© Marco Borggreve
Het Concertgebouw, Großer Saal, Amsterdam, 22. April 2018
Lucas & Arthur Jussen, Klavier
- Felix Mendelssohn-Bartholdy – Andante e Allegro Brillant in A, op. 92
- Robert Schumann – Fantasiestücke, op. 12
- Franz Schubert – Fantasie in f, D 940
- Leo Smit – Divertimento
- Bela Bartók – Suite, op. 14
- Bela Bartók – Sonate, Sz. 80
- Fazil Say – ‚Night‘ (In opdracht van Arthur en Lucas Jussen)
von Antonia Tremmel-Scheinost
Zusammenkommen ist ein Beginn, / Zusammenbleiben ein Fortschritt, / Zusammenarbeiten ein Erfolg.
Mit dem Verklingen der letzten Note drängte unweigerlich nur ein Gedanke in die gedehnte, andächtige Stille im Saal: Die hohe Kunst der Duo-Spiels ist wahrlich eine unterschätzte. Und das völlig zu unrecht. Denn die perfekte Symbiose vierer Hände als summum bonum vermag Klangerlebnisse von feinster Güte zu evozieren. Wenn synchrones Spielen, Denken und Fühlen ausgerechnet einem flachshaarigen wie schelmischen Brüderpaar glückt, ist der Erfahrungswert ein ganz besonderer.
Zusammen eins sein und doch frei sein – diesen Leitsatz scheinen die zwei Söhne der beschaulichen Stadt Hilversum von Kind an ganz besonders verinnerlicht zu haben. Fortuna war den Holländern hold (wenn man von den Freunden des gepflegten Ballsportes unter ihnen absieht), denn mittlerweile sind die Geschwister zu ausgemachten Lichtgestalten des nationalen wie internationalen Klassikbetriebes avanciert. Lucas und Arthur Jussen bilden einen fabelhaften und hochsympathischen Kontrapunkt zur oft angedichteten Sprödigkeit der verwaisten Gattung der Klavierliteratur a quattro mani. Entsprechend freudig wurde das Brüdergespann im ausverkauften Großen Saal des Royal Concertgebouws erwartet. Was folgte war ein Zeugnis von erstaunlicher interpretatorischer Reife wie ausgemachter technischer Könnerschaft. Das ausgeklügelte, sich von der Romantik bis in die Moderne erstreckende Programm bestach durch Schlüssigkeit sowie eine eigentümlich erfrischende Ästhetik.
Felix Mendelssohn-Bartholdys hochromantisches Andante et Allegro brillant erwies sich als fabelhafter Auftakt. Dem Gespann gelang es unverzüglich den Raum mit unbändiger Spielfreude zu fluten. Keck, aber dennoch den gebotenen Ernst nicht missend, ließ dieses bemerkenswerte Duo Parfümiertheit oder Schwülstigkeit gar nicht erst aufkommen. Die wunderbar kantable, kontemplative Andante-Einleitung des Clara Schumann gewidmeten Werkes löste sich schlüssig wie geschwind in virtuose Läufe auf. Trotz fortwährender, (lupenrein gespielter) Stakkato-Salven gelang es den Brüdern die transluzente Textur des Hauptmotives geschickt zu bewahren. Durch ihr untadeliges Spiel entspann sich so ein kurzweiliger, fast schon greifbarer Dialog mit dem Publikum – in brüderlicher Personalunion und gesondert zugleich.
Nach aufbrausendem Applaus für die Eröffnungsdarbietung und inmitten dieses launigen Klimas stieg (oder besser kletterte, was der berüchtigten wie steilen Podiumstreppe geschuldet ist) nun das jüngere Geschwisterteil, Arthur Jussen, zum Solopart herab. Robert Schumanns Fantasiestücke, acht an der Zahl, erfassen ein reiches Spektrum motivischer und rhythmischer Feinheiten in wechselnden Stimmungslagen. Obwohl dem 21 Jahre alten Jungpianisten vielleicht noch die letzte Konsequenz in seinem Spiel fehlt, gelang es ihm durchaus, den facettenreichen Stimmungsgemälden und Eindrücken musikalisch nachzuspüren. Der lebhafte Charakter der Grillen und das dramatische In der Nacht, das chopinsche Nocturnes aufgreift, gefielen ganz besonders. Die ruhigeren, zarten Momente hingegen wirkten noch ein wenig verhuscht.
Anschließend brachten die wieder vereinten Gebrüder Jussen eines der wichtigsten und schönsten Werke der romantischen Klavierliteratur à quatre mains zur Aufführung. Franz Schuberts Fantasie in f-moll, ein Schlüsselwerk aus Schuberts Todesjahr 1828. Das wiederkehrende, prägnante Hauptthema mit seinem schreitenden Achtel-Rhythmus ist ein „musikalisches Bild für den Wanderer, der mit einem wehmütigen Lied auf den Lippen durch die Einsamkeit zieht.“ Melancholische Erinnerungen an des Komponisten Jugend werden heraufbeschworen, nur um mit dem ersten Forte das Schicksal unerbittlich wüten zu lassen. Die Gebrüder Jussen verstanden es mit großer Ernsthaftigkeit und Hingabe Schuberts überbordende Traurigkeit zu erwecken. Große spielerische Sicherheit sowie ein fein nuanciertes Piano gefielen. Im Largo mangelte es stellenweise an Transparenz – die Rückführung ins fis-Moll klang ein wenig trübe (insbesondere mit der Referenzaufnahme von Radu Lupu und Murray Perrahia im Ohr). Dennoch sind interpretatorische Tiefe und emotionaler Reifegrad des Duos zu honorieren.
Der zweite Part des Abends bot erstaunliches und gipfelte in einem Feuerwerk der Moderne.
Nach der Pause spielten Lucas und Arthur – zur großen Freude der Rezensentin – mit dem fast vergessenen Komponisten Leo Smit auf. Dieser brillante Kopf wurde im Alter von 42 Jahren im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Umso berührender war die kurze Ansprache beider Brüder und das anschließende musikalische Eingedenken an diesen großen, so bestialisch gemeuchelten Künstler. Smits vierhändiges Divertimento erwies sich als wahre polystilistische Kostbarkeit. Das Werk, ein Amalgam aus lang gestreckten Jazzpassagen, spielerischen Fugati und impressionistisch wabernden Arabesken, ließ ein Stück Frankreich à la Group des Six wiederauferstehen.
Anschießend sorgte der um drei Jahre ältere Bruder Lucas Jussen für den Höhepunkt des Abends. Eine Suite und Sonate von Béla Bartók bewirkten ganz erstaunliches bei dem jungen Holländer. Jussen scheint über die Jahre zu einem bemerkenswert kompletten und wandelbaren Pianisten herangereift. Er legte seinen Bartók klug wie feinfühlig an, nur um gleichzeitig ungarisch-feuriges Temperament mit jeder Pore zu atmen. In Bartóks Werk gehen folkloristische Motive, komplexe rhythmische Strukturen, bis an die Grenze ausgereizte Dissonanzen und höllische Läufe Hand in Hand. Mit seiner ureigenen Spielweise dieses vertrackten, avantgardistischen Werkes vermochte Lucas Jussen die Hörerschaft in einem wahren Sog aus erratischer Freude an der Musik bannen! Chapeau.
Abgerundet wurde das tonale Spektakel mit Fazil Says, speziell für das Duo geschaffene Werk Night. Charakteristisch für das Schaffen des türkischen Pianisten und Komponisten ist ein ausgeprägtes orientalisches Momentum, das sich auch in dieser Komposition verorten lässt. Programmatisch kreist die Nachtmusik um Verzweiflung, Trauma und Verlust. Der unkonventionellen Verwendung des Flügels – beide Pianisten greifen während des Spiels abwechselnd in die Saiten ist es jedoch geschuldet, dass Erstaunen, und ja, auch eine gute Prise Heiterkeit bei der Hörerschaft überwiegt. Nach diesen letzten vier Spielminuten eines bezaubernden Abends brandete frenetischer Jubel auf. Einhellige, verdiente Ovationen für die beiden unprätentiösen Ausnahmetalente inbegriffen.
Zu guter letzt wird man mit einem Drang, jegliches Unrecht, das diesem Genre je zugefügt wurde und wird, tilgen zu wollen, und dem brennenden Wunsch sich mit seinem Geschwisterteil als spätberufenes Klavierduo zu versuchen, zufrieden in das Dunkel einer lauen Amsterdamer Nacht entlassen.
Antonia-Tremmel-Scheinost, 24. April 2018, für
klassik-begeistert.de