Selbst ein Jahr nach Ausbruch hat uns die Corona-Pandemie immer noch in ihrem Griff. Kultur und Kunst sind gänzlich weggebrochen, Veranstaltungen und Treffen nach wie vor eingeschränkt, der Konzertbetrieb liegt am Boden. Zeit, sich als Musikliebhaber einmal neu mit der eigenen CD-Sammlung (oder wahlweise Spotify-Playlist) auseinanderzusetzen, Lieblinge zu entdecken oder alte Favoriten neu aufleben zu lassen.
Deshalb stelle ich vor:
Meine Lieblingsmusik: Top 2 – Gustav Mahler „Sinfonie Nr. 3 in d-moll“ (1896)
von Daniel Janz
„Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“ Kein anderes Zitat beschreibt besser, was Gustav Mahler in seiner dritten Sinfonie gelungen ist. Mit seiner Musik folgte der damals 36-Jährige demselben Weg zur Monumentalkunst, den er bereits mit seinen ersten beiden Sinfonien angetreten hatte. Seine dritte Sinfonie – zu dem Zeitpunkt die längste Sinfonie weltweit und bis heute eines der längsten Werke dieser Gattung – sollte alles bis dato Gewesene noch einmal in den Schatten stellen: Über das Epos hinaus hin zu einem musikalischen Kosmos.
Mahler zog zwar früh die Titel zu den einzelnen Sätzen zurück – zu sehr fürchtete er sich vor erneuten Missverständnissen seiner Kritiker. Bis dahin waren sie aber schon programmbestimmend gewesen, sodass sie sich auch bis heute erhalten haben. Die Prämisse, die daraus entsteht, klingt so einfach wie weitreichend: Eine Evolution unbelebter Materie über die einzelnen Stationen des Tierreiches zum Menschen bis hin zum höchsten Gut der Liebe, die Mahler gar als göttlich betrachtete. Und meine Güte – was für ein Monument hat er damit hinterlassen!
Alleine die Orchesterbesetzung hat es in sich. Mit den 8 geforderten Hörnern, durchweg vierfachem Holz, jeweils 4 Trompeten und Posaunen, einer Solistin, Kinder- und Frauenchor und einem ganzen Sammelsurium an Sonderinstrumenten und Schlagwerk konkurriert seine Komposition locker mit den musikalischen Bestien von Berlioz oder den Monumentalwerken seines Zeitgenossen Richard Strauss.
So ist denn auch die Reise, auf die uns seine Sinfonie schickt, eine ganz Besondere. Angefangen beim toten Felsengebirge, in dem er den Geist Pan als Versinnbildlichung der Natur erwachen und den Sommer einmarschieren lässt. Ein prächtiges musikalisches Bild, voller Kraft und Elan, das bereits eine halbe Stunde in Anspruch nimmt und damit jede Haydn-Sinfonie in den Schatten stellt. Ein Satz, der in sich selbst bereits eine eigene Welt darstellt mit seinen mal bunten, mal heroischen, mal ungestümen Passagen.
Im Vergleich zu diesem mächtigen Einstieg wirken der zweite und dritte Satz beinahe schon banal aber nicht minder schön. Den Blumen auf dem Felde widmet er eines der schönstmöglichen Menuette, lässt sie mal vom Winde aufwirbeln und dann geruhsam durch die Oboe zur Pracht erstrahlen. Den Tieren im Walde bescheinigt er stattdessen ein lebhaftes an Chaos grenzendes Treiben, durchbricht dies aber mit einem Posthornsolo aus der Ferne, dem er sowohl Wendungen der Sehnsucht, als auch die ersten Anklänge an den Menschen mitschickt.
Nach einem Aufschrei des Ekels – Kenner fühlen sich ans Ende des dritten Satzes in Mahlers zweiter Sinfonie erinnert – lässt er die Menschen dann auch zu Wort kommen. Das von der Alt-Solistin vorgetragene Nachtwandererlied nach Friedrich Nietzsche erklärt hier noch einmal deutlich den Zwiespalt der menschlichen Seele, wie sie sich zwischen Lust und Sehnsucht nach Erlösung zu zerreißen droht.
Aber Mahler wäre nicht Mahler, wenn er auf diese metaphysische Tiefe nicht eine profane, fast schon peinlich kitschige Passage folgen ließe, in der die Engel mit Glocken begleitet jener zerrissenen Seele die Erlösung in Aussicht stellen. Und ja – das „Bim-Bam“ nimmt er wörtlich und lässt es im fünften Satz fast durchgängig von einem Kinderchor singen. Käme nicht noch der letzte Satz hinterher, ließe sich diese fast schon überspitzte Heiterkeit auch durchaus ironisch deuten.
Doch im großen Finale zeigt Mahler dann noch einmal, wie tief doch seine Vorstellung von Erlösung liegt. Anders als noch in seiner zweiten Sinfonie stellt er hier nicht die biblische Auferstehung ins Zentrum, sondern eine nahezu verklärte Sicht auf das Gut der Liebe selber. Ein ebenfalls fast noch einmal halbstündiger Satz, der größtenteils von vor Inbrunst strahlenden Streichern getragen wird und seine Ergänzung in vielen zarten Soli der Bläser findet.
Auch hier scheint es zwar fast so, dass Mahler in Kitsch abdriftet. Doch im Gegensatz zu der befremdlichen Engel-Szene ist die Liebe bei ihm nicht ohne Dramatik. Immer wieder wühlt dieser Satz auf, zweimal führt er sogar zu einem regelrecht tragisch anmutenden Höhepunkt und droht schließlich sogar unter einem Beckenschlag in sich zusammenzufallen. Aber – und das macht dieses Werk dann letztendlich umso eindrucksvoller – am Ende gelingt es doch, die Tragik in verklärender Vollendung abzuwenden und mit einem der schönsten Finale sinfonischer Kompositionskunst zu schließen.
Dieses Werk ist die perfekte Versinnbildlichung dafür, dass Liebe nahezu allmächtig sein kann, wenn man ihr nur die Möglichkeit zum Erwachen, Entwickeln und Entfalten gibt. Müsste ich mich entscheiden, wo diese Idee musikalisch am eindrucksvollsten ausgedrückt wurde, so wäre Mahlers dritte Sinfonie jedenfalls ein ganz heißer Kandidat aufs Siegertreppchen. Eindrucksvoll empfehlenswert ist dieses Werk auf jeden Fall!
Daniel Janz, 25. Februar 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.