Martha Argerich © Daniel Dittus
Martha Argerich-Festival, 20. Juni 2024 – 30. Juni 2024
Aufgrund von Sanierungsarbeiten in der Laeiszhalle bricht das Festival auf zu einer Reise durch die Stadt und bespielt unterschiedliche Orte in Hamburg.
von Harald Nicolas Stazol
„Ich habe vieles nicht gespielt…“ schreibt sie mir, „manchmal denke ich, je mehr ich ein Stück mag, desto weniger bin ich geneigt, es zu spielen, wie Beethoven 4 etwa.“ Und dass ihr Festival, „Eine wunderbare Erfahrung war, von der Eröffnung mit dem Thema des jüdischen Lebens, bis zu eben gerade, mit zwei meiner Töchter und zwei meiner Enkelsöhne auf der Bühne“, und was ihr Rat für junge Pianisten sei? „Know that being a pianist is very hard work!“
„Madame…“, sage ich noch vor der Abschlussmatinee des Martha Argerich-Festivals, da begegnet Sie mir im Foyer des „Westin Grand“, auf selber Ebene im Turme der Elbphilharmonie ja wie der Haupteingang, dort, wo auch die Aussichtsplattform ist, und ich glaube noch an eine Vision, aber diese Schaumkrone aus grauen Haaren? Sie ist es, nein, das muss sie sein!
Und ich werfe mich ihr zu Füßen, und stelle ihr all die Fragen, die ich, nein, die wir uns schon alle stellen und stellten, und ich – NEIN: Ich werde meine Fragen schriftlich einreichen, aber sie werden eben – CLIFFHANGER! – beantwortet werden, (ein NDR Team war da nicht so erfolgreich), exklusiv nur vom „Critic in Residence“ – „Madame“, sage ich, und sehr bequeme Latschen hat sie an, ihr Haupt silberlocken-überströmt, sie ganz in Schwarz, und ich denke, sie, Martha die Große, nickt kaum merklich und ebenso huldvoll, wie sie es vor sechs Wochen tat, beim Start vor dem Start – als sie an der Kaffeemaschine des Intendantenbüros der Laeiszhalle vorbeihuschte, und ich denk noch, „Dasch doch keine Sekretärin? Bürokraft?“ Und da sitzt sie dann auch, die größte, kleinste, lebende Pianistin der Welt.
Professor Kühnel lädt, zum Roundtable, zur Vorstellung des Festivals, das mag keine 7 Wochen her sein. Ich habe es gewagt, der Ehrfurchtgebietenden die Hand zu geben. Während die Kollegen sie mit allerlei Trivialitäten behelligen, oder der eine, der sie mit einem schnarrenden „GUTEN TAG ERSTMAL!!!“ belästigt, nehme ich, gerade noch entwich sie meinem Lächeln, ich nehme all meinen Mut zusammen, und flüstere: „Et démain le Ravel“, und nun lächelt sie mir scheu-beseelt-blickzuwendend auf, „Oui, le Ravel…“
Da hat das Festival noch nicht einmal begonnen.
Wo beginnen?
Vielleicht damit, dass im „Grünspan“ die großen Limousinen vorfahren, mit Fahrern, ja, mitten auf der Reeperbahn Nachmittags um Sechs, die geflissentlich ihren Damen aus dem Fond helfen, hier die Yachtversicherer, dort ein Steak-Magnat, vor dem Schuppen selbst einiges an Sicherheitspersonal, man darf seinen Gin Tonic mit an den Platz nehmen – und alle, wirklich alle sind gekommen, die Musiklehrerin neben mir wird das ganze Konzert über, vor allem aber bei Schostakowitsch, die Augen geschlossen halten, vor mir wird Händchen gehalten werden – wir alle sind da, weil Martha Argerich da ist!
Und so mag das 2. Klaviertrio von Dmitri, als Trauerarbeit geschrieben über einen Freund, hier auf der Bühne – hier sah ich erstmals die „Spice Girls“ auf ihrem ersten Gig – dem Grünspan ganz neue Weihen gegeben haben. Dabei wurde es mit der Aufführung ja schon vorher brenzlig, depeschiert doch die Direktion keine wenigen Stunden vorher: „Bedauerlicherweise muss Janine Jansen ihren Auftritt beim Martha Argerich Festival aus gesundheitlichen Gründen absagen. Wir freuen uns, dass Guy Braunstein heute Abend im Grünspan auftreten wird. Das Programm bleibt unverändert.“
Das heißt wohl, La Argerich und Prof. Kühnel haben mal eben Ersatz gefunden, am Telefon, per Mail, die kurzen Dienstwege, das Rote Telefon des Festivals „Janine hat 40 Fieber“ – Virtuosen allemal, die das einfach mal so draufhaben. Und auch noch frei sind. DAS muss man erstmal gewuppt kriegen: Chapeau!
Eines der schwierigsten Stücke, das sich denken lässt, und von dessen Brillanz und halsbrecherischen Tempi man einen Eindruck in einer anderen Einspielung gewinnen mag, – https://music.youtube.com/watch?v=KgVvUHxKb58&si=gcWz5YbJOtDPcfAc – die heutige aber übertrifft jene noch, was auch an der Intimität, die der Raum ermöglicht, liegen wird – es ist ja, als sei man bei einem Familienkonzert, einer Familie von Welt und einer Weltfamilie.
Und so füllen sich Seite um Seite mit meinen Beobachtungen, jeweils auf den nummerierten Programmen, und ja, im „Mojo“ wird sie noch spielen, ob sie wisse, dass das „Underground“ sei, und ja, das sei auch neu für sie.
Ich habe die Eröffnung auf Kampnagel nicht gesehen, aber Lea, die Managerin ebendort, schon, und auch aus dem Kleinen Saal nur gehört, dass man nach ihrem Mussorgsky, der „Nacht auf dem kahlen Berge“ der Steinway gestimmt werden muss, und dass dort in der Pause ein „Schwuler Schotte“ war – O-Ton Niels, mein Jazzspezialist, „der reist ihr überall hin nach!“ – der Mäkelä-Effekt, das Nurejew-Prinzip, der Callas-Club: ES GIBT SIE NOCH, DIE ECHTEN FANS!!!
Wie ein Groupie aber komme ich mir inzwischen vor, und ja, wenn man sie jeden Abend sehen kann, kommt es einem so vor, als sei sie Teil der Familie, eine entfernte Tante vielleicht. Und von Abend zu Abend vertraut man ihr mehr.
„Chopin ist meine heimliche Liebe“, schreibt sie mir, und dass sie nach dem Konzert etwas esse „und dann übe ich wieder!“ Man hatte sie ja füglichst ins „Vier Jahreszeiten“ „einquartiert“, „aber dann mussten wir sie vor Marathon und Harley-Days retten…“ – „Madame…“ eben.
Und was Madame da gerade möglich gemacht haben, im Spiegelsaal, goldstrahlend im Museum für Kunst und Gewerbe – nun gut, hier spielt sie einmal NICHT – aber Überraschungen wie das Werk „Kairos“ der Atsuhiko Gondai, interessantest interpretiert von Chisato Taniguchi – der Intendant ist später gleicher Ansicht – oder das Klaviertrio op. 1 des Andrzej Panufnik, dass jener aus dem Gedächtnis wieder zusammensetzte, ihm waren im Krieg alle Werke verbrannt.
Einmal lässt und die Grande Dame warten, in der Philharmonie, es bricht ein Tuscheln aus, dann, das habe ich noch NIE erlebt, versuchen wir alle sie mit einem Klatschen herauszulocken, noch immer 40 Sekunden, und da ist sie, und die Kuppel hallt wider vor 2100-mal Vorschusslorbeer.
Und dann erscheint sie, und mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, dass sie vor Beethovens Triplekonzert ihre Gelenke „aufwärmt“, wie eine Hochleistungssportlerin, um dann das zu vollbringen, das den atemlosen PR-Chef der Laeiszhalle nur japsen lässt, „Ich weiß bis heute nicht, wie sie das macht!“
Sollte ICH mit 84 Jahren noch in der Lage sein, eine Briefmarke abzulecken, werde ich ein glücklicher Mann sein! So hochbetagt aber solche Leistung, in der glühend heißen Kuppel des Museums für Hamburgische Geschichte – „es klang wie eine Badewanne“, der Konzertmeister zur Akustik, bei mir kam nur noch Klanggewabere an. Der einzige Misston bei zehn Abenden, sagen wir: Eine Läßlichkeit.
Verlässlich aber liefert sie, die Große Dame des Klaviers: Wie ein Uhrwerk, eine Grand Complication, sie selbst Apotheose eines zärtlich-diktatorischen Matriarchats.
Denn nach der Verleihung des Martha Argerich Steinway-Preises an den Pianisten Anton Gerzenberg, der eine wunderbare Ballade No. 4 gibt, folgt der „Carnaval des Animaux“: Da spielen die Enkel David und Roman ihr entgegen, vergaloppieren sich, und die Großmutter dirigiert kurz für sie unter dem Klavierdeckel durch – und die Musikfamilie ist wieder vereint.
Dass die Dinosaurier des Saint-Saëns auf „Ecstasy“ seien, deklamiert die Argerich-Tochter Annie Dutoit, sie darf Maman sogar von hinten in den Haarschopf fassen.
Und dass Martha Argerich falschspielen kann, aber sowas von, man glaubt es ja nicht, in dem Satz „Les Pianistes“ im Carnaval, da üben zwei furchtbar unbegabte, und mit Lust haut sie mal daneben, die Enkel auch, bis man checkt, dass das ja schon wieder eine Impro war.
Es ist, als flöge man 10 Tage lang wie über den Himalaya, hier ein 8000er, da ein 8000er, höher gehts einfach an Höhepunkten, nun gut, Casanova nehmen wir mal aus – alles Werke ihres Vortrags oder eines der Ihren, der Argerich’ Freunde und Familie, zehn Tage lang, die man
1. entweder noch nie gehört hat, oder
2. so noch nie gehört hat, oder
3. so NIE wieder hören wird.
Und dann, noch immer wird gejohlt und gepfiffen vor Begeisterung, nimmt Martha Argerich den großen, weißen Trommel-Schlegel aus den Händen des Indendanten, und schlägt ihn dreimal auf den mannshohen Gong, sie hat die Meere von Rosen auf die Seite gelegt, und dreimal schlägt sie den Gong, und das Festival ist, nach zehn Tagen der Wunder, zu Ende.
Harald Nicolas Stazol, 4. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Symphoniker Hamburg, Martha Argerich, Sylvain Cambreling Laeiszhalle, 25. April 2024