Elizabeth Connell 2008 als Turandot in der Hamburg-Inszenierung von Giancarlo del Monaco (Foto: Brinkhoff-Mögenburg)
von Dr. Ralf Wegner
Kennen Sie das Turandot-Syndrom? Sie bekennen sich verantwortlich für Missetaten oder sühnen für Verbrechen, die vor sehr, sehr langer Zeit von Vorfahren begangen wurden. So rächt sich Turandot an den sie begehrenden Männern wegen der vor Jahrhunderten geschändeten Urahnin Lou-Ling. Tiefenpsychologisch steckt wahrscheinlich noch mehr dahinter. Die Ursprünge der Turandot-Erzählung gehen auf den persisch-indischen Kulturkreis zurück, wurden später auch von Friedrich Schiller aufgegriffen, haben sich in abgewandelter Form aber auch im Deutschen Märchenschatz niedergeschlagen. So lässt sich im Der Wunderbaum eine Prinzessin auf einem unbezwingbaren Glasberg sitzend umwerben, aber umsonst, viele Ritter und Grafen hatten es bisher vergebens versucht… auf den Glasberg zu steigen… um der schönen Tochter des Königs, die oben saß, die Hand zu reichen und sie dadurch zu erwerben. Viele hatten es bisher versucht; sie waren alle noch weit vor dem Ziel ausgeglitscht und hatten zum Teil des Hals gebrochen (Berlin: Füllhorn, 1950). Wenigstens überlebten etliche, anders als die um Turandot werbenden Prinzen. Wer es bei ihr wagte, musste drei Rätsel lösen. Vor Calaf gelang das niemandem. Die Prinzessin ließ alle unterlegenen Bewerber, zuletzt den Prinzen von Persien, aufs Schafott führen.
Warum gingen die Männer das hohe Risiko ein, warum folgten sie, wie schon Prinz Tamino in der Zauberflöte, einem Traumbild in der allenfalls vagen Hoffnung, die Prüfungen zu bestehen? Auch das müsste tiefenpsychologisch ergründet werden. Jedenfalls lässt sich Calaf von dem Plan nicht abbringen, weder von Timur, dem verstoßenen Fürsten, noch von der ihn liebenden und sich für ihn opfernden Liù. Selbst als Calaf Turandots Rätsel gelöst hat, geht er noch ein hohes Risiko ein, indem er sein Leben anbietet, falls Turandot seinen Namen errät. Dieses gelingt ihr, allerdings nur mit roher, brutaler, rücksichtsloser Gewalt. Warum sie schließlich in die Verbindung mit Calaf einwilligt, erscheint ebenso unerklärlich, wie Calafs auch nicht durch den Tod Liùs zu erschütternde Liebe zu der Verbrecherin Turandot. Aber das ist ja auch das Schöne an dieser Oper, der versöhnliche Schluss, das Aufbrechen eines vereisten Frauenherzens durch die unterwürfige Liebe eines Mannes.
Éva Marton 1988 in einer New Yorker Vorstellung mit „In questa reggia“ (Videostill Youtube), https://www.youtube.com/watch?v=SdfvMBvLm_o
Birgit Nilsson habe ich als Turandot nicht gehört. Dafür zwischen 1983 und 1999 mehrfach Éva Marton, die in Hamburg mit ihrer großen raumfüllenden, das Orchester wie sonst nur noch Birgit Nilsson überstrahlenden Stimme eine auch darstellerisch überragende Eisprinzessin sang. Größerer Körpereinsatz war nicht erforderlich, angesichts ihrer unvergleichlichen Bühnenaura genügte bei ihr schon die Bewegung des kleinen Fingers, um unbedingten Machtwillen, verbunden mit tödlichen Konsequenzen, auszudrücken. Die Turandot war Éva Martons beste Rolle, an ihrer gesangsgestalterischen Leistung konnten sich auch noch die sie auf der Bühne anbetenden Tenöre wie Franco Bonisolli, Giorgio Lamberti oder Kristjan Johannsson steigern. Einen guten Abend als Turandot hatte 1998 auch Gabriele Schnaut, mit einem ausgezeichneten Richard Marginson als Calaf, einer Verónica Villaroel als Liù und einem Simon Yang als Timur. Auch Ghena Dimitrova oder Elizabeth Connell beeindruckten als Turandot; ebenso Barbara Schneider-Hofstetter in einer Hannoveraner Aufführung (2006). Miriam Gauci und Hellen Kwon gaben der Liù melodramatisches Profil, ebenso wie Alexander Tsymbalyuk als Timur in Erinnerung blieb. Schwierigkeiten hatte ich nur mit den Höflingen Ping, Pang und Pong, welche die Handlung eher verzögerten. Lieber hätte ich dafür mehr von Liù oder Timur gehört.
Höhepunkte der Oper sind Liùs Liebesgeständnis Signore, ascolta im 1. Akt, Turandots Anklage In questa reggia im 2. Akt sowie Calafs bis weit in die Popkultur vorgedrungene Arie Nessun dorma und Liùs Bekenntnis Tu che di gel sei cinta im 3. Akt.
Dr. Ralf Wegner, 27. April 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Niemand übertraf Franco Corelli als Calaf.
Robert Forst
Sehr geschätzter Herr Kollege!
Da der persische Dichter Nizami einer meiner Lieblingsdichter ist, drängt es mich, auf Ihren literaturgeschichtlich so fundierten Artikel hin mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Nizami lebte größtenteil im 12. Jahrhundert und mir ist keine frühere schriftliche Bearbeitung dieses, wie Sie schreiben, Märchens mit einer alten Tradition bekannt. Gozzi wollte die Novelle unbedingt dramatisieren und musste deshalb mindestens eine Person dazu erfinden. Die Adelma wurde in der Oper zu der charakterlich veränderten Liù. Bei Nizami ist die Psychologie noch kein Thema. Auch nicht ihre Grausamkeit. Man bedenke, in archaischer Zeit sind viele junge Männer von ihren abenteuerlichen Entdeckungsreisen nicht mehr heimgekehrt. Wenn es Sie interessiert, verrate ich Ihnen, warum es Calaf gelingt, die Rätsel zu lösen. Ich hatte das Glück die Nilsson in der Wiener Staatsoper etwa 1973 zu hören.
Mit herzlichen Grüßen Lothar Schweitzer
Birgit Nilsson hat am 28.04.1965 in Hamburg die Turandot gesungen (Wenzel: Geschichte der Hamburger Oper 1678-1978), ich habe damals leider keine Karten bekommen, ihr Partner war James McCracken. Wenn ich mich recht erinnere, sollte damals wohl auch Franco Corelli singen, trat dann aber doch nicht auf. Bei Wenzel ist er nicht verzeichnet. Auf YouTube gibt es die Aufzeichnung einer Corelli-Gala mit u.a. Mirella Freni und Fiorenza Cossotto aus Hamburg, aber offenbar nicht aus der Staatsoper:
https://www.youtube.com/watch?v=I4oNuUElq2s
Ich selbst habe Corelli nie gehört, und kann mich auch nicht an ein entsprechendes Konzert im Jahre 1971 erinnern.
Lieber Herr Schweitzer, wenn Sie mögen, ergänzen Sie doch bitte den Text um die Rätsel oder weitere Ihnen bekannte Inhalte. Bei Calaf fällt mir übrigens immer eine frühere Opernkritik ein „den Kalafen sang“, dann folgte der Name des Sängers.
Dr. Ralf Wegner
Bei Puccini ist es Liebe auf den ersten Blick und Calaf schlägt trotz Warnungen dramatisch wirksam auf den Gong, um sich den Herausforderungen der Prinzessin zu stellen. Anders in der Dichtung, in welcher der Königssohn sich beherrscht und erst einmal weise Männer aufsucht. Er lernt Empathie und kehrt geläutert nicht seinetwillen zurück, sondern um dem frühen Tod so vieler junger Männer ein Ende zu setzen. Es sind eigentlich weniger Rätselfragen als viermal Geschenke, die ausgetauscht werden und viel Einfühlungsvermögen verlangen, bis zuletzt die Königstochter ausruft: „Bereite unsre Hochzeit, Vater!“ Resümee: Persönliches Glück lässt sich nicht erzwingen.
Mit besten Grüßen
Lothar Schweitzer