Fotos © Andreas Etter / Pro Arte Frankfurt
Edward Elgar
„In the South“ op. 50
Camille Saint-Saëns
Cellokonzert Nr. 1 in a-Moll op. 33
Sergej Rachmaninow
Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 44
Raphaela Gromes, Violoncello
London Philharmonic Orchestra
Edward Gardner, musikalische Leitung
Alte Oper Frankfurt, Frankfurt, 2. Dezember 2025
von Dirk Schauß
Manchmal schreibt der Zufall die schönsten Geschichten. Als Sheku Kanneh-Mason sein Gastspiel in der Alten Oper absagen musste – eine Handverletzung zwingt ihn bis Jahresende zur Pause –, sprang Raphaela Gromes ein. Wer sie erst am Samstag zuvor in Bad Vilbel mit Elgars Cellokonzert erlebt hatte, rieb sich verwundert die Augen: Gromes und Elgar, schon wieder und doch anders! Denn Elgar gab es diesmal vom Orchester alleine und Gromes stellte sich diesmal mit Saint-Saëns vor. Welch glückliche Fügung, dass diese Cellistin nun auch bei diesem Programm zur Verfügung stand.
Doch zunächst galt es, eine Reise anzutreten. Edward Gardner und das London Philharmonic Orchestra nahmen das Publikum mit nach Süden, genauer: nach Ligurien. Edward Elgars Konzertouvertüre „In the South“ op. 50 ist ein musikalisches Urlaubstagebuch, entstanden im Winter 1903/04 während eines Familienaufenthalts in Alassio. Elgar, der in England längst zum Nationalhelden aufgestiegen war – wenn auch oft nur auf seinen pompösen „Pomp & Circumstances March No. 1“ reduziert, der zur Vorlage für „Land of Hope and Glory“ wurde –, zeigte hier eine andere Seite: den Impressionisten, den Tonmaler, den verträumten Reisenden.
Die Musik sei ihm „in a flash“ zugeflogen, behauptete Elgar später. Bei einem Spaziergang, zwischen Ruinen und Schafhirten. Man möchte ihm das fast glauben, wenn man hört, wie organisch sich diese gut 20 Minuten entfalten. Dass die Orchesterbesetzung dabei derart üppig ausfällt – Blech und Schlagwerk sind satt besetzt –, verwirrt zunächst. Wuchtige Akkorde fallen wie Felsbrocken zu Beginn, betont martialisch. Doch Elgar hatte auch an längst vergangene Kriege an diesem Ort gedacht, an Hannibal womöglich, der einst durch diese Gegend zog. Die Größe der orchestralen Geste war also durchaus beabsichtigt.
Und dann, in der Mitte des Stückes, die Wendung: Die Solo-Bratsche intoniert eine feine Serenade, mediterran und innig. Plötzlich ist alles Licht und Wärme, als würde man von einem schattigen Hohlweg auf eine sonnenbeschienene Terrasse treten. Hier zeigt sich Elgars Meisterschaft in der Instrumentierung – wie er die Farben wechselt, ohne je plakativ zu werden.
Für das London Philharmonic ist Elgar natürlich ein Heimspiel. Und wie die Musiker unter Gardner durch dieses Werk navigierten, war schlicht Königsklasse. Die Streicher produzierten einen satten, leuchtenden Klang, ohne je dick zu werden. Die Blechbläser setzten ihre Akzente mit genau dosierter Kraft. In den Soli – etwa bei jenem Bratschisten, der die zentrale Serenade spielte – hörte man eine Selbstverständlichkeit, die nur aus tiefer Vertrautheit mit dem Repertoire kommt. Im Gesamtklang entfaltete sich ein breites Panorama, das tatsächlich Fernweh weckte. Man sah förmlich die ligurische Küste vor sich, roch das Salz, spürte den Wind.

Nach dieser musikalischen Postkarte dann der Pistolenschuss: beginnt ohne Vorspiel, ohne Abtasten, mitten ins Geschehen. Das Cello stürzt sich in eine absteigende Linie, dramatisch und fordernd, das Orchester antwortet sofort. Keine Zeit für Höflichkeiten. Raphaela Gromes nahm diese Herausforderung mit beeindruckender Ruhe an. Ihr Ton: sonor, atmosphärisch, warm. Immer klar konturiert, die Phrasierung elegant, die Dynamik ausgeklügelt bis in die leisesten Pianissimi.
Was sofort auffiel: Gromes behandelt dieses Werk nicht als virtuose Zurschaustellung, obwohl Saint-Saëns genug Gelegenheiten dafür bietet. Sie spielte es als Gespräch, nicht als Monolog. In den schnellen Passagen – und davon gibt es viele – behielt sie immer eine gewisse Leichtigkeit bei, als würde sie eine Geschichte erzählen statt Noten abarbeiten. Wenn das Cello in die hohen Lagen klettert, klang es bei ihr nie gepresst, sondern natürlich und mühelos.
Gardner dirigierte den Saint-Saëns strukturiert und saftig, ohne romantische Pose. Er gestaltete die Übergänge zwischen den drei ineinander übergehenden Sätzen so organisch, dass man die Architektur des Werks verstand, ohne dass sie aufdringlich demonstriert wurde. Die schnellen Passagen wirkten wie funkelnde Dialoge zwischen Solistin und Orchester, in denen das Cello leicht dominierte, ohne herrisch zu klingen.
In den lyrischen Momenten – etwa wenn Gromes das Hauptthema im zweiten Teil beinahe flüsternd wiederholte – entstand diese seltene Stille im Saal, in der niemand hustet, weil alle im gleichen Rhythmus atmen wie die Musik selbst. Das herrliche Menuett, das das Orchester anstimmt, war ein Tanz auf der Spitze, mit einem selbstbewussten Cello, das elegant durch die Figuren schritt. Hier zeigte Gromes ihre Fähigkeit, mit wenigen Tönen viel zu sagen, jede Phrase mit Bedeutung zu füllen.
Im Finale wurde das Orchester zunehmend dominant, drängte nach vorn mit immer größerer Energie, geradezu überwältigend. Wie ein Freund mit zu viel Temperament, der einen mitreißen will. Aber Gromes blieb souverän, sammelte den Klang, ließ ihn verklingen, als wäre die Stille die eigentliche Pointe dieses Konzerts. Gardner erwies sich als energischer Dirigent und zugleich vorzüglicher Begleiter – eine Kunst für sich, die Balance zwischen Führen und Folgen. Das Orchester reagierte aufmerksam auf jede Nuance der Solistin.
Der Zuspruch des Publikums war entsprechend groß, und Gromes bedankte sich mit einer besonderen Zugabe: „Tropar“, ein eindringliches Gebet aus dem Jahr 2005 der ukrainischen Komponistin Hanna Harylets, das sie zusammen mit vier Cellisten des London Philharmonic spielte. Ein feines Arrangement von Julian Riem. Die Celli bildeten einen dunklen, ja archaischen Klangteppich, aus dem sich einzelne Stimmen lösten und wieder einfügten. Ein intensiver Appell für Frieden, der die Stimmung im Saal spürbar veränderte.

Nach der Pause folgte mit Rachmaninows Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 44 das große Finale des Abends. Rachmaninow hatte 1935, gut drei Jahrzehnte nach seiner gefeierten zweiten Sinfonie, wieder zur sinfonischen Form gegriffen. Die Arbeit ging ihm erstaunlich schnell von der Hand – den ersten und zweiten Satz entwarf er in nur zwei Monaten, den dritten Satz vollendete er im Sommer darauf. Im Herbst 1936 wurde das Werk vom Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski uraufgeführt.
Und was für ein überraschend anderes Werk das ist! Erstmals begnügte sich Rachmaninow mit drei Sätzen statt der traditionellen vier. Gewagter in der Harmonik, zuweilen an der Grenze zur Tonalität tastend, mit exotischen Schlagzeugeffekten und grotesken Wendungen, die man bei ihm so nicht erwartet.
Natürlich gibt es auch hier die großen Streicherkantilenen, die an Hollywood-Filmmusik erinnern – Rachmaninow war schließlich Rachmaninow, und er lebte zu dieser Zeit bereits in den USA. Diese breiten, schwelgenden Melodien waren seine Muttersprache. Und doch ist diese Sinfonie anders. Der Komponist erfreut sich an den unterschiedlichsten Einfällen, springt von einer Idee zur nächsten, entwickelt sie oft nur an, lässt sie aufblitzen und verschwinden, bevor eine neue Farbe auftaucht. Es ist, als würde man durch eine Galerie gehen, in der jedes Bild nur kurz beleuchtet wird.
Besonders im Adagio des zweiten Satzes verwendet Rachmaninow betörende neue Klangfarben. Hier klopfen plötzlich Franz Schreker und Alexander von Zemlinsky an die Tür – jene Wiener Spätromantiker, die mit feinsten impressionistischen Schattierungen arbeiteten. Die Holzbläser setzten hier filigrane Ornamente, die Streicher schufen schwebende Klangflächen. Es war Musik wie unter einem milchigen Schleier, entrückt und doch von großer emotionaler Dichte.
Im rauschhaften dritten Satz dann die Entladung: Rhythmisch energetisch, mit markanten Schlagzeugeinwürfen, die zuweilen an Strawinsky erinnern. Das Finale baut sich zu einem fulminanten Höhepunkt auf, bei dem alle Register gezogen werden.
Für das London Philharmonic war dies eine Paradeaufgabe – und das Orchester präsentierte alle seine überragenden Vorzüge. Das ideale Zusammenspiel in der großen Streichergruppe fiel auf: wie sie als ein Körper atmeten, wie sie die langen Melodiebögen gestalteten, ohne je die Spannung zu verlieren. Die Blechbläser setzten majestätische Grundierungen, ohne je zu dominieren. Seelenvoll und innig die Holzbläser, die im Mittelsatz mit ihren Solobeiträgen brillierten – besonders die Oboe und die Klarinette setzten leuchtende Akzente.
Das stark geforderte Schlagzeug sorgte für Glanz und zündende Effekte, besonders im Finale. Gardner hielt all diese Kräfte zusammen, formte den großen Bogen über die drei Sätze, ließ die Musik atmen. Ein Dirigat und ein Orchesterspiel in vorbildlichem Einklang, bei dem man spürte: Diese Musiker verstehen sich, sie hören einander zu, sie musizieren miteinander.
Als Zugabe gab es noch einmal Rachmaninow (Lied: Zdes korosho [Hier ist es schön] op. 21/7, Arrangement Tim Jackson) mit viel orchestralem Glanz – eine gemütsberuhigende Dreingabe nach der emotionalen Intensität der Dritten. Von Ligurien über Paris bis zu Rachmaninows russisch-amerikanischer Spätromantik: Das London Philharmonic unter Edward Gardner hatte Frankfurt gezeigt, was orchestrale Exzellenz bedeutet. Und Raphaela Gromes hatte eindrucksvoll demonstriert, dass eine kurzfristige Einspringerin manchmal das schönste Geschenk sein kann.
Ein Abend, der in Erinnerung bleibt – und Lust auf mehr macht.
Dirk Schauß, 4. Dezember 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Raphaela Gromes, Violoncello, Armenian State Symphony Orchestra VILCO Bad Vilbel, 29. November 2025
Hélène Grimaud, Klavier, LPO, Edward Gardner Kölner Philharmonie, 12. November 2023
Hallo,
vielen Dank für die Rezension, der ich komplett zustimme und für die Nennung der Zugabe am Schluss des Konzerts, die ich nicht kannte und lediglich annahm, dass es auch von Rachmaninow sein könnte.
Gruß
Armin Dilchert