Foto © Marilena Imbrescia
Leider eine vergebene Chance: Hervorragende Solistinnen und Solisten, und vor allem eine stimmlich und darstellerisch phänomenale Carmen – aber eine mehr als merkwürdige Inszenierung (Regie: Daniele Menghini), welche die Handlung fast vollständig überlagerte und von der dramatischen Interaktion der Protagonisten und ihren schauspielerischen und sängerischen Glanzleistungen in wenig erfreulicher Weise ablenkte. Schade. Denn der Rahmen der großartigen „Arena Sferisterio“ im mittelalterlichen Städtchen Macerata, inmitten der landschaftlich wunderbaren italienischen „Marche“-Region wäre einzigartig; eine verschenkte Chance für eine wahrhaft einmalige „Carmen“.
Georges Bizet
Carmen
Libretto Henri Meilhac/Ludovic Halévy
In französischer Sprache
Macerata Festival, 6. August 2023
Regie: Daniele Menghini
Dirigent: Donato Renzetti
Lyrischer Chor Marchigiano „V. Bellini“
Leitung: Martino Faggiani
Chor „I Zamberletti“
Leitung: Gian Luca Paolucci
Bühne: Davide Signorini
Kostüme: Nika Campisi
Carmen: Ketevan Kemoklidze
Don José: Ragaa Eldin
Escamillo: Fabrizio Beggi
Michaëla: Roberta Mantegna
Harlekin/Schauspielerin: Valentina Picello
FORM Orchestra Filarmonica Marchigiana
von Dr. Charles E. Ritterband (Text und teilweise Fotos)
Voll großer Erwartungen betritt man diesen einzigartigen Bau – die „Arena Sferisterio“ im mittelalterlichen Städtchen Macerata: Eingeweiht im Jahr 1829, erbaut nicht etwa für Theater- oder gar Opernaufführungen (Theater gab es hier erst ab 1843), sondern für Ballspiele („Gioco del Pallone“) – mit ihrer grandiosen, im Halbrund angeordneten Säulenhalle (56 dorische Steinsäulen mit 18 Meter Höhe) und 3000 Sitz- sowie 6000 Stehplätzen. An sich eine fantastische Antithese zur Arena von Verona, rund vier Autostunden von Macerata entfernt. Man betritt das gewaltige Bauwerk durch ein pompöses, fast schlossartiges Portal, das heute als Foyer dient, passiert dann die engen halbrunden Gänge, die entfernt an die römische Arena von Verona erinnern, und betritt dann das riesige Freilufttheater, das so gewaltig ist, dass einem für eine Sekunde der Atem zu stocken scheint.
Commedia dell’arte
Gespannt harren wir der Dinge die da kommen – auf der Bühne liegt ein toter, blutüberströmter Stier, an dem sich ein Harlekin in Kostüm und Maske der traditionellen italienischen Commedia dell’arte. Dann beginnt nicht etwa die „Carmen“-Ouvertüre – sondern die endlose und ziemlich penetrant vorgetragene Rezitation eines eher dümmlichen Textes, der um „Freiheit“ und ähnliche Dinge kreiste, die irgendwie entfernt mit der Handlung zu tun hatten.
Leider war dies nicht der letzte Auftritt des rezitierenden Harlekin, das Publikum musste diese den Lauf der Oper wenig erbaulich unterbrechenden Rezitationen noch einige Male über sich ergehen lassen. Doch nicht genug:
Plötzlich war da eine ganze Schar von Commedia dell’arte-Gestalten, die alsbald von den Soldaten hinter Schloss und Riegel gesteckt wurden. Und, ja, statt dem üblichen Zigeuner-Outfit musste sich das ganze Personal, sofern nicht der Armee zugehörig, in die bunten Kostüme zwängen und auch Don José musste sich nach seiner mehr oder weniger freiwilligen Desertion aus der Armee und als Zeichen der nunmehrigen Zugehörigkeit zu den Schmugglern ein Commedia dell’arte-Kostüm überstreifen. Was sich der arme Tenor bei dieser Übung gedacht haben muss, können wir nur vermuten – uns ratlosen Zuschauern aber nötigt das Ganze nur ein Kopfschütteln ab.
Regiegags
Weitere Regiegags, die von den bemerkenswerten sängerischen Leistungen gehörig ablenkten, waren das zweimalige Detonieren (roter) Feuerwerke – wohl ein Zugeständnis an der angeblich unstillbaren Lust des Publikums an billigen Spektakel – und, schlimmer, während der berührenden Arie der Michaëla, die sich im dritten Akt ins Lager der Schmuggler begeben hat, blinken (offenbar von Don José in die Höhe gehaltene) farbige Disco-Lichter auf, die ziemlich stören und wenig zur Handlung beitragen. Wozu das Ganze? Wir werden es nie erfahren.
Nicht ganz einleuchtend ist auch, weshalb der arme Escamillo für seinen berühmten ersten Macho-Auftritt und seiner legendären Arie auf einem von Statisten herbeigeschleppten, in durchsichtige Plastikfolie Kunststoffpferd in die Taverne von Lillas Pastia einreiten muss und dabei – offenbar als eine Art Heiliger Georg – mit einer Lanze auf einen langen chinesischen Papierdrachen einstechen muss. Merkwürdig, merkwürdig.
Und dann ist dem Regisseur noch ein ganz besonderer Witz eingefallen: Während ein riesiges, in Plastik eingehülltes Stück Fleisch (aha, es muss sich um die vom Metzger verarbeiteten Überreste des eingangs gezeigten toten Stieres handeln) über die Bühne getragen und rechts platziert wird, ist links eine riesige Neon-Leuchtschrift aufgestellt – sie lautet: „Karnem“. Ein gelungenes Wortspiel vielleicht: „Carne“ bedeutet bekanntlich in der Landessprache „Fleisch“, und wenn wenn wir das N mit dem M vertauschen und das K mit C ersetzen, erhalten wir…genau. Eine Platte mit rohen Koteletts ist denn auch im Programmheft abgebildet – das muss zweifellos seine tiefere Bedeutung haben.
Des Rätsels Lösung?
Was aber haben Fleisch, Georg und Carmen miteinander zu tun? Möglicherweise dachte der Regisseur an die mittelalterliche Legende, laut welcher der Drache ein menschliches Opfer forderte – als jedoch eine Prinzessin an der Reihe war, machte sich Georg (mit Erfolg) auf, den Drachen zu töten. Carmen als Opfer, Georg-Escamillo als Drachentöter und der Regisseur als Witzbold? Das könnte zusammenpassen. Aber damit nicht genug: Die fantastische Carmen dieser Aufführung stammt ausgerechnet aus – richtig: Georgien, dem Land, das nach dem Heiligen Georg benannt wurde und wo „Georg“ der häufigste männliche Vorname ist.
Was sich auf den ersten Blick als dümmlicher Gag präsentiert hatte, könnte nach reiflicher Überlegung – falls der Regisseur tatsächlich diese Linie von Stier-Fleisch-Carmen als Prinzessin und -Drachenopfer-Georg als Drachentöter und Retter der Prinzessin und vor allem: Georgien als Herkunftsland der Titelheldin dieser Aufführung gezogen hatte wäre dies doch ziemlich raffiniert.
Immerhin ist dem Regisseur ein visuell und intellektuell wirklich guter Gag gelungen: Wenn der Stierkopf wie sonst die Marienfigur im letzten Akt auf einer Bahre in die Arena gleichsam als Gottheit in die Arena getragen wird. Der Stier als Opfer-Ersatz für die Prinzessin (Carmen!)? Das wäre dann doch ziemlich raffiniert und plötzlich ergibt das Ganze Sinn. „Carmen, come il toro, deve morire“ (Carmen muss, wie der Stier, sterben) stellt Regisseur Menghini im Programmheft fest. Die Gleichsetzung Carmen-Stier als Opfer ist unwiderruflich. Doch Escamillo-Georg, Stierkämpfer und Drachentöter, vermag die Prinzessin nicht zu retten, die Metapher bleibt ungelöst.
Aber weshalb schreibt der besagte Harlekin in der allerletzten Szene, der Todesszene, vor dem Hintergrund des Stierkampfs, in großen Lettern „al diletto pubblico“ („dem verehrten Publikum“) in großen Lettern auf die Bretterwand der Stierkampfarena und lenkt damit von der entscheidenden, letzten und tödlichen Begegnung zwischen Carmen und Don José ab?
Herausragende Stimmen
Abgesehen von großteils irritierenden (und bisweilen weit hergeholten) Regieeinfällen war diese Aufführung musikalisch ein ungetrübtes Vergnügen: Subtiles, hochmusikalisches Orchester unter der Stabführung des (nach der Vorstellung vom Bürgermeister von Macerata persönlich mit einer Medaille geehrten) Dirigenten Donato Renzetti und glanzvolle Chöre.
Unbestreitbar Star des Abends, geradezu atemberaubend mit ihrer klaren, weichen und doch dominanten Stimme war die aus Tiflis (Georgien) stammende Mezzosopranistin Ketevan Kemoklidze (die erste georgische Sängerin, die in Madrid die Zarzuela im gleichnamigen Madrider Theater sang!). Da stimmte alles bis ins letzte Detail: Die herrliche Stimme und die herausragenden darstellerischen Fähigkeiten dieser Sängerin aber auch Mimik und Gesten. Neben der Garanča (als Carmen in der Met) die wohl beste Carmen, die ich weltweit je gesehen habe.
Als kongenialer Partner der Don José der ausgezeichnete ägyptische Tenor Ragaa Eldin mit samtenem tenoralem Schmelz, stimmlich geschmeidig und darstellerisch als rührend-hilfloses Gegenüber der dominant-listenreichen Carmen exzellent. Mit wunderbar klarem, klingenden Gesang die Michaëla der Sizilianerin Roberta Mantegna; sonor der herrlich strömende Bass: des italienischen Bassisten und Fagottisten Fabrizio Beggi als Escamillo. Hinreißend schön das Duett mit Carmen im letzten Akt.
Dr. Charles E. Ritterband, 8. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Georges Bizet, Carmen English National Opera, 1. Februar 2023
Georges Bizet, Carmen Hamburgische Staatsoper, 5. Oktober 2022
Warum wird nach Bayreuth, Salzburg, Wien, München, Pesaro auch Macerata von der Regie-Mafia zerstört?
Diese Inszenierungen sind längst überholt und nur noch Krampf und Mist.
Gibt es überhaupt noch Inszenierungen, die man ansehen kann?
Seit Jahren spare ich Geld und Zeit, da ich mir diese Mist-Regie nicht mehr ansehe.
Leid tut es mir nur der schönen Städte wegen, diese sind im Winter auch sehr schön anzusehen und ohne Oper besser zu genießen.
Mit frdl. Grüßen
Fritz-Günter Teckelmann, Bayreuth