hr-Sinfonieorchester © hr/Ben Knabe
Maurice Ravel
Ma mère l’oye – Suite
Wolfgang Amadeus Mozart
Klavierkonzert Es-Dur KV 365
Maurice Ravel
L’enfant et les sortilèges
Solisten und Chöre
hr-Sinfonieorchester
Alain Altinoglu, musikalische Leitung
Konzert in der Alten Oper am 26. September 2025
von Dirk Schauß
Die Alte Oper Frankfurt versprach an diesem Abend gleich drei Bühnen in einer: Märchenbilder aus Ravels Feder, ein brüderliches Gespräch bei Mozart und zum Finale eine Oper, in der Tassen, Tapeten und Sessel zu Protagonisten werden. Ein raffiniert gebautes Programm – das in der Realität jedoch weniger Gleichgewicht als ein klares Gefälle offenbarte. Denn was in der Sinfonik fein sortiert klang, gewann erst in der Oper wirkliche Farbe und Energie.
Die „Ma mère l’oye“-Suite, ursprünglich als kleine Klavierstücke für Kinderhände gedacht und 1911 von Maurice Ravel orchestriert, bot dem hr-Sinfonieorchester Gelegenheit, seine farbliche Palette auszuspielen. Die Streicher entfalteten seidige Bögen, die Holzbläser zeichneten elegante Arabesken, das Blech steuerte leuchtende Spitzen bei und das Schlagzeug sorgte für die exotischen Farben.
Alain Altinoglu dirigierte dies mit einer Eleganz, die jedem Takt eine klare Form verlieh. Doch gerade diese Ordnung erwies sich als Problem: Der märchenhafte Überschwang, das Moment des Staunens und vor allem des Innehaltens, blieb außen vor. Dornröschens Pavane schritt nicht im Traum, sondern im Konzertsaal; der Weg des Petit Poucet klang akkurat, aber ohne das Stolpern, das ihn lebendig gemacht hätte.

Und der beschließende Feengarten? Diese herrliche Apotheose, in der alles schillert und leuchtet, wurde allzu schnell im Tempo angezogen, so dass die komponierte Magie der Phantasie der Zuhörer überlassen blieb. Zu hören war Präzision und Verlässlichkeit, aber eben kein Glitzern, keine Hingabe, die Gefühlswelt wachsen zu lassen. Man könnte sagen: Altinoglu ordnete die Partitur sorgfältig – doch das Unerwartete, die Faszination blieb aus.
Mozarts Konzert für zwei Klaviere KV 365 stellte die Brüder Lucas und Arthur Jussen ins Zentrum. Sie sind Publikumslieblinge, und ihr Zusammenspiel war selbstverständlich präzise: rhythmisch elastisch, klanglich ausbalanciert und voller jugendlicher Energie. Doch ihre Darbietung erinnerte streckenweise eher an eine sorgfältig inszeniertes Spektakel als an ein inneres Gespräch.

Bewegungen, die fast choreografisch wirkten, standen nicht immer im Einklang mit dem, was man hörte. Musikalisch war das alles korrekt und ansprechend gespielt, in den langsamen Abschnitten sogar kantabel – aber wirkliche Tiefe im Gefühl stellte sich nicht ein. Das Orchester begleitete dezent, ja zu dezent; es wirkte streckenweise unterfordert, als hätte es mehr zu geben, aber keinen Raum dafür erhalten. Altinoglu wiederum blieb höflich am Pult, als wolle er nichts riskieren, um bloß keinen Schönklang zu stören. Das Publikum zeigte sich begeistert und erhielt eine beruhigende Zugabe.
Nach der Pause dann die Wende: Ravels „L’enfant et les sortilèges“, diese 1925 uraufgeführte Fantasie nach Colette, entfaltete ihre volle Wirkung. Keine große Oper im konventionellen Sinn, sondern ein Kaleidoskop aus Ragtime, Walzer, Parodie und Jazz – und plötzlich spielte das hr-Sinfonieorchester, als hätte es die Zurückhaltung endgültig abgestreift. Die Holzbläser sprühten, das Schlagwerk schuf plastische Effekte, das Blech wechselte zwischen Komik und Dramatik, die Streicher zwischen Schimmer und Biss. In dieser szenischen Welt wurden tatsächlich Tassen, Tapeten und Sessel lebendig: eine theatralische Verwandlung, die das Publikum zum Staunen brachte.
Altinoglu wirkte in diesem Genre deutlich zu Hause. Als erfahrener Operndirigent hat er den Instinkt für Theatralik, für Szenenbögen und für die richtige Zuspitzung. Wo er in der Sinfonik oft wie ein ordnender Verwalter erscheint, entfaltete er hier szenische Phantasie. Das Werk profitierte von dieser Haltung: Ordnung ja, aber eine Ordnung, die Raum für Überraschung ließ.
Entscheidend trug die Sängerbesetzung zum Erfolg bei. Camille Bauer formte das Kind mit scharfkantiger Direktheit und zugleich einer berührenden Zerbrechlichkeit; ihre Darstellung war nicht nur vokal prägnant, sondern ebenso szenisch durchdrungen.
Julie Roset und Amandine Ammirati zeichneten mit silbrigen Sopranfäden hell funkelnde Linien, während Eva Zaïcik und Nora Gubisch als dunkle Gegenpole für Wärme und Gewicht sorgten.
Cyrille Dubois brachte Glanz und eine übermütige szenische Leichtigkeit ein; Thomas Dolié verlieh seinen Rollen plastische Konturen mit klarem, fokussiertem Bariton und gefiel vor allem mit Nora Gubisch in einem entzückenden Katzen-Duett.
Laurent Naouri schließlich, einer der großen französischen Baritone seiner Generation, zeigte hinreißend, wie man Nebenfiguren zur Hauptsache machen kann: Sein Sessel war ironisch, pointiert und stimmlich souverän – später, als leidender Baum, verschob er die Figur in eine nachdenklichere, beinahe erschütternde Tonalität. Seine volltönende Stimme und sein Sprachgefühl waren absolut herausragend.
Besonders hervorzuheben sind die beiden Chöre: Der NFM-Chor Breslau (Einstudierung: Pierre-Louis de Laporte) und der Kinderchor der Oper Frankfurt (Einstudierung: Álvaro Corral Matute) verbanden sich zu einem facettenreichen Klangkörper, der vom gespenstischen Wispern bis zum gleißenden Ausbruch alle Extreme auslotete. Hier entstand jene Magie, die zuvor in der Sinfonik gefehlt hatte: Stimmen, die Räume öffnen, Tiere und Dinge zum Leben erwecken und Ravels Fantasie ihre eigentliche Dimension verleihen.
So stand am Ende ein Konzert mit zwei Gesichtern: Sinfonik, die elegant, korrekt, aber ohne bleibende Faszination daherkam, und eine Opernaufführung, die theatralisch funkelte und sich tief ins Gedächtnis einschreibt. Alain Altinoglu bestätigte das Bild, das man von ihm gewinnen kann: ein Dirigent der Struktur schätzt, zuverlässig und solide gestaltet. In der Oper jedoch, dort wo Bühneninstinkt zählt, fand er zu Momenten wirklicher Brillanz. Das hr-Sinfonieorchester schließlich zeigte an diesem Abend seine Bandbreite: die Kunst des fein ziselierten Aquarells und die Kraft des großen Theatergestus.
Dirk Schauß, 27. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
hr-Sinfonieorchester, Alain Altinoglu, Sebastian Berner, Trompete Alte Oper Frankfurt, 22. Mai 2025
Wiener Philharmoniker, Alain Altinoglu, Musikverein Wien, 24. November 2024