesellschaft ihre Position zu finden, schlussendlich aber daran scheitert.
Das hierzu konzipierte Bühnenbild zeigt im ersten Akt eine Klinik, in der sich der Chefarzt Fausto und die Krankenschwester Margarita begegnen. In den nächsten Akten wird das Bühnenbild immer abstrakter und leerer, was den geistigen Zustand der beiden Hauptprotagonisten bezeugt.
Mirko Roschkowski singt die Rolle des Fausto mit gewohnt sicherem und klaren Tenor und meistert dabei die vokalen Schwierigkeiten, die die Partitur seiner Figur beinhaltet. Sie war ja ursprünglich für die Pisaroni, dem größten Contralto ihrer Zeit, geschrieben und dann für Tenor adaptiert worden. Dies erklärt die extremen Lagen, durch die sich ein Tenor-Interpret hindurch kämpfen muss. Roschkowski tut dies mit Bravour. Auch schauspielerisch weiß er die verschiedenen Stimmungen des Fausto überzeugend auszudrücken, ob Lebensmüdigkeit, Verliebtheit, Wut oder Verzweiflung.
Die Figur der Margarita erlebt am Premierenabend eine Spaltung der Rolle. Die vorgesehene Sopranistin (Jessica Muirhead) war erkrankt, so dass kurzfristig Ersatz gefunden werden musste, was bei einer solchen Opernrarität nicht einfach ist. So gebührt Netta Or großes Lob und großen Dank für die kurzfristige Übernahme der Rolle, die sie aber nur gesanglich, von der Seite der Bühne singend, übernimmt. Dies tut sie mit großer Professionalität. Dass sie trotzdem stimmlich teilweise wie ein Fremdkörper wirkt, muss den außergewöhnlichen Umständen zugeschrieben werden, die jede weitere Kritik verbieten.
Szenisch wird sie von der Regisseurin Tatjana Gürbaca gedoubelt. Ihr gebührt Dank für den Mut sich nicht nur als Regisseurin dieses unbekannten Werkes angenommen zu haben, sondern auch als Schauspielerin den Abend gerettet zu haben. Allerdings passt ihr teilweise hektisches Agieren nicht immer zu Musik und Text, sowie zur Interpretation der Sopranistin, die versucht Margaritas naive Unschuld zu vermitteln. Wie stellt der Teufel fest: sie ist zwar hübsch, aber ein wenig dumm! So scheint es in der ersten Szene eher so, dass Margarita als Krankenschwester sich den Chefarzt Fausto angeln will, als umgekehrt. Frau Gürbaca wird an diesem Abend erlebt haben, dass zwischen reiner Schauspielerei und Opern-Singen doch ein kleiner feiner Unterschied besteht.
Wie dies perfekt auf die Opernbühne umgesetzt werden kann, zeigt Almas Svilpa an diesem Abend als Mefistofele. Die Regie hat hier eine tolle Figur erschaffen, die zum Großteil von der Komik lebt, bei der das Dämonische aber trotzdem nie vergessen wird. Wunderbar, wie Svilpa sich, zum Teil tanzend, geschmeidig über die Bühne bewegt und diese ganz für sich einnimmt. Auch stimmlich weiß er die Fiesheit und den Sarkasmus dieses makabren Gesellen bestens auszudrücken.
George Vîrban ist Valentin, Margaritas Bruder. Seine Rolle ist ziemlich kurz, doch beinhaltet sie die spektakulärste Arie der Oper, die er solide bewältigt. Nataliia Kukhar als Margaritas Tante Catarina bietet in ihrer Szene im Garten Mefistofele spielerisch und stimmlich toll Paroli. Das kleine Duett mit Mefistofele ist ein herrlicher Moment und erinnert an manche Rossini-Oper.
Wie überhaupt öfters Musik anderer Komponisten wie ein Echo in Bertins Oper widerhallen: den schon erwähnten Rossini, aber auch Meyerbeer, Berlioz und Mozart. Schon bei den ersten Takten der Ouvertüre glaubt man sich in die Schlussszene von dessen “Don Giovanni” versetzt. Das soll aber nicht heißen, dass Bertin keine eigenen Klangfarben und Stil geschaffen hätte. Vor allem durch den Einsatz der Blechbläser bekommt ihre Komposition eine große Wucht, die der Dirigent bändigen muss. Dies tut der Leiter dieses Abends, Andreas Spering, auf exzellente Art und Weise.
Er löst auch problemlos die schwere Aufgabe, die außenstehende Sopranistin in das gesamte Klangbild mit einzubinden. Spering weiss um die spezifischen Klangfarben Bertins. Zu seinem Unterfangen hat er mit den Essener Philharmonikern einen tollen Klangkörper zur Verfügung, der von den ersten Takten der Ouverture, bis zum spektakulären Schlussmoment eine hochkonzentrierte und präzise Leistung erbringt.
Die Solisten der kleineren Rollen, sowie der Chor fügen sich problemlos in den positiven Eindruck des Abends ein.
Verdienter Applaus zum Schluß für alle Beteiligten. Einige Buhs in Richtung Regieteam sind dabei nicht zu überhören.
Bertins Oper ist sicherlich eine interessante Variante des Faust-Stoffes zu Berlioz, Gounod oder Boito, auch wenn sie sich kaum auf den Spielplänen der Opernhäuser etablieren wird. Aber ihre Wiederentdeckung erweitert sicherlich unseren musikalischen und kulturellen Horizont und macht Mut, sich mit weiteren Werken von ihr und anderer Komponistinnen zu beschäftigen.
Jean-Nico Schambourg, 29. Januar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Augusta Holmès (1847-1903), La montagne noire Theater Dortmund, Oper Dortmund, 14. Januar 2024