Daniil Trifonov und Matthias Goerne © Caroline Portes de Bon
Ein durch und durch erschütterndes Erlebnis ist Schuberts Winterreise in der Interpretation durch Matthias Goerne und Daniil Trifonov. Im perfekten Zusammenspiel zweier großer Künstler werden die kleinsten Gemütsregungen ausgeleuchtet und zu einem großen Bogen zusammengefügt, der uns von traurigem Abschiednehmen bis in die kaum mehr sagbare Verzweiflung führt.
Franz Schubert, Winterreise D 911
Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller
Matthias Goerne Bariton
Daniil Trifonov Klavier
Musikverein Wien, Großer Saal, 24. November 2025
von Dr. Rudi Frühwirth
Am ersten Abend des Schubert-Schwerpunkts im Wiener Musikverein erklang die Winterreise – jenes singuläre Kunstwerk, das uns die Katastrophe verschmähter Liebe wie auch die schmerzhaft kalten, ja als sinnlos erlebten Nachtseiten der Existenz wie kaum ein anderes miterleben und mitleiden lässt. Wenn dann ein großer Sänger und ein nicht minder großer Pianist zusammen musizieren, geschieht das Unerklärliche: Wort und Musik verschmelzen zu einem Ganzen, das uns bis ins Tiefste zu erschüttern vermag.
Matthias Goerne und Daniil Trifonov spüren in jedem der vierundzwanzig Lieder den feinsten Gemütsregungen nach, ohne dabei je den großen Bogen aus den Augen zu verlieren. Ihre sorgfältig gewählten Tempi und dynamischen Abstufungen schaffen eine beständige Spannung zwischen Ruhe und Aufbruch, Besinnung und Verstörung, Resignation und Trotz, unvermittelt aufkeimender Zuversicht und auswegloser Verzweiflung.
Scharfe Kontraste – ein plötzliches Forte, ein abrupter Wechsel – reißen den Zuhörer immer wieder aus der scheinbaren Geborgenheit. Und wiederholt, etwa in Die Krähe und Im Dorfe, tritt das Klavier aus der begleitenden Rolle heraus: Trifonov übernimmt die Führung, antwortet, trägt die Erzählung weiter – ein echter Dialog auf Augenhöhe.
Matthias Goerne singt nicht primär auf Schönklang bedacht, sondern auf Wahrheit. Er setzt seine stimmlichen Möglichkeiten zwar kontrolliert, aber doch schonungslos dem geforderten Ausdruck angemessen ein. Sein Piano wie sein Fortissimo bleiben in allen Lagen makellos sicher, die Artikulation von großer Klarheit. Schon im ersten Lied des Zyklus, bei jenem sehnlich erwarteten Umschlag nach Dur in Gute Nacht, steht einem der Atem still – Goerne trifft diesen Moment so rein und verletzlich, dass unausbleiblich die Tränen hochsteigen. Und gegen Ende, in Der Wegweiser, ist wieder dieser unerwartete Lichtblick in Dur, der die unverschuldete Verzweiflung des Wanderers offenbart. Goerne gestaltet die Phrase “Habe ja doch nichts begangen” mit einer Einfachheit und Tiefe, die einen erschüttert zurücklässt. Viele solcher Augenblicke gibt es in diesem Abend; alle sind schlicht grandios.
Daniil Trifonov beeindruckt durch einen unerschöpflichen Reichtum an Anschlag, eine fein abgestufte Dynamik und subtile Variationen des Tempos. In Gefrorne Tränen klingen die fallenden Tropfen klar und präzise, fast wie einzelne Eiskristalle; die heißen Tränen in der anschließenden Erstarrung gewinnen durch seine intensive Tongebung eine überzeugende Glut. Der Übergang von geträumter Liebe in die harte, kalte Realität im Frühlingstraum ist bei Trifonov von niederschmetternder Wirkung. Im Leiermann gestaltet er den Rhythmus sehr frei; dadurch wird das Bild des hungrigen, erschöpften, barfuß auf dem Eise wankenden Drehorgelspielers auf unerhörte Weise lebendig.
Matthias Goerne steht unbehindert durch Noten auf dem Podium, der Wanderer mit Leib und Seele. Zu seiner bewundernswerten stimmlichen Ausdruckskraft gesellt sich eine sparsame, aber umso eindringlichere Körperlichkeit: ein gesenkter Blick, als suche er seine Spuren im Schnee, ein langsames Drehen in die Leere, ein fragendes Wenden des Körpers. In den stärksten Momenten neigt er sich zu Trifonov – und plötzlich sind es nicht mehr Sänger und Pianist, sondern zwei Menschen, die gemeinsam durch diesen erbarmungslosen Winter gehen.

Bislang hatte ich die Winterreise immer als das Psychogramm einer endgültigen Zerstörung verstanden, die Zeichnung eines Menschen, der langsam, aber unaufhaltsam in die finale Vereinsamung und Todesbereitschaft gleitet. Angeregt durch die ungeheuer emotionale und musikalisch überwältigende Darbietung von Goerne und Trifonov drängte sich jedoch am fragenden Schluss des Leiermann ein anderer Gedanke auf: dass selbst die äußerste Verzweiflung durch die schiere Kraft der Musik noch einmal überwunden werden könnte, und sei es auch nur durch die armseligen, banalen Klänge einer Drehleier. Ein tröstlicher Gedanke, der vielleicht Schubert selbst begleitet hat und der auch uns einmal begleiten könnte – auf jener Straße, die noch keiner ging zurück.
Es war ein großer Abend, mit einer großartigen Interpretation eines einzigartigen Kunstwerks. Das Publikum bedankte sich bei Goerne und Trifonov mit begeistertem Beifall. Der Schubert-Schwerpunkt wird fortgesetzt mit einer anderen Geschichte einer verlorenen Liebe: Die schöne Müllerin.
Dr. Rudi Frühwirth, 25. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Matthias Goerne, WDR Sinfonieorchester, Cristian Măcelaru Kölner Philharmonie, 1. September 2023