Marc-André Hamelin © Christian Palm
Marc-André Hamelin gibt in Duisburg einen langen Klavierabend, von dem man noch lange sprechen wird.
Duisburg, Gebläsehalle im Landschaftspark Nord, 14. Juni 2025
Joseph Haydn (1732-1809) – Sonate in D-Dur, Hob. XVI:37
Stefan Wolpe (1902-1972) – Passacaglia
John Oswald (*1953) – „TIP“
Frank Zappa (1940-1993) – Ruth Is Sleeping
Ludwig van Beethoven (1770-1827) – Sonate Nr. 3 in C-Dur, op. 2 Nr. 3
Nikolai Medtner (1880-1951) – Improvisation in b-Moll, op. 31 Nr. 1; Danza festiva, op. 38 Nr. 3
Sergei Rachmaninow (1873-1943) – Étude-Tableau in es-Moll, op. 39 Nr. 5; Sonate Nr. 2 in b-Moll, op. 36
Marc-André Hamelin, Klavier
von Brian Cooper
„Er sieht aus wie ein Postbote!“ Nie werde ich die Stimme meines Konzertfreundes Uli vergessen, der mich eines Morgens in heller Aufregung anrief, nachdem er am Abend zuvor zum ersten Mal den kanadischen Pianisten Marc-André Hamelin erlebt hatte. In Ulis Satz steckt viel Staunen darüber, wie ein Mann, der so freundlich dreinblickt, so bescheiden und absolut uneitel daherkommt, so phänomenal Klavier spielen kann.
Hamelin ist immer für Überraschungen gut. Stets kommt er mit außergewöhnlichem Repertoire um die Ecke. Bekanntem gibt er eine überraschende Note. Dabei ist sein Spiel nicht nur technisch makellos – er gehört zweifelsohne zu jenen, die auch das Allerschwerste mühelos bewältigen. Auch sein musikalisches Gespür für Gestaltung, Phrasierungen, seine Musikalität insgesamt, ist atemberaubend. Das alles sorgt in Kombination dafür, dass man sich im Publikum absolut sicher und geborgen fühlt und sich einfach nur staunend zurücklehnen darf.
Es ist heiß an diesem Samstag in Duisburg-Meiderich, auch in der Gebläsehalle im Landschaftspark Nord. Hamelin kommt im schwarzen T-Shirt auf die Bühne dieses wundervollen Spielorts, einem der schönsten des Klavier-Festivals Ruhr, dem der Kanadier zu unser aller Glück seit sehr langer Zeit verbunden ist. Das Ambiente ist ähnlich wie jenes im Jugendstilkraftwerk Heimbach, und Klavierfreaks strömen von weither, um ein Phänomen zu bestaunen.
Es zwitschert und klingelt ununterbrochen
Der lange Abend – es wird zwei Pausen geben – beginnt gegen 19 Uhr mit einer der bekannteren Klaviersonaten von Joseph Haydn. Kraftvoll, rasch, nimmt Hamelin den ersten Satz, der in Gänze von merkwürdigem Zwitschern begleitet ist. Ein Vogelnest unterm Dach? Im zweiten Satz, das Zwitschern ist inzwischen in penetrantes Handyklingeln übergegangen, stellt sich heraus: Die Dame vor uns weiß nicht, wie ihr Handy abzustellen ist. Derweil zelebriert Hamelin das Largo e sostenuto mit romantischer Düsternis, es ist ein wunderschön passender Tonfall mit überraschend kräftigem Anschlag. Das Finale dagegen: leicht, locker, luftig. Wundervoll, diese erste Geschichte von vielen des Abends.

Stefan Wolpes Musik hörte ich ein einziges Mal in meinem Leben, und es wird einen Grund haben, warum ich noch weiß, dass das etwa zu Beginn der Neunziger war, als das Juilliard String Quartet in Köln etwas von ihm aufführte. Hamelin spielt mit atemberaubender technischer Meisterschaft Wolpes Passacaglia, in deren Basslinie zu Beginn ein transponiertes B-A-C-H-Motiv auftaucht. Es geht in die Extreme der gesamten Klaviatur, wirkt auf mich mehr wie ein Tema con variazioni denn wie eine Passacaglia. Mein Begleiter sieht das anders. Wie klingt es? Faszinierend! Später Skrjabin vielleicht, eine Prise Jean Barraqué, ein Hauch Schönberg, das Ganze gewürzt mit Rachmaninow, dessen b-Moll-Sonate uns am Ende des Abends noch umhauen wird.
Unterdessen zwitschert und klingelt es vor uns munter weiter; einen solchen Freund, der penetrant anruft, wenn ich mal nicht abhebe, würde ich zum Mond schießen. Für irgendwas sollte schließlich sogar Elon Musk nützlich sein.
Ein Potpourri von hundert Rezitalen in wenigen Minuten
Es folgt das witzigste Werk des Abends. John Oswald hat es 2022 für den Pianisten geschrieben, der nicht nur hier sichtbare Spielfreude an den Tag legt. Dieses Werk, TIP, ist eine Reise in die Geschichte des Klavierspiels, ein Potpourri bekannter Werke, eine Collage aus unzähligen Stücken, die wir längst nicht alle beim ersten Hören identifizieren: Mondscheinsonate, Barbers Adagio, Clair de lune, etwas Satie, Le sacre du printemps, das Regentropfen-Prélude, Für Elise, ein wenig Jazz, Take Five, Ragtime, Boogie-Woogie… Höchst originell, höchst unterhaltsam, wie hundert Klavierabende in wenigen Minuten.
Nach dem Applaus geht es in die erste Pause, und nach gefühlt zehn Zwitscheranrufen stürzt sich nun eine kleine Gemeinde auf die Dame. Es ist kein Lynchmob, sondern ein flehender Chor. Der Tenor: Ausschalten oder an der Garderobe abgeben. Das wären auch meine Vorschläge gewesen. Das vermaledeite Endgerät bleibt an der Garderobe.
Das Klavier-Festival sorgt für kostenloses, kostbares Wasser. Eine tolle Geste. Es reicht jedoch nicht für alle. Draußen sagt einer: „Die Wasserschlange ist weg.“
Von diesem Beethoven bekommt man nicht genug
Das fürs Publikum anspruchsvollste Werk des Abends stammt aus der Feder Frank Zappas, den der Begleiter der Zwitscherdame noch live in Bremen gehört hat (im Vorprogramm: ein gewisser Peter Gabriel). Ruth Is Sleeping heißt das Stück, Zappas einziges Werk für Klavier solo. Ruth Underwood, Bandkollegin am Marimbaphon, pflegte öfter unter ihrem Instrument ein Nickerchen zu machen. Das Stück ist eher nicht zum Einschlafen geeignet, da in der Tendenz forte, mit manch atonalem Lauf.
Es folgt ein früher Beethoven, die dritte Sonate, und schon nach drei Takten will man den gesamten Zyklus von Hamelin hören. Es ist ein reichhaltiges Buffet der Anschlagskultur, mit unfassbarer Transparenz in der Stimmführung. Und es ist ein originelles Werk. Der Trugschluss am Ende des ersten Satzes: Zauberei. Die melodische Schönheit des langsamen Satzes: ergreifend, ebenso wie ein unerwarteter Wechsel nach Moll, unerwartete Modulationen. Ich stehe zu meiner steilen These, dass der frühe Beethoven, als er noch hörte, origineller war als der späte.
Der dritte Satz steckt voller Humor, im Mittelteil rumpelt’s im besten Sinne bedeutungsschwanger vor sich hin, und wie Hamelin den Finalsatz wie eine Hommage an Haydn erklingen lässt, with a twist, ist überragend.
Das Handy bleibt nächstes Mal zuhause, versichert uns zur zweiten Pause die Dame, die sich mehrfach entschuldigt. Damit beweist sie immerhin Größe.
Im russischen Repertoire zuhause
Hamelin ist im russischen Repertoire besonders hörenswert, und der letzte Teil beginnt mit Musik eines Komponisten, den man leider nicht oft im Konzert hört: Nikolai Medtner. Dessen Improvisation – eine mit einer Opuszahl versehene! – wirkt zunächst wie eine Meditation, bevor es quirliger wird, das Ganze irgendwo zwischen Chopin und Skrjabin angesiedelt. Kräftige Akkorde zeichnen die verspielte Danza festiva aus. Man will mehr davon.
Das Publikum ist aufmerksam: Weder zwischen den beiden Medtner-Werken noch zwischen jenen von Sergei Rachmaninow wird applaudiert. Immer wieder wischt sich der Pianist den Schweiß vom Gesicht. Das einleitende Étude-tableau, das fünfte aus dem zweiten Zyklus op. 39, erblüht. Was kann dieser Pianist in kürzester Zeit Crescendi aufbauen! Es ist ein Sog, in den man mitgerissen wird, voller Klangpracht und (im besten Sinne) Klanggewalt.

Diese erreicht in der 2. Klaviersonate ihren Höhepunkt. Es ist nur schwer zu beschreiben, wie Hamelin es hinbekommt, dieses Werk zu einer existentiellen Lebenserfahrung zu machen. Selbst eingefleischte Rachmaninow-Hasser dürften weich werden ob dieser so prächtigen Darbietung. Der Flügel klingt sensationell, muss er auch, damit die Glockenstelle im ersten Satz so fabelhaft wird. Hamelin hat die Pranke, er kann ebenso das Lyrische, und beides braucht es hier.
In Reihe neun beschließen zwei Damen, dass ein paar Fotos schön wären, vielleicht auch ein Filmchen. Können die sich das nicht einfach später bei ARTE anschauen, grummelt mein Begleiter hinterher. Es sind nämlich Fernsehkameras im Saal. Irritierend, dass dieses Fehlverhalten ausgerechnet in den sogenannten Gänsehautmomenten geschieht. Die beiden haben nichts verstanden.
Drei Zugaben gibt es, die sicher noch niemand im Saal gehört hat: zwei hörenswerte Stücke des Brasilianers Radamés Gnattali und ein eigenes Werk, Spieluhr, das Hamelin als Student geschrieben hat.
Ein großer Abend an einem wunderschönen Ort.
Dr. Brian Cooper, 16. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Martha Argerich und Akane Sakai Konzerthaus Dortmund, 13. Juni 2025
Klavierabend mit Marc-André Hamelin Elbphilharmonie, 12. November 2023